Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 16. Senat | Entscheidungsdatum | 29.02.2012 | |
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Aktenzeichen | L 16 R 589/11 ZVW | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 43 Abs 2 SGB 6 |
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. März 2007 wird zurückgewiesen. Die Klage gegen den Bescheid vom 27. Oktober 2010 wird abgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten im gesamten Verfahren zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der 1963 geborene Kläger ist gelernter Maler und war von 1997 bis 2009 als Tierarzthelfer (Arbeitszeit laut Arbeitsvertrag vom 1. Juli 1999: 20 Stunden wöchentlich) beschäftigt.
Bei dem Kläger war ein Grad der Behinderung (GdB) von 30 anerkannt aufgrund folgender Leiden: Erworbene Immunschwäche, Zuckerkrankheit, Migräne (Bescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales – Versorgungsamt – vom 9. August 2004). Mit Bescheid des Versorgungsamtes vom 9. Juni 2008 wurde der Kläger unter Zuerkennung des Merkzeichens „G“ als schwer behinderter Mensch mit einem GdB von 80 anerkannt (HIV, Folgezustände; Diabetes mellitus Typ II).
Auf den vom Kläger am 12. März 2004 gestellten Antrag auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung (EM) forderte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) als Rechtsvorgänger der Beklagten Befundberichte des Internisten Dr. K vom 15. April 2004 (Diagnosen: Diabetes mellitus, chronische rezidivierende Dorsalgie, chronische Migräne, HIV-Infektion) und der Neurologin Dr. A vom 23. Mai 2004 (Migräne, Dysthimia, Verdacht auf HIV) an und ließ den Kläger durch den Internisten Dr. H untersuchen und begutachten. Dieser Arzt bescheinigte dem Kläger auf seinem Fachgebiet noch ein Leistungsvermögen für leichte körperliche Arbeiten, überwiegend im Sitzen, im täglichen Umfang von sechs Stunden und mehr (Gutachten vom 3. Mai 2004 aufgrund der Untersuchung vom 14. März 2006; HIV mit Folgeerscheinungen, Adipositas, Diabetes mellitus, Schwindel, Nikotin - abusus, Migräne, Hyperlipidämie, Verdacht auf beginnende Nierenschädigung, vertebragenes Schmerzsyndrom, Depression). Mit Bescheid vom 9. Juni 2004 lehnte die BfA den Rentenantrag ab. Im Widerspruchsverfahren veranlasste sie die Erstattung eines Gutachtens durch den Chirurgen Dipl.-Med. P vom 19. Juli 2004 (Diagnosen: rezidivierendes Dorsalsyndrom bei BWS-Fehlhaltung, Gonalgie rechts bei Chondropathie, HIV-Infektion mit Folgekrankheit, Adipositas), der den Kläger noch für körperlich leichte Arbeiten - überwiegend im Sitzen - mit qualitativen Einschränkungen für täglich sechs Stunden und mehr einsetzbar hielt. Die BfA holte weiterhin ein nervenärztliches Gutachten des Neurologen und Psychiaters Dipl.-Psych. W vom 25. Juli 2004 ein (Diagnosen: Anpassungsstörung bei HIV mit depressiver Symptomatik, Migräne ohne Aura). Dieser Gutachter hielt den Kläger für leichte Tätigkeiten in einem Umfang von sechs Stunden und mehr unter qualitativen Einschränkungen für belastbar. Nachdem die BfA einen Befundbericht des C V-Klinikums der C (HIV-Tagesklinik) vom 24. September 2004 beigezogen hatte (Diagnosen: HIV-Infektion [Stadium A3], metabolisches Syndrom mit Adipositas, Hyperlipidämie, Diabetes mellitus Typ 2 und Steatosis Hepatis, reaktive Depression, Migräne sowie seborrhoische Dermatitis), wies sie den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2004 zurück.
