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Materielle Rechtskraft einer Anfechtungsklage und Bindungswirkung des Urteils betreffend Aufhebung einer Prüfungsentscheidung; Statthaftigkeit der Anfechtungsklage statt der Neubescheidungsklage und Unerheblichkeit dieser Frage für die II. Instanz; Überprüfbarkeit von Erörterungen eines Rechtsproblems


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 10. Senat Entscheidungsdatum 08.01.2010
Aktenzeichen OVG 10 N 86.08 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 1 JAO BE, § 1 JAG BE, § 121 VwGO

Tenor

Der Antrag des Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 4. September 2008 wird abgelehnt.

Die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens trägt der Beklagte.

Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 7.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil, mit dem das Verwaltungsgericht den Bescheid des Beklagten über das Nichtbestehen der ersten juristischen Staatsprüfung der Klägerin im Wiederholungsversuch aufgehoben hat, hat keinen Erfolg.

1. Der auf ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Antrag ist zulässig.

Dem steht nicht entgegen, dass das Bestehen ernstlicher Richtigkeitszweifel voraussetzt, dass nicht nur einzelne Rechtssätze und tatsächliche Feststellungen mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden, sondern auch die Richtigkeit des Ergebnisses insgesamt zweifelhaft sein muss (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10. März 2004 - BVerwG 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542, zitiert nach juris). Der Beklagte erhebt hier zwar nur bezüglich zwei der drei vom Verwaltungsgericht als fehlerhaft angesehenen Klausurbewertungen Einwendungen gegen das Urteil, so dass sich auch bei Zugrundelegung seiner Rechtsauffassung der Tenor des angegriffenen Urteils nicht ändern würde, weil der Prüfungsbescheid als einheitlicher Verwaltungsakt einer Teilaufhebung bezüglich einzelner Klausurbewertungen nicht zugänglich ist. Die Aufhebung der Prüfungsentscheidung wegen der fehlerhaften Bewertung von (nur) einer Klausur „beschwert“ jedoch die Prüfungsbehörde in geringerem Maße als die Beanstandung von drei Aufsichtsarbeiten und stellt daher für sie ein anderes - günstigeres - Ergebnis dar.

Die materielle Rechtskraft des einer Anfechtungsklage stattgebenden Urteils beschränkt sich auf die vom Gericht geprüften und die Entscheidung tragenden Aufhebungsgründe (Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 121 Rn. 21 m.w.N.). Nur insoweit ist die Behörde aufgrund der Bindungswirkung des Urteils gehindert, einen Verwaltungsakt gleichen Inhalts zu erlassen (Kopp/Schenke, a.a.O., § 113 Rn. 13 m.w.N.). Aus den Urteilsgründen ergibt sich daher der Umfang, in dem die Prüfungsbehörde die Prüfungsleistungen des Kandidaten einer erneuten Bewertung zuführen muss, und die Rechtsauffassung, die sie dabei zu beachten hat. In der Sache sind die Rechtskraftwirkungen des Anfechtungsurteils in der vorliegenden Fallgestaltung nicht anders zu beurteilen als die Fälle stattgebender prüfungsrechtlicher Bescheidungsurteile. Für diese Fallkonstellation ist anerkannt, dass der Umfang der materiellen Rechtskraft sich nach den die Rechtsauffassung des Gerichts tragenden Entscheidungsgründen bestimmt und auch ein stattgebendes Bescheidungsurteil einen Kläger beschwert, wenn die vom Gericht für verbindlich erklärte Rechtsauffassung hinter seinem Begehren zurückbleibt (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 3. Dezember 1981 - BVerwG 7 C 30.80 und 7 C 31.80 -, DVBl. 1982, 447; Beschluss vom 22. April 1987 - BVerwG 7 B 76.87 -, Buchholz 310 § 121 VwGO Nr. 54; VG Schwerin, Urteil vom 22. März 2007 - 3 A 137/06 -, jeweils zitiert nach juris).

