Gericht | VG Cottbus 5. Kammer | Entscheidungsdatum | 04.10.2017 | |
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Aktenzeichen | VG 5 K 1908/16.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2017:1004.5K1908.16.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 3 Abs 1 Nr 4 AsylVfG 1992, § 3 AsylVfG 1992 |
Homosexuellen droht in Algerien nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung durch den Staat. Ein "real risk" sowohl der Strafverfolgung als auch insbesondere der Verhängung einer Freiheitsstrafe ist regelmäßig zu verneinen.
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 26.08.2016 verpflichtet der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des sich aus dem Kostenfestsetzungsbeschluss ergebenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die Klägerin ist nach eigenen Angaben algerische Staatsangehörige. Sie begehrt die Zuerkennung internationalen Schutzes und die Feststellung von Abschiebungsverboten.
Die Klägerin reiste am 15.07.2016 in die Bundesrepublik ein und stellte am 28.07.2016 einen Asylantrag.
In ihrer Anhörung trug sie vor, dass sie homosexuell sei. Ihr Umfeld habe dies aber nicht akzeptiert. Insbesondere sei sie vom Bruder ihrer ersten Partnerin im Jahr 2006 bedroht worden. Seitdem sei sie auch von ihren Eltern bedroht worden. Ihre Eltern hätten gewollt, dass sie einen Mann heirate. Sie sei dann im Jahr 2008 zu ihrer Tante gezogen, die ihre sexuelle Orientierung akzeptiert hätte. Sie sei zudem in einer Organisation an ihrer Universität gewesen und habe dort Berichte über die Diskriminierung Homosexueller in der Gesellschaft geschrieben und die Rechte von Studenten verteidigt. Zudem sei sie im Jahr 2012 von einer radikal-islamistischen Gruppe bedroht worden. Ab 2014 habe sie wieder bei ihren Eltern gelebt, diese aber über ihre sexuelle Orientierung belogen. Schließlich habe sie im Jahr 2016 anlässlich eines Restaurantbesuches mit ihrer damaligen Partnerin Streit mit dem Restaurantbesitzer gehabt. Sie habe sich über das Essen beschwert. Daraufhin habe er sie geschlagen. Zudem habe er sie und ihre Freundin aus dem Restaurant geworfen und gesagt die Stadt sei nicht für Homosexuelle.
Mit Bescheid vom 26.08.2016 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin als unbegründet ab und lehnte die Feststellung von Abschiebungsverboten ab. Es sei weder eine flüchtlingsrelevante Verfolgungshandlung noch ein flüchtlingsrelevantes Anknüpfungsmerkmal ersichtlich. Subsidiärer Schutz sei nicht anzuerkennen und Abschiebungsverbote nicht festzustellen. Im Übrigen nimmt das Gericht auf den Bescheid Bezug, § 77 Abs. 2 AsylG.
Hiergegen hat die Klägerin am 04.10.2016 Klage zum Verwaltungsgericht Potsdam erhoben.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes vom 26.08.2016, (Gesch.-Zeichen: 6865668 – 221) ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
hilfsweise, subsidiären Schutz zu gewähren,
hilfsweise, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 des Aufenthaltsgesetzes festzustellen.
Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,
die Klage abzuweisen.
Das Verwaltungsgericht Potsdam hat sich mit Beschluss vom 26.10.2016 (6 K 3818/16.A) für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Cottbus verwiesen.
Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen. Diese waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Das Gericht konnte trotz Ausbleiben eines Vertreters der Beklagten gemäß § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) verhandeln und entscheiden, da die Beklagte ordnungsgemäß unter Hinweis auf die Folgen des Ausbleibens eines Beteiligten geladen worden ist.
Die zulässige Klage ist begründet.
Die angegriffenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO. Die Klägerin hat Anspruch auf die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 des Asylgesetzes (AsylG).
Die Klägerin hat zunächst keinen Anspruch aufgrund staatlicher Verfolgung wegen ihrer Homosexualität.
Dabei steht für das Gericht unzweifelhaft fest, dass die Klägerin homosexuell ist. Das Gericht gründet dies insbesondere auf die Aussagen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung in der sie eindrücklich ihre bisherigen Liebesbeziehungen zu und Gefühle für andere Frauen insbesondere in Algerien geschildert hat. An der Glaubhaftigkeit dieses Vortrages hat das Gericht keinen Zweifel.
Die Klägerin ist indes bezüglich der Behörden des Staates Algerien nicht vorverfolgt i.S.d. Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ausgereist.
Weder in der mündlichen Verhandlung noch an einer anderen Stelle hat die Klägerin auch nur irgendeine Verfolgungshandlung durch den Staat Algerien vorgetragen. Soweit gegen die Klägerin eine Anzeige durch ihre Familie wegen ihrer Homosexualität und eines Diebstahls erstattet wurde, ist nicht ersichtlich, dass der Staat Algerien daraufhin Maßnahmen ergriffen hat.