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Berlin Befundberichte von den behandelnden Ärzten des Klägers erstatten lassen, und zwar vom C V-Klinikum der C vom 20. Juni 2005, von Dr. A vom 1. Juli 2005 sowie von Dr. K vom 9. Juli 2005. Das SG hat den Facharzt für Innere Medizin, Mikrobiologie und Infektionsepidemiologie Dr. S als Sachverständigen eingesetzt. Dieser Arzt hat in seinem Gutachten vom 24. Oktober 2005 (Untersuchung am 7. Oktober 2005) folgende Gesundheitsstörungen festgestellt: HIV-Infektion im Stadium 3A mit rezidivierenden Krankheitszuständen in Folge: Laryngo-, Tracheobronchitiden, Gastritiden bei Refluxkrankheit sowie Diarrhoen, metabolisches Syndrom mit Übergewicht, Diabetes mellitus Typ 2, Hypertonie, Dyslipoproteinämie, Nikotinabusus und chronischer Bewegungsmangel, Hepatomegalie mit diffusem Leberparenchymschaden (Verfettung), Splenomegalie, chronisches Wirbelsäulensyndrom (BWS, LWS), Hernia umbicialis und reaktive Depression. Der Kläger könne noch täglich regelmäßig und vollschichtig körperlich und geistig leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen unter Beachtung der aufgezeigten qualitativen Leistungseinschränkungen in allen Haltungsarten, überwiegend jedoch sitzend, ausführen. Auf die Einwendungen des Klägers gegen dieses Gutachten (Schriftsätze vom 11. November 2005 und vom 2. Dezember 2005) wird Bezug genommen. Auf den Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Facharzt für Arbeitsmedizin – Internist/Umweltmedizin Prof. Dr. S als Sachverständiger eingesetzt worden. Dieser Arzt hat in seinem Gutachten vom 30. September 2006 (Untersuchung am 29. August 2006) folgende Diagnosen gestellt: HIV im Stadium 3A mit Folgeerscheinungen in Form von Durchfall – Depression – Kopf- und Gliederschmerzen – Schnupfen – chronische Bronchitis – Muskelschmerzen – Migräne – starker Durst – Übelkeit – Schwindelanfälle – Hustenkrämpfe, vertebragenes Schmerzsyndrom – Parodontose – Anpassungsstörung bei HIV mit reaktiv depressiver Symptomatik als opportunistische Erkrankungen, Adipositas, Diabetes mellitus, Hyperlipidämie, Hepatomegalie bei diffusem Leberparenchymschaden, Splenomegalie, Migräne ohne Aura, arterieller Hypertonus (therapiert), Onychomykose, Allergie gegenüber Nussgewächsen, seborrhoische Dermatitis, Nikotinabusus, Verdacht auf beginnende Nierenschädigung. Der Kläger sei in der Lage, täglich sechs Stunden zu arbeiten. Er bedürfe jedoch der Einlegung einer täglichen Pause von 60 Minuten je Arbeitsschicht. Dabei sollte die Pausenzeit in zweimal 30 Minuten aufgeteilt werden. Der Beginn der aufgezeigten Leistungseinschränkungen sei „mit März 2004 anzunehmen“. Auf Aufforderung des SG hat Dr. S mit Schreiben vom 23. November 2006 zum Gutachten von Prof. Dr. S Stellung genommen und dabei an seiner Beurteilung des verbliebenen Leistungsvermögens des Klägers festgehalten. Der Kläger hat vorgetragen: Seine ihm verbliebene Leistungsfähigkeit sei nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes verwertbar. Bei seiner Beschäftigung als Tierarzthelfer, die von über 26 Wochen ärztlich bestätigter und krankheitsbedingter Ausfallzeiten pro Jahr gekennzeichnet sei und ihm durch seinen Arbeitgeber „gnadenweise“ ermöglicht werde, könne er die Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nicht mehr erfüllen.
