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Verfristeter Widerspruch; Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes; Zugangsfiktion; Überprüfungsbescheid


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 18. Senat Entscheidungsdatum 01.07.2011
Aktenzeichen L 18 AL 316/10 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 37 Abs 1 S 2 SGB 10, § 37 Abs 2 S 1 SGB 10, § 37 Abs 2 S 2 SGB 10, § 84 Abs 1 S 1 SGG, § 96 Abs 1 SGG

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. September 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

I.

Die am 1948 geborene Klägerin hatte von der Beklagten ab 24. September 1997 - mit Unterbrechungen - Arbeitslosenhilfe (Alhi) bezogen, und zwar bis 29. Februar 2004.

Nachdem die Beklagte durch ein Schreiben des Finanzamtes K von B im Oktober 2003 Kenntnis davon erlangt hatte, dass die Klägerin und ihr Ehemann in den 1990er Jahren Geldbeträge von über 480.000,- DM an die Zentralbank der türkischen Republik überwiesen hätten (Kontenaufstellung 1994 bis 2000), hörte die Beklagte die Klägerin mit Schreiben vom 2. März 2004 zu der beabsichtigten Aufhebung der Alhi-Bewilligung vom 24. September 1997 bis 29. Februar 2004 und der beabsichtigten Rückforderung überzahlter Alhi nebst gezahlter Beiträge zur gesetzlichen Kranken- bzw Pflegeversicherung (KV/PV) an. Hierauf meldete sich der Prozessbevollmächtigte als anwaltlicher Vertreter der Klägerin mit der Mitteilung, die Klägerin (und ihr Ehemann) sähen von einer Stellungnahme zu dem Schreiben vom 2. März 2004 ab, da beabsichtigt sei, ein Verbraucherinsolvenzverfahren einzuleiten (Schreiben vom 22. März 2004).

Mit Bescheid vom 3. Mai 2004 hob die Beklagte die Bewilligung von Alhi für die Zeit vom 24. September 1997 bis 19. Juli 2000, vom 23. Juli 2000 bis 9. August 2002 und vom 28. August 2002 bis 29. Februar 2004 auf und forderte die Erstattung der insoweit der Klägerin gezahlten Alhi i.H.v. 19.160,03 € (= 37.473,75 DM) sowie der hierauf entfallenden KV/PV-Beiträge i.H.v. 6.324,46 € (= 12.369,57 DM) bzw 514,35 € (= 1.005,98 DM). Die Gesamtforderung belaufe sich auf 25.998,84 €. Ein Pfändungsversuch bei der Klägerin am 27. Juli 2005 blieb fruchtlos; auf das Protokoll des Vollziehungsbeamten wird Bezug genommen.

Mit Schreiben vom 5. Februar 2008 erhob der Prozessbevollmächtigte namens der Klägerin Widerspruch gegen den Bescheid vom 3. Mai 2004. Dieser sei erst am 15. Januar 2008 bekannt gegeben worden. Die Beklagte verwarf den Widerspruch als unzulässig (Widerspruchsbescheid vom 2. Mai 2008).

Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Berlin die Einziehungsakte der Beklagten und die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Berlin (- 61 Js 2224/05 -) beigezogen. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 28. Mai 2009 den nach Maßgabe von § 44 Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) gestellten Antrag der Klägerin auf Rücknahme des Bescheides vom 3. Mai 2004 ab.