Eine solche Verfolgung ist hier auch insbesondere nicht darin zu erblicken, dass homosexuelle Handlungen nach Art. 338 des algerischen Strafgesetzbuchs strafbar sind und Art. 333 eine qualifizierte Strafbarkeit für Erregung öffentlichen Ärgernisses mit Bezügen zur Homosexualität vorsieht. Das Gesetz sieht eine Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren sowie eine Geldstrafe bis zu 10.000 Dinar vor.
Dies erlaubt aber die Feststellung, dass Homosexuelle in Algerien eine soziale Gruppe i.S.d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden. Denn das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, erlaubt die Feststellung, dass diese Personen als eine bestimmte soziale Gruppe anzusehen sind (EuGH, Urteil vom 07. November 2013 – C-199/12 bis C-201/12 –, juris).
Der bloße Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher stellt indes keine Verfolgungshandlung dar. Dagegen ist eine Freiheitsstrafe, mit der homosexuelle Handlungen bedroht sind und die im Herkunftsland, das eine solche Regelung erlassen hat, tatsächlich verhängt wird, als unverhältnismäßige oder diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar (EuGH, Urteil vom 07. November 2013 – C-199/12 bis C-201/12 –, juris). Macht ein Asylbewerber geltend, dass in seinem Herkunftsland Rechtsvorschriften bestünden, die homosexuelle Handlungen unter Strafe stellten, haben die nationalen Behörden im Rahmen ihrer Prüfung der Ereignisse und Umstände alle das Herkunftsland betreffenden relevanten Tatsachen einschließlich der Rechts- und Verwaltungsvorschriften dieses Landes und der Weise, in der sie angewandt werden, zu prüfen. Im Rahmen dieser Prüfung müssen diese Behörden insbesondere ermitteln, ob im Herkunftsland des Asylbewerbers die in diesen Rechtsvorschriften vorgesehene Freiheitsstrafe in der Praxis verhängt wird. Im Licht dieser Hinweise haben die nationalen Behörden zu entscheiden, ob der Asylbewerber tatsächlich Grund zu der Befürchtung hatte, nach der Rückkehr in sein Herkunftsland verfolgt zu werden (EuGH, Urteil vom 07. November 2013 – C-199/12 bis C-201/12 –, juris).
Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Freiheitsstrafe aufgrund der benannten Normen in Algerien tatsächlich verhängt wird, sodass die Klägerin Grund zu der Befürchtung gehabt hätte, verfolgt zu werden.
Zwar geht das Auswärtige Amt ohne nähere Begründung oder Quellenangabe in seinem Bericht davon aus, dass „in der Rechtspraxis … beide Vorschriften regelmäßig Anwendung (finden) (Zahl anhängiger Verfahren nicht überprüfbar), insbesondere Art. 333 wird von den Polizei- und Strafverfolgungsbehörden zur Verhinderung der Gründung von Schutzorganisationen homosexueller Personen herangezogen. Eine systematische Verfolgung homosexueller Personen (verdeckte Ermittlungen etc.) findet nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes nicht statt; Homosexualität wird für die Behörden dann strafrechtlich relevant, wenn sie offen ausgelebt wird. 2015 wurden mehrere Personen aufgrund gleichgeschlechtlicher Beziehungen verhaftet, jedoch nicht strafrechtlich verfolgt.“ (Deutschland / Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien (Stand Januar 2017), 23.02.2017).
Selbst diese Erkenntnisse, die bereits nichts darüber aussagen, ob eine Freiheitsstrafe tatsächlich und mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit verhängt wird, stehen aber – soweit sie eine regelmäßige Anwendung der Strafvorschriften behaupten - im Widerspruch zu anderen, ebenfalls von verlässlichen Institutionen stammenden Erkenntnismitteln.
So ist dem Algeria 2016 human rights report des State Departments der United States of America zu entnehmen, dass „LGBTI-Aktivisten berichten, dass die vage Formulierung der Strafnormen, die “homosexuelle Handlungen” und “widernatürliche Handlungen” bestrafen, umfassende Anschuldigungen erlauben, die während des Jahres in mehreren Festnahmen, aber keinen bekannten Anklagen wegen homosexueller Handlungen mündeten. [...] Aktivisten berichteten, dass die Regierung nicht aktiv LGBTI Verhalten bestrafe, aber mitschuldig an der ‚hate speech‘ war, die von konservativen, kulturellen und religiösen Organisationen verbreitet wurde, von denen einige Mitglieder der LGBTI-Gemeinschaft mit Pädophilen gleichgesetzt wurden und die dazu ermutigten diese von der Familie und Gesellschaft auszuschließen.“ (United States / Department of State, 03.03.2017, S. 36f.).
Auch das Immigration and Refugee Board of Canada führt unter Inbezugnahme einer Mehrzahl von Quellen aus, dass es nur selten überhaupt zu Anklagen wegen der genannten Delikte kommt (Algeria: Situation of sexual minorities, including treatment by authorities and societal attitudes; availability of legal recourse, state protection and support services (2010-July 2013).