Das SG hat mit Urteil vom 16. März 2007 die auf die Gewährung von Rente wegen voller EM „ab Antragstellung“ gerichtete Klage abgewiesen. Zur Begründung ist ausgeführt: Die Klage sei nicht begründet. Der Kläger habe gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Rente wegen teilweiser EM bzw. voller EM gemäß § 43 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI). Nach den medizinischen Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sei der Kläger noch in der Lage, mindestens sechs Stunden täglich tätig zu sein. Diesbezüglich bestehe bei allen Gutachtern Einigkeit. Soweit Prof. Dr. S bei der von ihm vorgeschlagenen Nettoarbeitszeit von sechs Stunden täglich eine Pause von 60 Minuten für erforderlich halte, enthalte sein Gutachten hierfür keine ausreichende Begründung. Die festgestellten Leiden bedingten keine Notwendigkeit der Einlegung von zweimal 30 Minuten Pause.
Im Berufungsverfahren hat der Tierarzt Dr. D auf Aufforderung des Senats mit Schreiben vom 4. August 2008 Folgendes mitgeteilt: Der Kläger sei aus humanen Gründen weiterhin bei ihm beschäftigt. Eine Weiterbeschäftigung sei allerdings nach der aus Altersgründen von ihm geplanten Praxisübergabe ausgeschlossen. Die derzeitige Arbeitszeit des Klägers betrage wöchentlich 12 Stunden, die allerdings vom Kläger oft aus gesundheitlichen Gründen nicht eingehalten werden könne. Der Kläger sei bis Monatsende Juli 2008 bereits ca. 100 Tage krankgeschrieben gewesen. Mit Schreiben vom 16. Januar 2009 teilte Dr. D mit, dass der Kläger seit 4. August 2008 die Praxis nicht mehr betreten habe. Der Senat hat den Arbeitsmediziner Prof. Dr. G als Sachverständigen eingesetzt. Dieser Arzt hat in seinem Gutachten vom 25. Januar 2010 (Untersuchung am 6. Oktober 2009) mitgeteilt, der Kläger könne auch unter Beachtung aufgezeigter qualitativer Einschränkungen nur noch weniger als drei Stunden täglich arbeiten. Seit der letzten gutachterlichen Beurteilung aus dem Jahr 2006 sei eine deutliche Progredienz der HIV-Infektion eingetreten. Von vorangegangenen Untersuchungen sei in Bezug auf klinische Untersuchungsergebnisse abzuweichen. So sei das Körpergewicht des Klägers nunmehr reduziert und es hätte sich Hinweise auf eine Polyneuropathie gefunden. Auf Anfrage des Senats, „ob die im Gutachten von Prof. Dr. S noch für möglich gehaltenen Belastungen des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit Leistungsabstürze für welche Zeiträume verursacht hätten und ob diese durch medizinische Behandlung umkehrbar gewesen wären“ (vgl. den gleich lautenden Beweisantrag des Klägers im Schriftsatz vom 9. August 2010), hat Prof. Dr. G mit gutachterlicher Stellungnahme vom 26. August 2010 ausgeführt: Es sei davon auszugehen, dass die für möglich gehaltene Arbeitsbelastung zu dem Zeitpunkt der Erstellung des Gutachtens von Prof. Dr. S adäquat zu der noch vorhandenen Leistungsfähigkeit gestanden habe, ohne dass eine Gefährdung für die Gesundheit und das Wohlergehen des Klägers zu befürchten gewesen sei. Ein eindeutiger Zeitpunkt, an dem es bei dem Kläger zu einer sprunghaften Verschlechterung der Leistungsfähigkeit gekommen sei, lasse sich nicht eruieren. Nachdem die Beklagte mit Schriftsatz vom 14. Juli 2010 einen Anspruch des Klägers auf Rente wegen voller EM ab 1. Januar 2007 sowie auf Übernahme der Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Klägers anerkannt und der Kläger dieses Teilanerkenntnis nicht angenommen hatte, hat der Senat mit Beschluss vom 22. Dezember 2010 – L 16 R 990/07 - unter Zurückweisung der Berufung im Übrigen die Beklagte verpflichtet, dem Kläger ab 1. Januar 2007 Rente wegen voller EM zu gewähren. Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Beschluss vom 11. Mai 2011 diesen Beschluss aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Mit Schreiben vom 29. November 2011 ist dem Senat eine Zweitschrift des Rentenbescheides vom 27. Oktober 2010, mit dem dem Kläger Rente wegen voller EM ab 1. Januar 2007 bis längstens 28. Februar 2030 bewilligt worden war, von der Beklagten übersandt worden. Nach diesem Rentenbescheid ist die Rente in Höhe eines Zahlbetrages von monatlich 542, 67 € ab 1. September 2009 zu zahlen; für die die Zeit davor ergibt sich unter Berücksichtigung der individuellen Hinzuverdienstgrenzen kein Zahlungsanspruch.