Das Gleiche muss auch für die Fälle gelten, in denen das Verwaltungsgericht - wie hier - eine Anfechtungsklage für zulässig erachtet hat (so auch OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. Juni 2006 - OVG 7 N 99.05 -, BA S. 6 f.; Beschluss vom 27. November 2006 - OVG 7 N 35.06 -, BA S. 2). Die Frage, welche Klageart statthaft ist in Fällen, in denen die negative Entscheidung über das Gesamtergebnis der Prüfung bereits vor Abschluss des aus mehreren Abschnitten bestehenden Prüfungsverfahrens erfolgt, so dass im Falle der Aufhebung des Bescheides vor einer neuen Entscheidung u.U. das Prüfungsverfahren fortgesetzt werden muss, wird nicht einheitlich beurteilt. Es hängt vom Rechtsstandpunkt des erstinstanzlichen Gerichts ab, ob (allein) eine Anfechtungsklage für zulässig gehalten wird (so Niehues, Prüfungsrecht, 4. Aufl. 2004, Rn. 810; ebenso OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 9. Juni 2006 und vom 27. November 2006, a.a.O.) oder aber auch in diesen Fällen ein Neubescheidungsantrag angenommen wird (vgl. OVG Berlin, Beschluss vom 25. September 1978 - OVG VII S 12.78 -, zitiert nach juris, Rn. 6; so wohl auch die überwiegende verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung, vgl. etwa Tenorierung bzw. Klageanträge in OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. März 2009 - 10 A 11116/08 -; BayVGH, Urteil vom 5. Dezember 2006 - 7 B 05.2683 -; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 11. Dezember 2003 - 2 L 265/02 -; VG Schwerin, a.a.O.; VG Berlin, 12. Kammer, Urteil vom 19. Januar 2005 - VG 12 A 413.02 - und VG Berlin, 3. Kammer, Urteil 2. Mai 2006 - VG 3 A 29.06 -, alle Entscheidungen zitiert nach juris). Auf den Umfang des Rechtsschutzes in der zweiten Instanz hat dies keinen Einfluss. In beiden Fallgestaltungen bestimmt die in den Entscheidungsgründen zum Ausdruck gebrachte Rechtsauffassung des Gerichts den Umfang der Bindungswirkung des Urteils, so dass beide Beteiligte in dem Maße, in dem sie mit ihrer Rechtsauffassung zum Vorliegen bzw. Nichtvorliegen von Bewertungsfehlern nicht durchgedrungen sind, rechtsmittelfähig „beschwert“ sind. Es bedarf daher vorliegend keiner Erörterung, ob die Bejahung der Statthaftigkeit der Anfechtungsklage im Allgemeinen und auch im vorliegenden Fall, in dem wegen der unter Vorbehalt erfolgten Ablegung der mündlichen Prüfung tatsächlich keine weiteren Prüfungsleistungen von der Klägerin mehr zu erbringen sind, zutreffend ist.

2. Der Antrag ist jedoch unbegründet. Das Vorbringen des Beklagten, das den Prüfungsumfang des Oberverwaltungsgerichts bestimmt (§ 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO), rechtfertigt eine Zulassung der Berufung nicht.

a) Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Bewertung der Klausur S I weise einen Fehler auf, der eine Neubewertung erforderlich mache, wird vom Beklagten nicht wirkungsvoll in Zweifel gezogen. Das Verwaltungsgericht hat beanstandet, die Prüfer hätten mit der - vom Zweitkorrektor übernommenen - Kritik des Erstvotums, der Verfasser eröffne die Strafbarkeit des B mit einer überflüssigen Diebstahlsprüfung, in Verbindung mit der Randbemerkung „abwegig“ an der entsprechenden Stelle in der Klausur zum Ausdruck gebracht, dass sie die Prüfung des § 242 StGB als nicht mehr vertretbar und fehlerhaft angesehen hätten. Diese Kritik daran, dass die Klägerin überhaupt eine Strafbarkeit des B nach § 242 StGB in Erwägung gezogen habe, sei fehlerhaft. Im Hinblick darauf, dass im Klausursachverhalt der Leasingnehmer durch die mit dem Ziel der Verwertung des Pkw erfolgende Weitergabe an einen Freund das Fahrzeug den Zugriffsmöglichkeiten des Leasinggebers entzogen habe, müsse die Prüfung des § 242 StGB zwar nicht als geboten, aber in einem strafrechtlichen Gutachten als noch vertretbar angesehen werden. Mit diesem Ansatz setzt sich der Beklagte nicht auseinander. Er unterstellt vielmehr, das Gericht sei der Auffassung gewesen, der Fall habe durchaus Anlass gegeben, im Hinblick auf mögliche gestufte Gewahrsamsverhältnisse den Diebstahl sorgfältig zu prüfen. Dies geht an den Gründen des angefochtenen Urteils vorbei, weil das Verwaltungsgericht nicht eine sorgfältige Prüfung als veranlasst, sondern nur überhaupt eine Prüfung des Diebstahlsparagraphen als noch vertretbar angesehen hat. Der vom Beklagten nicht in Zweifel gezogene Ansatz des Verwaltungsgerichts, die Korrektoren hätten bereits allein die Prüfung des § 242 StGB für falsch und damit unvertretbar gehalten, betrifft die gerichtlich voll überprüfbare Fachfrage, ob bei der Erörterung eines Rechtsproblems die Prüfung einer bestimmten Norm geboten, vertretbar oder fernliegend ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Dezember 1997 - BVerwG 6 B 55.97 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 385). Die Bewertung einer Prüfung als unvertretbar setzt dabei voraus, dass auch unter Berücksichtigung des Antwortspielraums des Prüflings selbst eine kurze Erörterung der fraglichen Norm negativ zu bewerten ist. Nach diesem Maßstab ist die Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht zu beanstanden, dass vor dem Hintergrund der im Klausursachverhalt vorgegebenen Konstellation zwischen Leasingnehmer und Leasinggeber der Ansatz, einen Diebstahl zu prüfen, nicht von vornherein unvertretbar ist. Der Umstand, dass der B als Gewahrsamsinhaber keine Wegnahmehandlung begehen konnte, mag es zwar nahelegen, bei der Klausurbearbeitung sofort auf den Unterschlagungstatbestand abzustellen; im Hinblick auf die nach der Aufgabenstellung erforderliche eingehende Untersuchung der Strafbarkeit erscheint aber eine Erwähnung auch des § 242 StGB nicht als völlig unvertretbar. Dabei geht es nicht - wie der Beklagte meint - um die Frage einer sachgerechten Schwerpunktbildung, sondern nur darum, welche Normen überhaupt angesprochen werden. Sollte die Prüfung entbehrlicher Normen dazu führen, dass die Schwerpunkte der Klausurbearbeitung nicht richtig gesetzt werden, mag dies Gegenstand einer - berechtigten - weiteren Kritik sein, betrifft aber nicht unmittelbar die Zulässigkeit der Normprüfung selbst.

Soweit der Beklagte der Entscheidung des Verwaltungsgerichts den Rechtssatz entnehmen will, „es sei dem Korrektor auch bei klarer Rechtslage verwehrt, die umfangreiche Erörterung eines im Sachverhalt nicht angelegten Problems auch dann zu beanstanden, wenn der Bearbeiter den Aspekt, der die Prüfung überhaupt als vertretbar erscheinen lassen könnte, selbst nicht gesehen und erörtert hat“, wird dies dem dargestellten Ansatz des Verwaltungsgerichts nicht gerecht. Im Übrigen wird darauf hingewiesen, dass die Prüfung des § 242 StGB in der Klausur sich auf wenige Sätze zum Vorliegen einer fremden beweglichen Sache und dem Fehlen einer Wegnahme beschränkt und damit nicht als „umfangreiche Erörterung“ angesehen werden kann.

b) Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, auch die Bewertung der Klausur Z I sei prüfungsrechtlich zu beanstanden, vermag der Beklagte im Ergebnis ebenfalls nicht wirkungsvoll in Zweifel zu ziehen.

