Gericht | OLG Brandenburg 2. Zivilsenat | Entscheidungsdatum | 23.02.2021 | |
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Aktenzeichen | 2 U 64/20 | ECLI | ECLI:DE:OLGBB:2021:0223.2U64.20.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen |
1. Auf die Berufung der Klägerin wird das am 07.01.2020 verkündete Urteil der 31. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Neuruppin, Az. 31 O 88/18, nebst dem ihm zugrundeliegenden Verfahren aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Berufungsverfahrens, an das Landgericht Neuruppin zurückverwiesen.
2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf einen Gebührenwert bis 19.000 € festgesetzt.
I.
Von einer Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird nach §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 Satz 1, 544 Abs. 2 Nr. 1 ZPO abgesehen.
II.
Die statthafte Berufung ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. In der Sache hat das Rechtsmittel vorläufigen Erfolg. Es führt nach § 538 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 ZPO zur Aufhebung des Urteils und des Verfahrens und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht. Die Sache bedarf weiterer Verhandlung. Das erstinstanzliche Verfahren leidet an wesentlichen Mängeln, aufgrund derer eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme erforderlich ist.
1.
Das Landgericht hat das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) zum Nachteil der Klägerin verletzt.
a)
Erteilt das Gericht einen Hinweis entgegen § 139 Abs. 4 ZPO erst in der mündlichen Verhandlung, muss es der betroffenen Partei genügend Gelegenheit zur Reaktion hierauf geben. Ist offensichtlich, dass sich die Partei in der mündlichen Verhandlung nicht abschließend erklären kann, so muss das Gericht, wenn es nicht ins schriftliche Verfahren übergeht, die mündliche Verhandlung auch ohne einen Antrag auf Schriftsatznachlass vertagen, um Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben (BGH, Beschluss vom 21.01.2020 – VI ZR 346/18 – NJW-RR 2020, 574; Zöller-Greger, ZPO, 33. Auflage 2020, § 139 ZPO, Rn. 14a jeweils m. w. Nachw.).
Dem hat das Landgericht hier nicht Genüge getan. Es hat sich veranlasst gesehen, im Termin zur mündlichen Verhandlung darauf hinzuweisen, dass ein Amtshaftungsanspruch gegen die Beklagte nur in Betracht komme, sofern diese ihre Auswahl- und Überwachungspflicht verletzt habe und es noch weiteren Vortrages dazu bedürfe, inwiefern der Klägerin kein Anspruch gegen die Streithelferinnen zu 1) bis 3) zustehe. Obwohl der Klägerin eine sofortige Erklärung hierauf ersichtlich nicht möglich war, hat das Gericht die Verhandlung geschlossen. Vor diesem Hintergrund durfte es das Vorbringen der Klägerin im Schriftsatz vom 08.11.2019 mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 128 Abs. 2 ZPO nicht ohne mündliche Verhandlung sachlich bescheiden, sondern hätte die Verhandlung auf den insofern nicht nachgelassenen Schriftsatz gemäß § 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO wiedereröffnen müssen.