Der Kläger trägt vor: Das Gutachten von Prof. Dr. S vom 30. September 2006 habe bereits ausgereicht, um Erwerbsunfähigkeit ab März 2004 festzustellen. Insbesondere die hier entgegen den Arbeitszeitvorschriften erforderlichen zusätzlichen zwei Pausen von je 30 Minuten in zweimaliger Unterbrechung der Arbeitszeit gehörten nicht mehr zu den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes. Der Beklagten sei die Berufung auf § 43 Abs. 3 SGB VI verschlossen, denn die gesetzliche Formulierung „mindestens 6 Stunden“ stelle ein Mehr gegenüber der im Gutachten vom 30. September 2006 genannten höchstens 6 Stunden dar.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. März 2007 zu ändern und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Juni 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.Dezember 2004 und unter Änderung des Bescheides vom 27. Oktober 2010 zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen voller Erwerbsminderung für die Zeit ab 1. März 2004 zu gewähren,
ferner sämtliche Kosten des Rechtstreits einschließlich der Kosten des Verfahrens vor dem Bundessozialgericht der Beklagten aufzuerlegen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen und die Klage gegen den Bescheid vom 27. Oktober 2010 abzuweisen.
Nachdem der Kläger mit Schreiben seiner Prozessbevollmächtigten vom 6. Juli 2011 die Anhörung der Sachverständigen Prof. Dr. S und Prof. Dr. G angeregt hatte, hat der vom Senat um eine ergänzende schriftliche Stellungnahme ersuchte Prof. Dr. S mit Schreiben vom 29. Oktober 2011 mitgeteilt, er sei krankheitsbedingt hierzu nicht in der Lage. Prof. Dr. G hat, nachdem er auf eine entsprechende Anfrage des Senats zunächst mit Schreiben vom 25. November 2011 um eine Präzisierung der Fragestellung gebeten hatte, auf die Frage, ob unter Berücksichtigung ausschließlich der medizinischen Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. S - ohne Rücksicht auf spätere neue Feststellungen im Berufungsverfahren – medizinisch wissenschaftlich das Ergebnis trägt, dass dem Kläger ab Antragstellung nur Arbeitsschichten von netto höchstens 6 Stunden bei mindestens 2 Unterbrechungen von je 30 Minuten Pause abverlangt werden können, mit Schreiben vom 26. Januar 2012 mitgeteilt, dass die von Prof. Dr. S erhobenen Befunde und daraus getroffenen Feststellungen „korrekt“ seien.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen, wegen der medizinischen Feststellungen auf die zum Verfahren eingeholten Befundberichte und die Sachverständigengutachten bzw. ergänzenden Stellungnahmen von Dr. S, Prof. Dr. S und Prof. Dr. G verwiesen.
