Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat | Entscheidungsdatum | 09.03.2012 | |
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Aktenzeichen | OVG 11 M 2.12 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG, § 6 Abs 4 AufenthG, § 166 VwGO |
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. November 2011 wird geändert. Dem Kläger wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt C… Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug ohne Ratenzahlungsverpflichtung bewilligt.
Die Beschwerde des Klägers ist begründet. Der Kläger hat nach § 166 VwGO in Verbindung mit §§ 114 und 121 ZPO für das erstinstanzliche Verfahren unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung.
Die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und erscheint nicht mutwillig. Bei der gebotenen Beurteilung der Erfolgsaussichten folgt aus dem Gebot einer weitgehenden Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten in der Verwirklichung des Rechtsschutzes gemäß Art. 3 Abs. 1 i.V.m. 20 Abs. 3 und 19 Abs. 4 GG, dass die Anforderungen an die Aussicht der beabsichtigen Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung nicht überspannt werden dürfen (BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 1991 - 1 BvR 1386/91 -, juris Rz. 8).
Vorliegend mag letztlich offen bleiben, ob die Regelerteilungsvoraussetzung eines gesicherten Lebensunterhalts (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) für den Nachzug des Klägers zu seiner hier lebenden Familie, d.h. seiner türkischen Ehefrau und seinen in den Jahren 1996 bis 1998 geborenen drei Töchtern, erfüllt wäre. Dies kann, mag auch ansonsten durchaus einiges hierfür sprechen, entgegen der verwaltungsgerichtlichen Annahme allerdings nicht mit der Begründung in Zweifel gezogen werden, die Verpflichtungserklärung seines hier lebenden, 37-jährigen Bruders genüge nicht den zu stellenden Anforderungen an die Prognosesicherheit, da nicht hinreichend dauerhaft gesichert sei, dass dieser weiterhin unverheiratet und kinderlos bleibe. Denn dies ist bei Fehlen anderweitiger Anhaltspunkte, für die nichts vorgetragen oder ersichtlich ist, reine Spekulation.
Die erforderlichen hinreichenden Erfolgsaussichten im erstinstanzlichen Klageverfahren bestehen jedoch hinsichtlich der Frage, ob ein Ausnahmefall vorliegt, aufgrund dessen von der Regelerteilungsvoraussetzung notwendiger Lebensunterhaltssicherung des Klägers abzusehen ist. Insoweit verweist der Kläger mit der Beschwerde zu Recht auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 2010 zu 1 C 20.09 (juris Rz. 31 m.w.N.), wonach „die in Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK und Art. 7 GR-Charta enthaltenen Wertentscheidungen zugunsten der Familie zu berücksichtigen“ sind und Ausnahmen vom Regelerfordernis der Unterhaltssicherung unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ausgelegt werden müssen. Hiernach sind z.B. der Beitrag zur Lebensunterhaltssicherung der Familie, die in der Vergangenheit auch während des Auslandsaufenthaltes geleisteten Unterhaltsbeiträge und die gesamte familiäre Situation einschließlich der Frage eines Umzugs der Familie in die Türkei zu berücksichtigen.
Bei der hiernach erforderlichen Gesamtbetrachtung liegt die Annahme des Vorliegens eines Ausnahmefalls hier zumindest nicht fern und bedarf insbesondere der - im Ergebnis derzeit offenen - Beweisaufnahme über Umfang und Gewicht der familiären Bindungen zu seiner seit langem in Deutschland lebenden Ehefrau und den hier sogar geborenen, noch minderjährigen Töchtern. Diesen ist als faktischen Inländerinnen eine zum Zwecke der Herstellung familiärer Einheit erzwungene Übersiedlung in die Türkei nicht zuzumuten. Dass gewisse familiäre Bindungen existieren, dürfte im Hinblick auf den Nachweis zahlreicher Besuche der Ehefrau während der Inhaftierung des Klägers in Deutschland und zumindest Besuche durch sie in der Türkei in den letzten Jahren belegt sein. Hierfür sprechen auch die vorgelegten Fotos zusammen mit den Kindern. Ob, wie behauptet, umfangreiche Kontakte über Telefon und Internet bestanden haben, bedarf der Aufklärung. Dass der Kläger nach dem strafgerichtlichen Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 22. Februar 2000 bis zu seiner Inhaftierung im Jahre 1999 mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen, damals noch kleinen Kindern nur sporadisch zusammengewohnt und teilweise im Haushalt einer deutschen Partnerin und einem gemeinsamen zweijährigen Kind gelebt hatte, stellt die Absicht der Herstellung einer dauerhaften familiären Gemeinschaft angesichts der seither vergangenen Zeit und der dargelegten Umstände in der Folgezeit nicht von vornherein in Frage. Hinsichtlich von Beiträgen zum Lebensunterhalt seiner Familie in Deutschland ist auf den - ggf. noch glaubhaft zu machenden - Vortrag des Klägers zu verweisen, er habe in der Türkei keine Arbeit gefunden und deshalb sogar von seinen Eltern unterstützt werden müssen. Ein Ausnahmefall ist auch nicht wegen der massiven Straffälligkeit des Klägers in der Vergangenheit ausgeschlossen, nachdem die Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung vorliegend auf den 1. März 2009 befristet worden sind (s. BVerwG, a.a.O., Rz. 31).
Dass der Kläger nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage ist, die Kosten der Prozessführung aufzubringen, ist unstreitig.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).