Davon abgesehen hat das Landgericht auch auf der Basis des Klägervorbringens vorschnell einen Amtshaftungsanspruch aus § 839 BGB, Art. 34 GG an § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB scheitern lassen. Die letztgenannte Vorschrift verlangt nicht, dass sich der Geschädigte auf Ersatzansprüche verweisen lassen muss, die er nicht oder jedenfalls nicht in absehbarer und angemessener Zeit durchsetzen kann. Auch weitläufige, unsichere oder im Ergebnis zweifelhafte Wege des Vorgehens gegen Dritte braucht er nicht einzuschlagen. Die Ausnutzung anderweitiger Ersatzmöglichkeiten muss dem Geschädigten mithin zumutbar sein (vgl. BGH, Urteil vom 07.09.2017 – III ZR 618/16 – BGHZ 215, 344, Rn. 20 m. w. Nachw.). Solange hierzu keine abschließenden Feststellungen möglich sind, kann eine auf § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB gegründete Abweisung der Amtshaftungsklage grundsätzlich nur als „derzeit unbegründet“ erfolgen; eine derartige Klageabweisung hat lediglich vorläufigen Charakter. Sie wird nicht auf die Verneinung der eigentlichen haftungsauslösenden Voraussetzung, der schuldhaften Amtspflichtverletzung, gestützt, sondern auf das Fehlen eines negativen Tatbestandsmerkmals, das materiell-rechtlich das Entstehen des Anspruchs nur verhindern kann, soweit für den Verletzten die Möglichkeit, anderweitig Ersatz zu verlangen, tatsächlich besteht. Dieses Merkmal verliert aber seine Wirkung, sobald und soweit feststeht, dass der Verletzte ohne sein Verschulden außerstande ist, anderweitig Ersatz zu verlangen (BGH, Urteil vom 07.09.2017 – III ZR 618/16 – ebd.). Dazu, ob und in welcher Höhe die Klägerin in zumutbarer Weise anderweitig Schadensersatz realisieren kann, fehlt bislang ausreichender Parteivortrag. Sofern im neuen landgerichtlichen Verfahren nicht positiv davon auszugehen sein wird, dass die Klägerin über eine zumutbare anderweitige Ersatzmöglichkeit verfügt und die Klage aus diesem Grund endgültig abzuweisen ist, werden Feststellungen auch zu den übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des Amtshaftungsanspruchs zu treffen sein. Sollte sich herausstellen, dass anderweitige Ersatzmöglichkeiten nicht zumutbar zu realisieren sind, ist der Amtshaftungsanspruch nur unter den Voraussetzungen des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB begründet. Kann hingegen nicht abschließend beurteilt werden, ob eine anderweitige Ersatzmöglichkeit gegeben ist, erfordert auch die dann in Betracht kommende Klageabweisung als „derzeit unbegründet“ im Hinblick auf deren beschränkte Rechtskraftwirkung, dass die Klage nicht an einem anderen Tatbestandsmerkmal scheitert (BGH, Urteil vom 07.09.2017 – III ZR 618/16 – ebd.).
Für die Beurteilung der Frage, ob eine andere Ersatzmöglichkeit im Sinne von § 839 Abs. 1 Satz 2 BGB besteht, kommt es zudem auf den Zeitpunkt der Klageerhebung an (vgl. BGH, Urteil vom 05.11.1992 – III ZR 91/91 – BGHZ 120, 124; Urteil vom 26.11.1981 – III ZR 59/80 – NJW 1982, 1328). Wie sich die Streithelfer der Beklagten im Einzelnen in das Gesamtgeschehen einfügen und welche möglicherweise zum Schadensersatz verpflichtende Handlungen von ihnen vorgenommen wurden und inwieweit dies der Klägerin im Zeitpunkt der Klageerhebung erkennbar war, sodass sie die Erfolgsaussichten einer Rechtsverfolgung hätte beurteilen können, ist bislang nicht festgestellt. Von Bedeutung dürfte in diesem Zusammenhang sein, dass die Beklagte durch den KSA im vorgerichtlichen Schriftverkehr nicht auf anderweitige Ersatzmöglichkeiten verwiesen, sondern auf eine fehlende Kausalität (Jahrhundertregen) abgestellt hat.
b)
Ein weiterer Verfahrensfehler liegt darin, dass das Landgericht Ansprüche aus enteignungsgleichem Eingriff verneint hat, ohne dies mit den Parteien zu erörtern. Die Anspruchsgrundlage des enteignungsgleichen Eingriffs war bis zur mündlichen Verhandlung von keiner Partei angesprochen worden. Nach § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO darf das Gericht seine Entscheidung auf einen Gesichtspunkt, den eine Partei erkennbar übersehen oder für unerheblich gehalten hat, soweit – wie hier – nicht nur eine Nebenforderung betroffen ist, nur stützen, wenn es darauf hingewiesen und Gelegenheit zur Äußerung dazu gegeben hat. Ein entsprechender Hinweis ist nicht – wie nach § 139 Abs. 4 ZPO geboten – aktenkundig geworden.