Die Gerichtsakten (3 Bände sowie ein 1 Band Beschwerdeakten B 5 R 34/11 B) und die Verwaltungsakten der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Soweit der Kläger Rente wegen voller EM für den Zeitraum ab 1. Januar 2007 begehrt, ist die Klage unzulässig und mithin abzuweisen. Nachdem die Beklagte den Anspruch des Klägers insoweit anerkannt und ihm mit dem gemäß den §§ 96, 153 Abs. 1 SGG zum Gegenstand des Berufungsverfahrens gewordenen Bescheid vom 27. Oktober 2010 Rente wegen voller EM ab 1. Januar 2007 bewilligt hat, besteht insoweit für die vom Kläger gleichwohl aufrechterhaltene Klage kein Rechtsschutzbedürfnis mehr.
Soweit der Kläger für die Zeit vom 1. März 2004 bis 31. Dezember 2006 Rente wegen voller EM begehrt, ist die Berufung, mit der dieser seine statthafte kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage im Sinne von § 54 Abs. 4 SGG insoweit weiter verfolgt, unbegründet. Gleiches gilt für die Klage gegen den Bescheid vom 27. Oktober 2010, soweit sich der Kläger gegen den darin verlautbarten Rentenbeginn wendet. Der Kläger hat aufgrund seines im März 2004 gestellten Rentenantrages für die Zeit vom 1. März 2004 bis 31. Dezember 2006 keinen Anspruch auf Rente wegen voller EM (§ 43 Abs. 2 SGB VI) gegen die Beklagte. Denn es kann bei der erforderlichen Gesamtbewertung des Verfahrensergebnisses nicht zur vollen Überzeugung des Senats festgestellt werden, dass der Kläger in diesem Zeitraum (voll) erwerbsgemindert war.
Die Vorschrift des § 43 Abs. 2 SGB VI setzt zunächst die Erfüllung der allgemeinen Wartezeit (vgl. §§ 50 Abs. 1, 51 Abs. 1 SGB VI) sowie das Vorhandensein von drei Jahren mit Pflichtbeiträgen für eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der EM voraus (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 1 Nrn. 2 und 3 SGB VI). Darüber hinaus muss volle EM vorliegen (vgl. § 43 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB VI).
Voll erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Für die Feststellung des danach erforderlichen quantitativ reduzierten Restleistungsvermögens des Klägers auf unter drei Stunden täglich fehlt es nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens für den Zeitraum vom 1. März 2004 bis 31. Dezember 2006 an jeglicher tatsächlichen Grundlage. Denn nach der übereinstimmenden Leistungsbeurteilung sämtlicher Gutachter im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren verfügte der Kläger in diesem Zeitraum noch über ein Restleistungsvermögen von mindestens sechs Stunden, so dass ausgehend von diesen Leistungsbeurteilungen sogar ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser EM, der nach § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI ein auf unter sechs Stunden täglich eingeschränktes Restleistungsvermögen voraussetzt, auszuschließen ist. Dies gilt entgegen der Auffassung des Klägers auch für die Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. S, der ausdrücklich ein sechs Stunden umfassendes tägliches Leistungsvermögen bejahte. Soweit Prof. Dr. G in seinem Gutachten vom 25. Januar 2010 festgestellt hat, dass der Kläger nur noch weniger als drei Stunden täglich arbeiten könne, beruhte diese Beurteilung auf der Untersuchung vom 6. Oktober 2009. Prof. Dr. G sah sich dabei nicht in der Lage, diese sich aus einer deutlichen Progredienz der HIV-Infektion seit der letzten gutachterlichen Beurteilung aus dem Jahr 2006 ergebende Verminderung des quantitativen Leistungsvermögens zeitlich zuzuordnen (vgl. S. 32 f. des Gutachtens). Dementsprechend ließ sich – worauf Prof. Dr. G in seiner ergänzenden gutachterlichen Stellungnahme vom 26. August 2010 nochmals hingewiesen hat - kein eindeutiger Zeitpunkt eruieren, an dem es bei dem Kläger zu einer sprunghaften Verschlechterung seiner Leistungsfähigkeit gekommen war. In Übereinstimmung hiermit hat Prof. Dr. G auch in seiner Stellungnahme vom 26. Januar 2012 darauf hingewiesen, dass Leistungsverschlechterungen bei Patienten mit HIV-Infektion inter- und intraindividuell nicht linear, sondern durch das Auftreten von Komplikationen auch sprunghaft sein können.
