Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 22. Senat | Entscheidungsdatum | 27.10.2011 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | L 22 R 951/10 WA | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 102 Abs 2 SGG, § 102 Abs 3 SGG |
Es wird festgestellt, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache durch Rücknahme der Klage erledigt ist.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Klägerin begehrt von der Beklagten Rente wegen Erwerbsminderung, wobei vorab darüber zu entscheiden ist, ob der Rechtsstreit durch Klagerücknahme erledigt ist.
Die im November 1953 geborene Klägerin, die nach ihren Angaben von September 1970 bis Februar 1972 eine abgeschlossene Ausbildung zur Facharbeiterin Postbetriebsdienst absolvierte, arbeitete danach in diesem Beruf bis April 1977, bevor sie von Mai 1977 bis November 2006 als Lohnbuchhalterin und Rechnungsbearbeiterin beschäftigt war, wobei sie sich nach eigenen Angaben zur Wirtschaftskauffrau qualifizierte. Nach einer befristeten Beschäftigung in einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (November 2006 bis April 2007) war die Klägerin bis zum Eintritt von Arbeitsunfähigkeit am 19. September 2007 arbeitslos.
Den im Februar 2007 wegen eines Herzinfarktes, einer Lungenerkrankung und Hüftgelenksbeschwerden links gestellten Rentenantrag lehnte die Beklagte nach Einholung des Gutachtens des Facharztes für Innere Medizin Dr. R vom 03. April 2007 mit Bescheid vom 18. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. September 2007 ab: Mit den festgestellten Gesundheitsstörungen (bedarfsweise behandelbare Beschwerden bei bekannter koronarer Herzkrankheit, kompensierter Blutdruck, kompensierte Atemwegserkrankung) könnten Tätigkeiten im Umfang von mindestens 6 Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt sowie im bisherigen Beruf als Lohnbuchhalterin verrichtet werden.
Dagegen hat die Klägerin am 19. September 2007 beim Sozialgericht Berlin Klage erhoben.
Sie ist der Ansicht gewesen, keine Tätigkeit mehr ausüben zu können. Die Bundesagentur für Arbeit habe inzwischen ein sozialmedizinisches Gutachten eingeholt, in dem festgestellt worden sei, dass sie nicht mehr als 15 Stunden pro Woche leistungsfähig sei. Ihre Erwerbsfähigkeit werde durch den Zustand nach Herzinfarkt, Asthma, ein Hüftleiden mit eingeschränkter Geh- und Wegefähigkeit und Depressionen erheblich beeinträchtigt.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt, das Arbeitsagenturgutachten des Dr. A vom 30. August 2007 nebst arbeitsagenturärztlicher Stellungnahme der Ärztin für Arbeits- und Sozialmedizin Dr. B vom 23. Oktober 2007 beigezogen sowie Beweis erhoben durch die schriftlichen Sachverständigengutachten des Facharztes für Innere Medizin, Diabetologie und Sportmedizin Dr. S vom 05. September 2008 und der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. K vom 31. Dezember 2008.
Die Klägerin hat geltend gemacht, es habe keine Auseinandersetzung mit dem Arbeitsagenturgutachten vom 30. August 2007 und dem Befundbericht der Diplompsychologin Kvom 16. Januar 2007 stattgefunden. Auch weise das Gutachten keine eigenen Tatsachen auf, auf denen die getroffene Schlussfolgerung fuße.