aa) Das Verwaltungsgericht hat zum einen folgende Kritik des Zweitkorrektors beanstandet: „Im ersten Teil prüft d. Verf. einen Herausgabeanspruch aus § 985 BGB. Dabei wird die Frage nach einer dinglichen Einigung zur Übereignung des Notebook ausdrücklich offen gelassen. Die Begründung, darauf komme es im Falle einer wirksamen Anfechtung nicht an, liegt neben der Sache“. Das Verwaltungsgericht hat hierzu ausgeführt, da nach § 142 Abs. 1 BGB ein anfechtbares Rechtsgeschäft im Falle der Anfechtung als von Anfang an nichtig anzusehen sei, könne das Fehlen einer Einigung schon allein mit der wirksamen Anfechtung ohne Betrachtung weiterer Einigungsmängel begründet werden. Maßgebend ist also die Erwägung, auf die Wirksamkeit einer dinglichen Einigung komme es nicht an, wenn jedenfalls die zugrunde liegende (auf das dingliche Rechtsgeschäft bezogene) Willenserklärung einer Partei wirksam angefochten worden sei, weshalb die Frage der Wirksamkeit in dieser Konstellation habe offen gelassen werden können. Dass diese Überlegung fachlich oder prüfungsrechtlich nicht haltbar ist, zeigt der Beklagte nicht auf. Soweit er in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit einer systematischen und differenzierten Prüfung der Anfechtung sowohl bezogen auf den schuldrechtlichen Vertrag als auch auf die dingliche Einigung hinweist, betrifft dies nicht den Ansatz der Klägerin, die Wirksamkeit der dinglichen Einigung im Hinblick auf die Anfechtungsprüfung offen zu lassen, sondern die Anfechtungsprüfung selbst. Dass diese auch wegen der fehlenden Differenzierung zwischen schuldrechtlichem und dinglichem Geschäft deutliche Mängel aufwies, ist Gegenstand einer weiteren - berechtigten - Kritik der Korrektoren.

Soweit der Beklagte zudem meint, das Offenlassen des Zustandekommens einer wirksamen Einigung werde einer im Gutachtenstil vorzunehmenden sachgerechten Bearbeitung des Falls nicht gerecht, hat er dies nicht hinreichend begründet. Der Hinweis, die Anfechtung setze notwendig das Vorliegen eines Rechtsgeschäfts voraus, dessen Wirksamkeit rückwirkend beseitigt werden solle, widerspricht der herrschenden Meinung, wonach auch ein nichtiges Rechtsgeschäft angefochten werden kann (vgl. Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 68. Aufl. 2009, Überbl v § 104, Rn. 35).

bb) Soweit das Verwaltungsgericht im Zusammenhang mit der Kritik des Zweitkorrektors an der Prüfung der gesetzlichen Anfechtungsgründe einen weiteren Beurteilungsfehler festgestellt hat, begegnet auch dies keinen Bedenken, die die Zulassung einer Berufung rechtfertigen könnten. Das Verwaltungsgericht beanstandet die Kritik des Zweitkorrektors, die Bearbeitung gehe weder auf die gesetzlichen Anfechtungsgründe und ihre jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen ein, noch finde eine ordnungsgemäße Subsumtion statt. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dieses Monitum sei nicht in Gänze berechtigt, weil die Klägerin auf S. 5 ihrer Klausur Ausführungen zu § 119 Abs. 1 BGB mache, ist jedenfalls im Ergebnis zutreffend. Dem Beklagten dürfte zwar zuzugeben sein, dass der Zweitkorrektor mit dem fehlenden „Eingehen“ auf gesetzliche Anfechtungsgründe und ihre tatbestandlichen Voraussetzungen nicht nur - wie das Verwaltungsgericht meint - gerügt hat, dass Anfechtungsgründe und tatbestandliche Voraussetzungen „(gar nicht) genannt würden“. Ein „Eingehen“ auf Anfechtungsgründe und deren Tatbestandsvoraussetzungen erfordert mehr als das bloße Hinschreiben eines Paragraphen, ersichtlich erwartete der Korrektor eine irgendwie geartete Erwähnung und Darstellung von Anfechtungsgründen und ihren tatbestandlichen Voraussetzungen sowie eine anschließende Subsumtion des Klausursachverhalts. Da jedoch in der Prüferkritik pauschal jegliches „Eingehen“ vermisst wird, die Klägerin jedoch zumindest einen Erklärungsirrtum im Sinne des § 119 Abs. 1 (2. Alt.) BGB erwähnt und bejaht hat, ist sie insoweit auf die gesetzlichen Anfechtungsgründe und ihre jeweiligen tatbestandlichen Voraussetzungen „eingegangen“, so dass die Prüferkritik nicht in vollem Umfang berechtigt ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG, wobei sich der Senat an der Empfehlung in Nr. II.36.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (Fassung Juli 2004, NVwZ 2004, 1327) orientiert hat.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).