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens hat sich dementsprechend eine Leistungsminderung auf unter sechs Stunden oder gar auf unter drei Stunden täglich für den vor der Untersuchung des Klägers am 6. Oktober 2009 durch Prof. Dr. G liegenden Zeitraum im erforderlichen Vollbeweis zur Überzeugung des Senats nicht feststellen lassen.
Es kann ferner nicht festgestellt werden, dass das mindestens sechsstündige Restleistungsvermögen des Klägers im Zeitraum vom 1. März 2004 bis 31. Dezember 2006 derart reduziert war, dass es einem Arbeitseinsatz des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter betriebsüblichen Bedingungen entgegen gestanden hätte (vgl. § 43 Abs. 3 SGB VI). Der Kläger konnte nach den von den Sachverständigen Dr. S und Prof. Dr. S getroffenen Feststellungen wegen seiner Leiden jedenfalls noch geistig und körperlich leichte Tätigkeiten in geschlossenen Räumen im spontan möglichen Wechsel der Haltungsarten - vorzugsweise im Sitzen - mit Heben und Tragen von Lasten bis 7,5 kg verrichten. Ausgeschlossen waren Arbeiten unter Zeitdruck, in Nachtschicht bzw. außerhalb der „Regelschicht“ von 7 bis 18 Uhr, auf Leitern und Gerüsten, in überwiegenden Zwangshaltungen und mit häufigem Bücken, Kriechen oder Hocken.
Bei Beachtung dieser qualitativen Leistungseinschränkungen bestand aber weder eine spezifische Leistungsbehinderung noch lag eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor (vgl. BSG, Urteil vom 18. Februar 1998 - B 5/4 RA 58/97 R - juris), was die Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit erfordert hätte. Es lagen zwar bei dem Kläger Leistungseinschränkungen vor, die teilweise über den Rahmen dessen hinaus gehen, was inhaltlich vom Begriff der körperlich leichten Arbeiten umfasst wird. Die bei dem Kläger festgestellten qualitativen Leistungseinschränkungen waren aber in dem in Rede stehenden Zeitraum nicht geeignet, das Feld körperlich leichter Arbeiten zusätzlich wesentlich einzuengen. Denn die vorliegenden Leistungseinschränkungen, wie der Ausschluss von Arbeiten in Zwangshaltungen und mit einseitiger körperlicher Belastung, unter Zeitdruck, auf Leitern und Gerüsten sowie in Nachtschichten, zählen nicht zu den ungewöhnlichen Leistungseinschränkungen und schon gar nicht zu den schweren spezifischen Leistungsbehinderungen (vgl. dazu die auf die Vorlagebeschlüsse des 13. Senats ergangenen Beschlüsse des Großen Senats des BSG vom 19. Dezember 1996 - GS 1-4/95 – GS 2/95 = SozR 3 - 2600 § 44 Nr. 8; BSG, Urteil vom 20. Oktober 2004 – B 5 RJ 48/03 R - juris). Auch die Beschränkung auf Lastgewichte bis zu 7,5 kg erscheint nicht als geeignet, das Feld leichter körperlicher Arbeiten zusätzlich wesentlich einzuengen. Das Gleiche galt hinsichtlich der geistigen Fähigkeiten der Klägers, die keine besonderen Schwierigkeiten hinsichtlich der Gewöhnung und Anpassung an einen neuen Arbeitsplatz mit einfachen geistigen Tätigkeiten erkennen ließen; nur eine besondere Einschränkung der Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit, die vorliegend nicht erkennbar ist, hätte aber eine spezifische schwere Leistungsbehinderung darstellen können (vgl. BSG SozR 2200 § 1246 Nr. 104, 117). Für dem Kläger ohnehin nur zumutbare leichte geistige Tätigkeiten war die Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit aber nicht wesentlich eingeschränkt. Insoweit hatte Dr. S lediglich eine gewisse Beeinträchtigung der