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Entscheidung S 40 AS 1399/12


Metadaten

Gericht SG Potsdam 40. Kammer Entscheidungsdatum 21.08.2012
Aktenzeichen S 40 AS 1399/12 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 63 Abs 2 SGB 10

Tenor

1. Die Beklagte wird unter entsprechender Abänderung des Bescheides vom 23. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2012 verurteilt, die Zuziehung des Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren W …./.. für notwendig zu erklären.

2. Die Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Kosten zu erstatten.

3. Die Berufung wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt eine positive Zuziehungsentscheidung hinsichtlich des anwaltlichen Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren W…./...

Die 1974 geborene Klägerin ist ursprünglich nigerianischer Staatsangehörigkeit. Sie ist Analphabetin und der deutschen Sprache nicht mächtig. Mit Datum 29. November 2011 versandte die Beklagte an die Klägerin eine Mahnung über einen offenen Betrag in Höhe von insgesamt 1.154,36 Euro und setzte darin auch Mahngebühren in Höhe von 6,05 Euro fest. Gleichzeitig forderte sie die Klägerin auf, den Betrag in Höhe von insgesamt 1.160,41 Euro innerhalb von einer Woche zu überweisen. Sollte die Zahlung ausbleiben, drohte die Beklagte mit der zwangsweisen Einziehung der Forderung. Der Bescheid war hinsichtlich der Festsetzung der Mahngebühren mit einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung versehen.

Mit Schreiben vom 02. Dezember 2011 legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in ihrem Namen hinsichtlich der Festsetzung der Mahngebühren im Bescheid vom 29. November 2011 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, die Mahnung sei in rechtswidriger Weise erfolgt, weil die Forderung nicht fällig sei. Gegen die der Mahnung zugrunde gelegten Aufhebungs- und Erstattungsbescheide sei mit Widerspruch bzw. Klage vorgegangen, so dass die aufschiebende Wirkung der Rechtsmittel zu beachten sei.

Mit Bescheid vom 23. Februar 2012 stornierte die Beklagte die Mahngebühr und half damit dem Widerspruch in vollem Umfang ab. Hinsichtlich der Kosten entschied sie, dass die im Widerspruchsverfahren zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen Aufwendungen auf Antrag erstattet würden und dass die Zuziehung eines Bevollmächtigten nicht als notwendig anerkannt werde im Sinne des § 63 Abs. 2 SGB X. Zur Begründung führte sie diesbezüglich aus, dass es der Klägerin zuzumuten gewesen sei, das Verfahren selbst zu führen. Streitgegenständlich sei die Erhebung einer Mahngebühr in Höhe von 6,05 Euro gewesen. Es sei insgesamt nicht um die rechtliche Würdigung eines komplexen oder schwierigen Sachverhalts gegangen. Der Klägerin sei es möglich und zumutbar gewesen, die Beklagte darauf hinzuweisen, dass die Forderung bestritten werde und gegen den Grundlagenbescheid Klage erhoben worden sei. Die Rechtslage sei nicht schwierig, da es in der Rechtsprechung geklärt sei, dass eine Klage gegen einen Erstattungsbescheid grundsätzlich aufschiebende Wirkung habe und eine Einziehung der Erstattungsforderung einschließlich der Festsetzung von Mahngebühren bei Einlegung eines Rechtsbehelfs nicht rechtmäßig sei. Es sei der Klägerin auch schon deshalb zuzumuten gewesen, das Verfahren selbst zu führen, weil sich ein rechtsunkundiger, verständiger Bürger vom Bildungs- und Erkenntnisstand der Klägerin in einer solchen Angelegenheit eines Rechtsanwalts nicht bedient hätte. Auch im Hinblick auf das geringe wirtschaftliche Risiko habe von der Klägerin erwartet werden können, das Verfahren selbst zu führen.

Hiergegen hat die Klägerin am 01. März 2012 Widerspruch eingelegt. Sie verweist darauf, dass trotz ständiger Rechtsprechung und Kommentierung die aufschiebende Wirkung des gegen den der Mahnung zugrunde liegenden Aufhebungs- und Erstattungsbescheid eingelegten Rechtsbehelfs außer Acht gelassen worden sei. Auch im Hinblick auf die Gesamtforderung in Höhe von 1.160,41 Euro habe sich das Einschalten anwaltlichen Beistands aufgedrängt. Gegen die gängige Praxis der Beklagten, ständig nicht vollstreckbare Forderungen anzumahnen und mit Zwangsvollstreckungsmaßnahmen zu drohen, könne sich der Bürger nicht ausreichend selbst wehren. Weiter verweist sie auf ein entsprechendes Urteil des Bayrischen LSG vom 12. Mai 2010 (L 16 AS 829/09).