Mit Gerichtsbescheid vom 01. Juli 2009 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Die Klägerin sei noch in der Lage, körperlich leichte bis gelegentlich mittelschwere Arbeiten überwiegend im Sitzen mit der Möglichkeit zum Haltungswechsel unter Beachtung der gutachterlich festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen 6 Stunden und mehr auszuüben. Der Sachverständige Dr. S habe im Bereich der Schilddrüse bis auf beginnende degenerative Zeichen keine sonomorphologischen Besonderheiten festgestellt. Die Duplexsonografie der hirnversorgenden Arterien habe allenfalls beginnende Zeichen einer Arteriosklerose gezeigt. Lungenärztlicherseits ergäbe sich eine leichte bis mäßige Obstruktion. Die angegebene Belastungsdyspnoe sei allenfalls auf die verminderte muskuläre Kondition bei ausgeprägtem Übergewicht zurückzuführen. Die Sachverständige Dr. K habe die deutliche Adipositas bei druckempfindlicher Schulternackenmuskulatur und eine eingeschränkte Beweglichkeit der Wirbelsäule nach vorne sowie ein leicht hinkendes Gangbild bei erhaltener Wegefähigkeit bestätigt. Eine depressive Stimmungslage sei nicht eruiert worden. Die nach dem Verlust des Arbeitsplatzes aufgetretene Depression erscheine überwunden. Die noch anhaltende innere Betroffenheit einer nicht überwundenen Kränkung sei noch teilweise vorhanden, allerdings nicht als krankheitswertig anzusehen. Damit könne die Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und als kaufmännische Sachbearbeiterin tätig sein.
Gegen den ihrer Prozessbevollmächtigten am 27. Juli 2009 zugestellten Gerichtsbescheid hat diese am 10. August 2009 Berufung eingelegt und hat darauf hingewiesen, dass die Berufungseinlegung zunächst vorsorglich erfolge.
Nach mit Verfügung vom 12. August 2009 erfolgter Aufforderung zur Berufungsbegründung binnen eines Monats hat die Prozessbevollmächtigte der Klägerin Fristverlängerung bis Ende Dezember 2009 beantragt. Die Klägerin sei aufgrund gegenwärtiger Erkrankung nicht in der Lage, die entsprechende Zuarbeit zu leisten. Nachdem diese Fristverlängerung gewährt worden ist, sind Erinnerungen unter dem 18. Januar 2010 und 17. Februar 2010 erfolgt.
Mit der vom Berichterstatter unterschriebenen Verfügung vom 15. Juni 2010 ist die Prozessbevollmächtigte der Klägerin aufgefordert worden, das Verfahren zu betreiben. Insoweit ist ihr aufgegeben worden, die Berufung zu begründen. Es ist außerdem darauf hingewiesen worden, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 153 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) als zurückgenommen gilt, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betrieben werde, wobei die Frist mit der Zustellung dieser Aufforderung beginne. Dieser Verfügung entsprechend ist dieses Schreiben, unter Wiedergabe des vollen Namens des Berichterstatters und beglaubigt durch die Geschäftsstelle des Senats, der Prozessbevollmächtigten über eine dort Beschäftigte am 17. Juni 2010 mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden.
Nachdem die Prozessbevollmächtigte der Klägerin unter dem 18. Juni 2010 mitgeteilt hat, die Berufung werde bis spätestens 31. Juli 2010 begründet werden, wobei um entsprechende Fristverlängerung gebeten worden ist, ist diese nach Ablauf dieses Zeitpunkts mit Verfügung vom 05. August 2010 nochmals ausdrücklich auf die gravierenden Rechtsfolgen hingewiesen worden, falls die mit Schreiben vom 15. Juni 2010 in Lauf gesetzte Frist verstreichen sollte.
Mit der am 13. Oktober 2010 eingegangenen Begründung trägt die Klägerin vor: Wegen erheblicher Gesundheitseinschränkungen sei sie nicht mehr Lage, körperlich leichte Arbeiten mit qualitativen Einschränkungen 6 Stunden und mehr auszuüben. Erhebliche und nicht gewürdigte Einschränkungen ergäben sich aufgrund des Lungenleidens mit Asthma. Die fehlende Belastbarkeit für die Gehfähigkeit und die Belastbarkeit für eine regelmäßige tägliche Arbeit seien nicht nur durch Adipositas, sondern auch durch ein Hüftleiden und das Lungenleiden begründet. Das Gutachten der Sachverständigen Dr. K sei unschlüssig, soweit es körperlich mittelschwere Arbeiten teilweise, körperlich schwere Arbeiten hingegen ohne weiteres als zumutbar erachte. Es sei nicht nachvollziehbar, dass die aufgetretene Depression überwunden erscheine. Die Klägerin sei auch nicht in der Lage, die Tätigkeit einer Lohnbuchhalterin bzw. kaufmännischen Sachbearbeiterin auszuüben.