Auffassungsgabe, der Lern- und Merkfähigkeit, des Gedächtnisses, der Konzentrationsfähigkeit, der Entschluss- und Verantwortungsfähigkeit sowie der Kontakt-, Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit aufgrund der depressiven Reaktionslage angenommen. Nach Auffassung von Prof. Dr. S waren derartige Beeinträchtigungen als Folge der HIV-Infektion freilich erst in der Zukunft nicht auszuschließen und lagen mithin zum damaligen Zeitpunkt (noch) nicht vor. Aus dem erstmalig im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren von Prof. Dr. S aufgestellten Erfordernis zusätzlicher Arbeitspausen ergibt sich ebenfalls keine spezifische schwere Leistungsbehinderung des Klägers mit entsprechender Benennungspflicht, und zwar schon deshalb nicht, weil die entsprechende Einschätzung dieses Sachverständigen, wonach der Kläger eine Pausenzeit von 2 x 30 Minuten benötige, nicht nachvollziehbar aus den erhobenen objektivierbaren Befunden hergeleitet werden kann und daher nicht überzeugend ist. Insoweit weist der Sachverständige – offenbar auf der Grundlage entsprechender Angaben des Klägers, dem er allerdings eine „mäßige Verdeutlichungstendenz“ bescheinigt - lediglich auf die „offensichtlich“ mit verstärktem Ermüdungsgefühl einhergehende HIV-Infektion hin, ohne diese Feststellung durch Hinweise auf eine eigene oder fremde Diagnostik zu belegen. Dies überzeugt insbesondere deshalb nicht, weil Prof. Dr. S zuvor (S. 14 des Gutachtens) mitgeteilt hatte, dass sich im Rahmen seiner ambulanten Untersuchung des Klägers keine neuen medizinischen Ergebnisse ergeben hätten. Auch der Sachverständige Prof. Dr. G bezieht sich in seiner Stellungnahme vom 26. Januar 2012 nicht auf objektivierbare Befunde hinsichtlich der Pausenregelung, sondern bescheinigt Prof. Dr. S lediglich pauschal, dass die von ihm getroffenen Feststellungen „korrekt“ seien. Ebenso wie der Sachverständige Dr. S in seiner Stellungnahme vom 23. November 2006 kann der Senat keinen objektivierbaren Anlass dafür erkennen, dass das verbliebene Leistungsvermögen des Klägers aufgrund dessen Angaben zur Ermüdungsneigung im Sinne einer gebotenen Pausenzeit von 2 x 30 Minuten einzuschränken war. Der Senat sieht sich ferner auch nicht dazu gedrängt, die Sachverständigen Prof. Dr. S und Prof. Dr. G (erneut) ergänzend zu hören. Prof. Dr. S hat dem Senat mit Schreiben vom 29. Oktober 2011 mitgeteilt, dass er wegen wiederholter Erkrankungen nicht in der Lage sei, sich gutachterlich zu äußern. Prof. Dr. G hat dem Senat mit Schreiben vom 26. Januar 2012 die ihm gestellte Frage beantwortet. Gesichtspunkte, die eine weitergehende Befragung bzw. Anhörung dieses Sachverständigen erforderlich machen könnten, hat der Kläger weder aufgezeigt noch sind solche sonst ersichtlich. Dahinstehen kann nach alledem, ob iS der Rechtsprechung des BSG die Voraussetzungen einer Benennungspflicht überhaupt erfüllt gewesen wären, was (nur) dann der Fall sein kann, wenn – was bei dem Kläger nicht festgestellt werden kann - feststeht, dass der auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbare Versicherte iVm weiteren Einschränkungen zusätzliche Arbeitspausen von mindestens zweimal 15 Minuten einlegen muss (vgl. BSG, Urteil vom 6. Juni 1986 – 5b RJ 42/85 = SozR 2200 § 1246 Nr. 136; BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003 – B 5 RJ 64/02 R = SozR 4-2600 § 44 Nr. 1; BSG, Urteil vom 20. Oktober 2004 – B 5 RJ 48/03 R -).