Mit Urteil vom 17. September 2010 hat das SG die auf Aufhebung des Bescheides vom 3. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2008, hilfsweise auf Aufhebung des Bescheides vom 28. Mai 2009 und Verpflichtung der Beklagten zur Rücknahme des Bescheides vom 3. Mai 2004 gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei im Haupt- und Hilfsantrag nicht begründet. Der Bescheid vom 3. Mai 2004 gelte der Klägerin gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post bekannt gegeben. Es stehe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass der Bescheid nicht zu einem späteren Zeitpunkt oder gar nicht zugegangen sei. So habe der Prozessbevollmächtigte mit Schreiben vom 16. Juni 2004 die Forderungsanmeldung der Beklagten in der streitigen Höhe bestätigt. Hätte ein entsprechender Bescheid damals gar nicht vorgelegen, hätte der Bevollmächtigte hierauf hingewiesen, was er aber nicht getan habe. Im Strafverfahren gegen die Klägerin habe der Bevollmächtigte zudem mit Schriftsatz vom 21. Dezember 2005 ausdrücklich dargelegt, dass ein Aufhebungs- und Erstattungsbescheid von der Beklagten erlassen worden sei. Ferner habe der dort als Zeuge gehörte Mitarbeiter der Beklagten in Anwesenheit der Klägerin und ihres als Verteidiger auftretenden Prozessbevollmächtigten unwidersprochen ausgesagt, dass der „Rückforderungsbescheid vom 3. Mai 2004 rechtskräftig und nicht angefochten“ worden sei. Auch das Pfändungsprotokoll vom 27. Juli 2005 spreche im Übrigen hierfür. Der hilfsweise angefochtene Überprüfungsbescheid vom 28. Mai 2009 sei in der Sache nicht zu beanstanden. Auch die Jahresfrist des § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X sei gewahrt.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin (nur) noch ihr erstinstanzlich im Hauptantrag verfolgtes Begehren weiter (vgl Schriftsatz vom 19. November 2010). Sie trägt vor: die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X sei vorliegend nicht anwendbar, da ein Vermerk über die Aufgabe zur Post nicht existiere. Im Strafverfahren sei es auf die Bestandskraft eines Rückforderungsbescheides nicht angekommen. Die Erwähnung des Bescheides in dem Schriftsatz vom 21. Dezember 2005 sei auf die Verwendung eines Textbausteins zurückzuführen. Der Hinweis auf einen „Bescheid“ im Pfändungsprotokoll vom 27. Juli 2005 sei falsch. Im Übrigen könne sie - die Klägerin - sich an die Vorgänge nicht mehr genau erinnern.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 17. September 2010 und den Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2008 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Die Gerichtsakte und die Leistungs- und Einziehungsakte der Beklagten nebst Auszügen aus den Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Berlin (- 61 Js 2224/05 -) haben vorgelegen und sind Gegenstand der Beratung gewesen.

II.

Der Senat hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung der Klägerin durch Beschluss zurückweisen können, weil er dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (§ 153 Abs. 4 SGG).

Die Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Dabei war im Berufungsverfahren nur noch über die erstinstanzlich im Hauptantrag verfolgte und statthafte isolierte Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2008 zu befinden. Die bei dem SG noch hilfsweise erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage gegen den negativen Zugunstenbescheid vom 28. Mai 2009 hat die Klägerin ausweislich ihres gestellten Berufungsantrages und der hierzu gegebenen Begründung (vgl Schriftsatz 19. November 2010) nicht weiter verfolgt. Das angefochtene Urteil ist insoweit somit rechtskräftig. Im Übrigen ist insoweit darauf zu verweisen, dass der nach Klageerhebung verlautbarte negative Zugunstenbescheid vom 28. Mai 2009 gemäß § 96 Abs. 1 SGG in der seit 1. April 2008 geltenden und vorliegend anwendbaren (vgl zur Anwendung auf nach dem Inkrafttreten ergangene Verwaltungsakte BSG, Beschluss vom 30. September 2009 - B 9 SB 19/09 B - juris -; BSG, Beschluss vom 16. Dezember 2009 - B 7 AL 146/09 B - juris) Fassung des Gesetzes vom 26. März 2008 (BGBl I 444) ohnehin nicht kraft Gesetzes Gegenstand des sozialgerichtlichen Verfahrens geworden war. Denn nach § 96 Abs. 1 SGG nF wird ein nach Klageerhebung ergangener neuer Verwaltungsakt „nur dann“ Gegenstand des Verfahrens, wenn er nach Erlass des Widerspruchsbescheids ergangen ist und den angefochtenen Verwaltungsakt abändert oder ersetzt. Letzteres ist bei dem Bescheid vom 28. Mai 2009 jedoch nicht der Fall (so ausdrücklich BSG, Beschluss vom 30. September 2009 - B 9 SB 19/09 B -; zur - gegenteiligen - Rechtslage vor dem 1. April 2008: BSG, Urteil vom 20. Juli 2005 – B 13 RJ 37/04 R - juris). Der Kläger hatte zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 28. Mai 2009 bzw. vor dem 1. April 2008 auch keine Rechtsposition erworben, die ein schutzwürdiges Vertrauen in den Fortbestand des § 96 Abs. 1 SGG in der bis 31. März 2008 geltenden Fassung hätte begründen können.

Die isolierte Anfechtungsklage gegen den Bescheid vom 3. Mai 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Mai 2008 ist nicht begründet. Die Beklagte hat den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 3. Mai 2004 zu Recht als unzulässig verworfen. Der Widerspruch der Klägerin vom 5. Februar 2008 ist nicht innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Bescheides vom 3. Mai 2004 erfolgt und daher verfristet (vgl. § 84 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der nicht zuzustellen ist - damit auch der Bescheid vom 3. Mai 2004 -, gilt bei Übermittlung durch die Post im Inland am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben (§ 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X, es sei denn, er ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen (§ 37 Abs. 2 Satz 2 SGB X . Nachdem die Klägerin einen Zugang des Bescheides vor dem 15. Januar 2008 bestritten hat und demgemäß die Zugangsfiktion des § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X - entgegen der Auffassung des SG - nicht zum Tragen kommt, trägt die Beklagte für die Nichtaufklärbarkeit eines früheren Zugangsdie objektive Beweislast (vgl. BSG, Urteil vom 11. Dezember 2007 - B 8/9b SO 12/06 R = SozR 4-3500 § 21 Nr. 1 m.w.N.).

Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens steht zur vollen Überzeugung des Senats indes fest, dass der Aufhebungs- und Rücknahmebescheid der Beklagten vom 3. Mai 2004 der Klägerin jedenfalls vor dem 21. Dezember 2005 bekannt gegeben wurde, wobei eine Bekanntgabe gegenüber der Klägerin persönlich ausreichte (vgl. § 37 Abs. 1 Satz 2 SGB X; BSG SozR 1300 § 37 Nr. 1). Die Widerspruchsfrist lief daher spätestens am 21. Januar 2006 ab. Das Widerspruchsschreiben der Klägerin ging bei der Beklagten erst am 6. Februar 2008 per Telefax - und damit verspätet - ein.

Der Senat stützt sich bei seinen Feststellungen im Wesentlichen auf das ausdrückliche Vorbringen des Prozessbevollmächtigten der Klägerin in dem gegen sie gerichteten Strafverfahren, und zwar dessen unmissverständlichen Hinweis im Schriftsatz vom 21. Dezember 2005, „ aufgrund der durch das Finanzamt Kreuzberg übermittelten Daten hat die Bundesagentur für Arbeit einen Rücknahme- und Erstattungsbescheid erlassen“. Soweit die Klägerin hierzu im Berufungsverfahren bekräftigt hat, es handele sich insoweit um einen - wohl versehentlich verwendeten - Textbaustein, vermag dieses Vorbringen die Beweiskraft des Inhalts des Schriftsatzes 21. Dezember 2005 schon deshalb nicht zu erschüttern, weil der Bevollmächtigte sowohl im hiesigen Verfahren als auch im Strafverfahren als besonders sorgfältig und umfassend agierender Vertreter aufgetreten ist. Die Angaben des Bevollmächtigten im Strafverfahren - auch dessen fehlende Einwendungen gegen die Aussage des als Zeuge gehörten Mitarbeiters der Beklagten B zur Bestandskraft des ausdrücklich genannten Bescheides vom 3. Mai 2004 - korrelieren in der Gesamtschau auch mit den vorliegenden Unterlagen aus dem Einziehungsverfahren der Beklagten, insbesondere dem Schreiben des Bevollmächtigten an die Beklagte vom 16. Juni 2004 mit dem expliziten Hinweis auf die von der Beklagten festgestellte Erstattungsforderung i.H.v. 25.998,84 € und den Erhalt der Forderungsaufstellung vom 10. Mai 2004. In eben dieser Forderungsaufstellung war aber ausdrücklich darauf verwiesen worden, dass die Forderung am 3. Mai 2004 - dem Bescheiddatum - festgestellt worden sei. Der Senat hegt keinerlei Zweifel, dass der Prozessbevollmächtigte der Klägerin, der diese auch seinerzeit im Verwaltungsverfahren vertreten hatte, aufgrund seiner besonders umsichtigen und alle rechtlichen Belange seiner Mandantin berücksichtigenden Vorgehensweise darauf hingewiesen hätte, wenn der Bescheid vom 3. Mai 2004 der Klägerin tatsächlich nicht bekannt gegeben worden wäre. Vielmehr ist aufgrund des Vorbringens der Klägerin im Anhörungsverfahren (Schreiben vom 22. März 2004) und den nachfolgenden Verhandlungen der Beteiligten im Einziehungsverfahren davon auszugehen, dass die Klägerin wegen des beabsichtigten Verbraucherinsolvenzverfahrens es ohnehin zunächst nicht beabsichtigt hatte, gegen die von der Beklagten geltend gemachte Erstattungsforderung in der Sache vorzugehen und - fristgerecht - Widerspruch einzulegen.

Der Senat nimmt im Übrigen gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des SG in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils (S. 5 Absatz 6 Zeile 1 bis S. 7 Absatz 1 letzte Zeile) Bezug und sieht insoweit von einer weiteren Begründung ab. Schließlich sind auch Gründe für eine Wiedereinsetzung der Klägerin in die Widerspruchsfrist weder ersichtlich noch von der Klägerin dargetan worden (vgl. zur Wiedereinsetzung in die Widerspruchsfrist durch das Gericht Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage § 84 Rn 8 a m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.