Sie meint zudem, die Fiktion gemäß § 102 SGG könne im Berufungsverfahren keine Anwendung finden. Die Klägerin habe mit Schreiben vom 18. Juni 2010 mitgeteilt, dass das Rechtsschutzinteresse fortbestehe und die Berufung fortgeführt werde. Eine Entscheidung über den Antrag auf Fristverlängerung sei nicht ergangen. Sofern das Gericht nach dem 31. Juli 2010 der Auffassung gewesen sein sollte, dass nunmehr erneut Zweifel am Bestehen oder Nichtbestehen des Rechtschutzbedürfnisses existierten, hätte es einer erneuten Betreibensaufforderung gemäß § 102 SGG bedurft.
Die Klägerin beantragt,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 01. Juli 2009 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 18. April 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 05. September 2007 zu verurteilen, der Klägerin Rente wegen voller und teilweiser Erwerbsminderung ab 01. Februar 2007 zu gewähren und die höhere Rente zu leisten.
Die Beklagte sollte beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie ist ebenfalls der Ansicht, dass § 102 Abs. 2 SGG im Berufungsverfahren keine Anwendung finde.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes sowie des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsakten (Renten- und Reha-Akten) der Beklagten (), die bei der Beratung und Entscheidung vorgelegen haben, verwiesen.
Der Senat kann ohne mündliche Verhandlung entscheiden, denn die Beteiligten haben ihr Einverständnis hierzu erteilt (§ 124 Abs. 2 SGG).
Auf Antrag der Klägerin ist das Berufungsverfahren zwar fortzusetzen. Der Senat ist jedoch gehindert, den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 01. Juli 2009 zu überprüfen und eine Sachentscheidung zum Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung zu treffen, denn das Berufungsverfahren ist durch Rücknahme der Klage erledigt.
Nach § 102 Abs. 1 SGG kann der Kläger die Klage bis zur Rechtskraft des Urteils zurücknehmen. Die Klagerücknahme erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache.
Die Klägerin hat zwar keine Rücknahme ihrer Klage erklärt. Gleichwohl ist wegen der nach § 102 Abs. 2 Satz 2 SGG angeordneten entsprechenden Geltung des § 102 Abs. 1 SGG die dort ausgesprochene Rechtsfolge eingetreten, denn die Voraussetzungen der fiktiven Klagerücknahme nach § 102 Abs. 2 Satz 1 und 3 SGG sind erfüllt.
Danach gilt die Klage als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus § 102 Abs. 1 Satz 1 SGG ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.
Entgegen der Ansicht der Beteiligten ist § 102 Abs. 2 SGG auch im Berufungsverfahren anwendbar.
Diese Vorschrift kann lediglich nicht im Sinne der Fiktion einer Berufungsrücknahme entsprechend herangezogen werden, denn insoweit liegt keine planwidrige Regelungslücke vor. Durch eine Fiktion der Klagerücknahme im Berufungsverfahren wird § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht über seinen Anwendungsbereich hinaus angewendet, so dass diese Vorschrift im Berufungsverfahren grundsätzlich anwendbar ist (so Bundessozialgericht - BSG - Urteil vom 01. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R, abgedruckt in BSGE 106, 254 = SozR 4-1500 § 102 Nr. 1). Es erscheint grundsätzlich nicht gerechtfertigt, im Rechtsmittelverfahren eher noch höhere Anforderungen an die Demonstration mangelnden Rechtsschutzinteresses zu stellen, wie dies teilweise in der Literatur gefordert wird (vgl. die Fundstellen im Urteil des BSG vom 01. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R). Immerhin hat im erstinstanzlichen Verfahren bereits eine unabhängige gerichtliche Überprüfung der Verwaltungsentscheidung stattgefunden.
Die formalen Voraussetzungen des § 102 Abs. 2 Sätze 1 und 3 SGG sind erfüllt.