Die bei dem Kläger für den hier maßgeblichen Zeitraum im erforderlichen Vollbeweis festgestellten – vorstehend im Einzelnen dargelegten - qualitativen Leistungseinschränkungen betreffen lediglich einen kleineren Teilbereich des allgemeinen Arbeitsmarktes, lassen aber ein weites Feld von Beschäftigungsmöglichkeiten unberührt. So hätte der Kläger mit dem ihm verbliebenen Leistungsvermögen etwa noch leichte Bürotätigkeiten verrichten können. Das Gleiche gilt für Sortier- und Verpackungstätigkeiten oder die Tätigkeit eines – einfachen – Pförtners (vgl. S. 10 des Gutachtens von Dr. S). Im Hinblick darauf, dass nach der Leistungsbeurteilung der gerichtlichen Sachverständigen jedenfalls für derart leichte Tätigkeiten keine relevanten Einschränkungen bezüglich der Entschluss-, Verantwortungs- und Konzentrationsfähigkeit, der Auffassungsgabe und der Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit bestanden, hätte der Kläger auch noch derart einfache Tätigkeiten nach einer Zeit der Einarbeitung bis zu drei Monaten vollwertig verrichten können. Da nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens somit eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen oder eine spezifische schwere Leistungsbehinderung im noch streitigen Zeitraum nicht vorlagen, war die konkrete Bezeichnung einer Verweisungstätigkeit nicht erforderlich. Die für den Kläger im maßgeblichen Zeitraum noch in Betracht gekommenen Tätigkeitsfelder sind bereits aufgezeigt worden.
Da im Ergebnis zur vollen Überzeugung des Senats nicht festgestellt werden kann, dass der Kläger im Zeitraum vom 1. März 2004 bis 31. Dezember 2006 wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande gewesen war, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein und mithin nicht einmal die Voraussetzungen des § 43 Abs. 1 Satz 2 SGB VI für die Gewährung einer Rente wegen teilweiser EM gegeben sind, steht dem Kläger für den angeführten Zeitraum weder ein Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen voller EM nach § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI noch auf der Grundlage der Rechtsprechung zur „konkreten Betrachtungsweise“ bei einer Verschlossenheit des Teilzeitarbeitsmarktes (sog. Arbeitsmarktrente) zu (vgl. BSG SozR 3-2600 § 44 Nr. 8 S. 27 f). Denn die Gewährung einer Rente wegen voller EM als „Arbeitsmarktrente“ kommt nur in Betracht, wenn – neben weiteren Voraussetzungen - ein tägliches Leistungsvermögen in einem Umfang von mindestens drei bis unter sechs Stunden vorliegt (zur Beibehaltung der konkreten Betrachtungsweise im neuen EM-Rentenrecht vgl. BSG, Urteil vom 5. Oktober 2005 – B 5 RJ 6/05 R = SozR 4-2600 § 43 Nr. 5).
Darauf, ob der Kläger einen seinem verbliebenen Leistungsvermögen entsprechenden Arbeitsplatz im noch streitigen Zeitraum tatsächlich erhalten hätte, kommt es nicht an. Denn die jeweilige Arbeitsmarktlage, die für leistungsgeminderte Arbeitnehmer wie den Kläger seinerzeit kaum entsprechende Arbeitsplatzangebote zur Verfügung gestellt hat, ist für die Feststellung von EM - wie der Gesetzgeber klargestellt hat - unerheblich (vgl. § 43 Abs. 3 SGB VI).
Die das Kostenteilanerkenntnis der Beklagten berücksichtigende und das Revisionsverfahren einschließende Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.