Schließlich hat das Upper Tribunal des Vereinigten Königreichs in einer Leitentscheidung nach umfangreicher Beweisaufnahme und Auswertung von Erkenntnismitteln ausgeführt: „Obwohl nach dem algerischen Strafgesetzbuch homosexuelle Handlungen illegal sind, bemühen sich die Behörden nicht darum homosexuelle Männer anzuklagen und es gibt kein ‘real risk’ einer Anklage, selbst wenn die Behörden von solchem Verhalten erfahren. In den wenigen Fällen, in denen Anklagen wegen homosexuellem Verhalten zustande kamen, gab es ein zusätzliches Merkmal, welches die Anklage verursacht hat. Der Staat verfolgt nicht aktiv homosexuelle Männer, um irgendeine Verfolgungshandlung gegen sie vorzunehmen, sei es durch Anklage oder durch andere Formen von Schlechtbehandlung im Rahmen einer Verfolgung.” (Upper Tribunal (Immigration and Asylum Chamber), OO (Gay Men) Algeria CG [2016] UKUT 65 (IAC), 23. und 24. September 2015, Representation, zudem Rn. 172).
Das erkennende Gericht geht anhand dieser Erkenntnisse – deren Übertragbarkeit auf homosexuelle Frauen es annimmt, soweit das Urteil des Upper Tribunal in Rede steht - davon aus, dass in Algerien bereits keine relevante Verfolgung durch den Staat droht. Es ist nichts dafür zu erkennen, dass ein „real risk” einer Anklage, geschweige denn einer Freiheitsstrafe besteht oder bestand.
Keine Vorverfolgung i.S.d. Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU hat die Klägerin auch insoweit erlitten, als sie mit Teilen der Gesellschaft wegen ihrer Homosexualität in Konflikt geraten ist. Soweit der Bruder ihrer ersten Partnerin eine Todesdrohung gegen sie ausgesprochen hat, geschah dies im Jahr 2006. Die Klägerin ist indes im Jahr 2016 ausgereist, ohne dass es jemals zu einem entsprechenden Vorgehen dieses Bruders gekommen ist. Daher sprechen stichhaltige Gründe dagegen, dass der Klägerin von dem Bruder ihrer ersten Partnerin auch nur irgendwelche Gefahr droht.
Soweit sie anlässlich eines Restaurantbesuches mit dem Restaurantbesitzer verbal aneinandergeraten ist, ist – selbst wenn man (was nicht naheliegt) die Äußerungen des Restaurantbesitzers als Verfolgungshandlungen i.S.d. § 3a AsylG qualifizieren wollte - auszuschließen, dass dieser die Verfolgung der Klägerin fortsetzen würde.
Die Klägerin hat aber Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG, da ihr Verfolgung durch ihre Familie droht, vor der der Staat Algerien ihr keinen hinreichenden Schutz zuteilwerden lassen wird, § 3c Nr. 3 AsylG.
Zur Überzeugung des Gerichtes hat die Klägerin vorgetragen, dass sie wegen ihrer Homosexualität von ihrer Familie mehrere Jahre unter eine Art Hausarrest gestellt wurde und nur mit jeweiliger Erlaubnis der Eltern das Haus verlassen durfte. Die Klägerin hat ferner auch mitgeteilt, dass sie insbesondere von ihrem Vater wegen ihrer Homosexualität geschlagen wurde und – nach ihrer Flucht – ihr Vater sich eine Waffe zugelegt habe, mit der er sie umbringen wolle. Dies hat die Klägerin von ihrer Schwester erfahren. Ferner haben die Eltern der Klägerin diese zu einer Psychotherapie gezwungen, um die von ihnen als Krankheit angesehene Homosexualität zu „heilen“, wobei der Klägerin hierbei eine Medikation verschrieben und verabreicht wurde, die ihr erhebliche gesundheitliche Beschwerden eingebracht hat.
Jedenfalls in der Gesamtschau geht das Gericht davon aus, dass diese Handlungen die Schwelle zu einer Verfolgungshandlung gemäß § 3a AsylG überschreiten.
Hiervor kann die Klägerin keinen internen Schutz erlangen. Denn der Staat Algerien ist nicht willens Homosexuelle vor den Übergriffen ihrer Familie zu schützen.
Auch eine interne Fluchtalternative steht der Klägerin nicht offen. Insoweit kann es dahinstehen, ob die Familie der Klägerin – wie diese geltend macht – diese landesweit wird verfolgen können. Denn den Erkenntnismitteln lässt sich nicht entnehmen, dass eine solche interne Flucht der Klägerin zumutbar wäre. Denn es ist für eine alleinstehende Frau in Algerien mit erheblichen Schwierigkeiten versehen sich eine Wohnung zu mieten und einer Arbeit nachzugehen (Canada: Immigration and Refugee Board of Canada, Algeria: Situation of single or divorced women living alone, particularly in Algiers; whether they can find work and housing; support services available to them (2012-2015), 13 August 2015). Es ist hiernach sehr ungewöhnlich, dass Frauen allein leben. Selbst geschiedene oder verwitwete Frauen leben regelmäßig mit männlichen Familienangehörigen zusammen, was für die Klägerin keine Option ist. Vermieter vermieten nur sehr selten an alleinstehende Frauen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.