Die Klägerin ist aufgefordert worden, das Verfahren zu betreiben. Ihr ist insoweit aufgegeben worden, die Berufung zu begründen. Sie ist zugleich in dieser Aufforderung auf die sich ergebenden Rechtsfolgen hingewiesen worden, wenn das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als 3 Monate nicht betrieben wird, dass nämlich in diesem Falle die Klage gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 153 Abs. 1 SGG als zurückgenommen gilt. Dabei ist mitgeteilt worden, dass diese Frist mit der Zustellung dieser Aufforderung beginnt (so gerichtliches Schreiben vom 15. Juni 2010).
Die erfolgte Fristsetzung ist wirksam, denn die Betreibensaufforderung ist vom zuständigen Richter verfügt und mit vollem Namen unterzeichnet worden. Außerdem ist das der Verfügung entsprechende gerichtliche Schreiben durch Wiedergabe des vollen Namens des zuständigen Richters von der Geschäftsstelle des Senats beglaubigt worden (vgl. dazu das Urteil des BSG vom 01. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R).
Schließlich ist die Betreibensaufforderung den Prozessbevollmächtigten der Klägerin gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG, wonach Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird, zuzustellen sind, zugestellt worden. Sie ist mit Zustellungsurkunde (§ 182 Zivilprozessordnung - ZPO - ) am 17. Juni 2010 im Wege der Ersatzzustellung nach § 178 Abs. 1 Nr. 2 ZPO in den Geschäftsräumen der Prozessbevollmächtigen der Klägerin der dort Beschäftigen C M zugestellt worden, weil nach der Postzustellungsurkunde die Prozessbevollmächtigten im Geschäftsraum nicht angetroffen worden sind (§ 63 Abs. 2 SGG).
Die Frist von 3 Monaten hat damit am 18. Juni 2010 begonnen (§ 64 Abs. 1 SGG) und am 17. September 2010 geendet (§ 64 Abs. 2 Satz 1 SGG).
Bei der Frist von 3 Monaten handelt es sich um eine gesetzliche Frist, die dementsprechend nicht nach § 65 Satz 1 SGG auf Antrag abgekürzt oder verlängert werden kann, denn diese Vorschrift betrifft lediglich richterliche Fristen.
Dementsprechend ist die mit Schriftsatz vom 18. Juni 2010 beantragte Fristverlängerung dem Grunde nach bereits nicht möglich gewesen, soweit damit eine Hemmung der gesetzlichen Frist um die Zeit bis zum 31. Juli 2010 mit der Folge, dass dieser Zeitraum in die 3-Monatsfrist nicht eingerechnet wird, beabsichtigt gewesen sein sollte. Im Übrigen ist die beantragte Fristverlängerung überflüssig gewesen, denn bei der - wie angekündigt – Berufungsbegründung bis spätestens 31. Juli 201 wäre die Rechtslage der Klagerücknahme nicht eingetreten. Der mit Verfügung vom 05. August 2010 gegebene Hinweis auf die gravierenden Rechtsfolgen, falls die mit Schreiben vom 15. Juni 2010 in Lauf gesetzte Frist verstreichen sollte, ist somit zutreffend gewesen. Damit ist zugleich klargestellt, dass die beantragte Fristverlängerung nicht in Betracht kommt.
Die erst am 13. Oktober 2001 eingegangene Berufungsbegründung wahrt somit die Frist von drei Monaten nicht.
Im Zeitpunkt der Betreibensaufforderung ist auch das für eine Rechtsmittelrücknahmefiktion geforderte ungeschriebene Tatbestandsmerkmal erfüllt gewesen, dass nach dem prozessualen Verhalten der Klägerin hinreichender Anlass bestand, von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses auszugehen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 01. Juli 2010, B 13 R 58/09 R unter Hinweis auf Bundesverfassungsgericht - BVerfG - , Beschluss vom 27. Oktober 1998 – 2 BvR 2662/95, abgedruckt in DVBl 1999, 166).