2.
Die Sache bedarf einer umfangreichen und aufwändigen Beweisaufnahme.
Zunächst trifft die Annahme des Landgerichts, Ansprüche wegen enteignungsgleichen Eingriffs seien im Streitfall von den Bestimmungen des Staatshaftungsgesetzes Bbg. verdrängt, nicht zu. Nach § 10 Abs. 1 Satz 2 BbgStrG finden die Bestimmungen über den Anspruch auf Schadensersatz wegen schuldlos rechtswidriger Schadenszufügung nach dem Staatshaftungsgesetz und dem Ordnungsbehördengesetz auf die mit dem Bau und der Unterhaltung sowie der Erhaltung der Verkehrssicherheit der Straßen einschließlich der Bundesfernstraßen zusammenhängenden Aufgaben keine Anwendung. Für einen Anspruch aus enteignungsgleichem Eingriff kommt es auf anderweitige Ersatzmöglichkeiten nicht an. Deshalb wird in jedem Fall mit sachverständiger Hilfe aufzuklären sein, ob der Ausbau der Anliegerstraße E… an sich und in seiner konkreten Ausgestaltung rechtswidrig war, insbesondere ob das Entwässerungssystem im Schadenszeitpunkt so beschaffen war, dass es das anfallende Niederschlagswasser, von extremen Situationen, wie sie erfahrungsgemäß nur in sehr großen Zeitabständen vorzukommen pflegen („Jahrhundertereignis“), abgesehen, gefahrlos bewältigen kann; dabei kommt es entscheidend auf eine umfassende Würdigung aller nach den jeweiligen Umständen des konkreten Einzelfalls maßgeblichen abwasserwirtschaftlichen, -technischen und topographischen Gegebenheiten an (vgl. etwa BGH, Urteil vom 13.06.1996 – III ZR 40/95 – NJW 1996, 3208 m. w. Nachw.). Auch zur Intensität der Niederschläge an den Schadenstagen wird ein Sachverständigengutachten einzuholen sein. Je nach Ausgang der genannten Begutachtungen könnte anschließend aufzuklären sein, inwieweit der Klägerin tatsächlich ein Schaden entstanden ist.
Vor diesem Hintergrund hält der Senat eine eigene Sachentscheidung nach § 538 Abs. 1 ZPO für nicht sachgerecht, sondern eine Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz für geboten. Der mit einer Zurückverweisung grundsätzlich verbundene Nachteil einer gewissen Verzögerung und Verteuerung des Prozesses fällt hier angesichts des sachlichen Umfangs der anstehenden Beweisaufnahme, die nach dem Vorstehenden aller Voraussicht nach die Einholung mehrerer Gutachten umfasst, nicht erheblich ins Gewicht. Umso mehr gewinnt daher der Gesichtspunkt an Bedeutung, ein ordnungsgemäßes Verfahren in erster Instanz nachzuholen und den Parteien die vom Gesetz zur Verfügung gestellten zwei Tatsachenrechtszüge voll zu erhalten.
3.
Die Kostenentscheidung ist dem Erstgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung der Klägerin erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 Satz 1 ZPO. Ein Ausspruch hierüber ist im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO geboten, da aus aufhebenden und zurückverweisenden Urteilen die Vollstreckung insoweit betrieben werden kann, als die Vorlage einer vollstreckbaren Entscheidung das Vollstreckungsgericht nötigt, eine eingeleitete Vollstreckung aus dem aufgehobenen Urteil einzustellen oder eine getroffene Maßnahme aufzuheben (s. bereits BGH, Urteil vom 24.11.1976 – IV ZR 3/75 – JZ 1977, 232).
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen, § 543 Abs. 2 ZPO.
Die Streitwertfestsetzung folgt §§ 47 Abs. 1 Satz 1, 48 Abs. 1 Satz 1 GKG, § 3 ZPO.