Nach dieser Rechtsprechung des BSG handelt es sich bei der fingierten Klagerücknahme um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Hinweis auf Bundestagsdrucksache 16/7716 S. 19, 20 zu § 102 SGG des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes m.w.N.). Das BVerfG hat in dem genannten Beschluss darauf hingewiesen, dass in Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) jede an einen Antrag gebundene gerichtliche Entscheidung ein Rechtsschutzbedürfnis voraussetzt und ein Gericht im Einzelfall von einem Wegfall eines ursprünglich gegebenen Rechtsschutzbedürfnisses ausgehen kann, wenn das Verhalten eines Verfahrensbeteiligten Anlass zu der Annahme bietet, dass ihm an einer Sachentscheidung nicht mehr gelegen ist. Hiervon ausgehende Vorschriften sind mit Art. 19 Abs. 4 GG vereinbar. Das BVerfG hat aber betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist. Hiernach müssen (so BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1993 – 2 BvR 1972/92, abgedruckt in DVBl 1993, 1000 unter Hinweis auf Bundesverwaltungsgericht - BVerwG -, Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 48/84, abgedruckt in BVerwGE 71, 213 = DVBl 1985, 959) zum einen zum Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses bestehen, die den späteren Eintritt der Fiktion als gerechtfertigt erscheinen lassen. Solche Anhaltspunkte sind insbesondere dann gegeben, wenn der Kläger seine prozessualen Mitwirkungspflichten verletzt hat. Des Weiteren hat ein Kläger das Verfahren nur dann nicht mehr betrieben, wenn er innerhalb der 3-Monats-Frist nicht substantiiert dargetan hat, dass und warum das Rechtsschutzbedürfnis trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist.
Zum Zeitpunkt des Erlasses der Betreibensaufforderung vom 15. Juni 2010 haben sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses der Klägerin bestanden.
Dies folgt zum einen daraus, dass die Berufungseinlegung vorsorglich geschehen ist. Damit ist zum Ausdruck gebracht worden, dass die Berufung zur Wahrung der Berufungsfrist eingelegt worden ist, ohne dass zu diesem Zeitpunkt bereits entschieden war, ob das Berufungsverfahren tatsächlich durchgeführt werden soll. Zum anderen ergibt sich dies daraus, dass die Berufung nicht begründet worden ist, obwohl zur Berufungsbegründung unter Fristsetzung aufgefordert, einem Antrag auf ihre Verlängerung entsprochen und danach nochmals zweimalig an die Berufungsbegründung vergebens erinnert worden ist. Damit hat die Klägerin ihre prozessuale Mitwirkungspflicht verletzt.
Das SGG enthält zwar für die Begründung (der Klage und) der Berufung, insbesondere für die Angabe von Beweismitteln und von Tatsachen, durch deren Nichtberücksichtigung der Kläger sich beschwert fühlt, keine zwingenden Vorschriften, denn (§ 92 Abs. 1 Satz 4 SGG und) § 151 Abs. 3 SGG bestimmt insoweit lediglich, dass die Berufungsschrift das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben soll. Allerdings ist bei fehlender Mitwirkung das Gericht nicht verpflichtet, von sich aus in jede nur mögliche Richtung („ins Blaue hinein“) zu ermitteln und Beweis zu erheben (BSG, Urteil vom 01. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R). Angesichts dessen stellt die Berufungsbegründung eine gleichwohl gebotene Mitwirkungshandlung des Klägers dar, denn allein diese lässt, insbesondere wenn die Berufungseinlegung nur vorsorglich erfolgt ist, erkennen, ob und ggf. in welcher Weise erhobene Ansprüche in welchem Umfang weiter verfolgt werden und inwieweit sich der Kläger in seinen Rechten verletzt sieht. Deswegen wird mit dem durch Gesetz vom 26. März 2008 (BGBl 1 2008, 444) neu eingefügten § 106 a (i. V. m. § 153 Abs. 1) SGG in dessen Abs. 2 bestimmt, dass der Vorsitzende (Berichterstatter, § 155 Abs. 1 SGG) einem Beteiligten nunmehr unter Fristsetzung u. a. aufgeben kann, zu bestimmten Vorgängen Tatsachen anzugeben oder Beweismittel zu bezeichnen. Ungeachtet dieser Vorschrift bestimmt § 106 Abs. 1 (i. V. m. § 153 Abs. 1) SGG, dass der Vorsitzende (Berichterstatter, § 155 Abs. 1 SGG) darauf hinzuwirken hat, dass Formfehler beseitigt, unklare Anträge erläutert, sachdienliche Anträge gestellt, ungenügende Angaben tatsächlicher Art ergänzt sowie alle für die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen abgegeben werden. Dazu rechnet insbesondere die Aufforderung zur Berufungsbegründung, denn darin werden die zur Feststellung und Beurteilung des Sachverhaltes wesentlichen Angaben tatsächlicher Art dargelegt. Mit dieser Regelung korrespondiert § 92 Abs. 2 Satz 1 (i. V. m. § 153 Abs. 1) SGG, wonach der Vorsitzende den Berufungskläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern hat, wenn die Berufung den in § 151 Abs. 3 SGG genannten Anforderungen nicht entspricht.
Jedenfalls dann, wenn eine solche sanktionslose prozessleitende Verfügung zur Abgabe einer Berufungsbegründung unbeachtet bleibt, besteht Anlass zur Annahme, der Kläger werde seiner Mitwirkungspflicht nicht nachkommen (BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 48/84). Dies gilt, soweit und solange keine Gründe dafür angegeben werden, weswegen die Berufung nicht begründet wird. Im vorliegenden Verfahren bestand nach Aktenlage kein Anlass, von Amts wegen weiter – ins Blaue hinein – zu ermitteln oder eine andere als die erfolgte Entscheidung zu treffen, so dass die verlangte Mitwirkung keine bloße Formalie war.
Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat zwar auf die unter dem 12. August 2009 verfügte Aufforderung zur Begründung der Berufung binnen Monatsfrist vorgetragen, zur Begründung aufgrund gegenwärtiger Erkrankung der Klägerin nicht in der Lage zu sein und deswegen Frist für die Berufungsbegründung bis Ende Dezember 2009 beantragt. Sie hat jedoch nach Ablauf der insoweit gewährten Fristverlängerung trotz zweimaliger Erinnerungen unter dem 18. Januar 2010 und 17. Februar 2010 die Berufungsbegründung gleichwohl nicht vorgenommen. Bei dieser Sachlage ist zwar bis Ende Dezember 2009 davon auszugehen gewesen, dass wegen einer Erkrankung der Klägerin die gebotene Mitwirkungshandlung in zumutbarer Weise nicht hat vorgenommen werden können. Dieser Grund ist jedoch nach Ablauf des 31. Dezember 2009 entfallen, denn trotz Erinnerungen ist weder die Berufung begründet worden, noch ist eine Begründung für ein entsprechendes Hindernis vorgetragen worden, so dass spätestens seither Zweifel am Bestehen des Rechtsschutzinteresses bestanden haben. Selbst der Berufungsbegründung kann nicht entnommen werden, dass und welche Umstände als Hindernis wesentlich gewesen sind, die Berufung zwischenzeitlich zu begründen.
Diese Zweifel am Rechtsschutzbedürfnis hat die Klägerin trotz der Betreibensaufforderung vom 15. Juni 2010 nicht innerhalb der Frist von 3 Monaten behoben.
Dies hätte nämlich nach der o. g. Rechtsprechung erfordert, dass die Klägerin substantiiert dargelegt hätte, dass und warum das Rechtsschutzinteresse trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen nicht entfallen ist. An einem solchen substantiierten Vorbringen fehlt es, denn unter dem 18. Juni 2010 ist lediglich mitgeteilt worden, dass die Berufung bis spätestens 31. Juli 2010 begründet werden wird.
Angesichts dessen ist mit dem Ablauf des 17. September 2010 die Wirkung des § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG eingetreten, dass die Klage als zurückgenommen gilt, denn die am 13. Oktober 2010 eingegangene Berufungsbegründung ist (verspätet erst) zu einem Zeitpunkt eingegangen, zu dem die Klage bereits nicht mehr anhängig gewesen ist.
Nach alledem ist es dem Senat verwehrt, zum Begehren der Klägerin auf Rente wegen Erwerbsminderung zu entscheiden. Es ist vielmehr festzustellen, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache durch Rücknahme der Klage erledigt ist.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits.
Die Revision ist nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen hierfür (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG) nicht vorliegen.