Die Beklagte hat den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 2012 als unbegründet zurückgewiesen. Sie wiederholt und vertieft die Gründe der Ausgangsentscheidung und verweist zusätzlich darauf, dass ein Bemittelter in der Lage eines Unbemittelten im vorliegenden Fall vernünftiger Weise einen Rechtsanwalt mit der Wahrnehmung seiner Interessen nicht beauftragt haben würde. Darüber hinaus seien die relevanten Rechtsfragen, wie auch die Einordnung der Mahngebührenfestsetzung als Verwaltungsakt und die Zuständigkeit hierfür durch das Urteil des Bundessozialgerichtes vom 26. Mai 2011 - B 14 AS 54/10 R - geklärt. Damit handele es sich nicht mehr um schwierige und ungeklärte Rechtsfragen.

Die Klägerin hat am 31. Mai 2012 Klage erhoben. Sie wiederholt und vertieft im Wesentlichen die Begründung ihres Widerspruchs und führt ergänzend an, dass selbst mit den Behörden erfahrene Mandanten ihres Prozessbevollmächtigten ohne anwaltliche Hilfe aufgrund ihres eigenen Intervenierens bei der Beklagten nichts erreicht hätten.

Sie beantragt schriftsätzlich auch unter Berücksichtigung des Vorbringens im Erörterungstermin sinngemäß,

die Beklagte zu verurteilen, unter Abänderung des Bescheides vom 23. Februar 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2012 zu erklären, dass die Zuziehung des anwaltlichen Bevollmächtigten im Widerspruchsverfahren W …./.. notwendig war.

Die Beklagt beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Sie bezieht sich auf die Begründung der angegriffenen Bescheide.

Im Erörterungstermin der Sach- und Rechtslage am 21. August 2012 wurden die Beteiligten zu einer beabsichtigten Entscheidung des Gerichts durch Gerichtsbescheid angehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten zum Verfahren W …./.., W …./.. verwiesen, die - soweit maßgeblich - Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Das Gericht kann ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 105 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Die Beteiligten sind zuvor gehört worden.

Die vorliegend erhobene kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage im Sinne des § 54 Abs. 1 SGG ist statthaft und auch im Übrigen zulässig. Sie ist auch begründet. Die Ablehnung der Erklärung der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Prozessbevollmächtigten für das Widerspruchsverfahren W …./.. durch die Beklagte ist rechtswidrig und die Klägerin dadurch beschwert (§ 54 Abs. 2 SGG).

Die Klägerin hat einen Anspruch auf die begehrte positive Hinzuziehungsentscheidung aus § 63 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X).

Gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten, soweit der Widerspruch erfolgreich ist. Die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren sind nach § 63 Abs. 2 SGB X erstattungsfähig, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war.

Die Beklagte hat dem Widerspruch der Klägerin gegen die Festsetzung der Mahngebühr in der Mahnung vom 29. November 2011 mit Bescheid vom 23. Februar 2012 durch die Stornierung der Mahngebühr abgeholfen, so dass der Widerspruch erfolgreich war. Die Aufwendungen der Klägerin in Gestalt der Kosten ihres Rechtsanwalts waren auch im Sinne des § 63 Abs. 2 SGB X dem Grunde nach notwendig. Notwendig ist die Zuziehung nach höchstrichterlicher Rechtsprechung dann, wenn es einem Beteiligten nach seinen persönlichen Verhältnissen sowie wegen der Schwierigkeit der Sache nicht zuzumuten ist, das Vorverfahren selbst zu führen (vgl. Bundesverfassungsgericht - BverfG -, Beschluss vom 11.05.2009 - 1 BvR 1517/08 - m. w. N.) bzw. dann, wenn der Beteiligte es für erforderlich halten durfte, im Vorverfahren durch einen Rechtsanwalt unterstützt zu werden (so genannte ex-ante Sicht) und dann einen Rechtsanwalt zugezogen hat (vgl. u. a. BSG, Beschluss vom 29.09.1999 - B 6 KA 30/99 B -). Abzustellen ist auf den Einzelfall, wobei entscheidend die individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten des Klägers sind. Die Notwendigkeit ist in der Regel zu bejahen, weil der Bürger nur in Ausnahmefällen in der Lage sein wird, seine Rechte gegenüber der Verwaltung ausreichend zu wahren (vgl. auch Roos in: von Wulffen, SGB X, 7. Auflage, München 2010, § 63 Rd.-Nr. 26 m. w. N.). Im Einzelfall ist dabei maßgeblich auf die rechtliche und tatsächliche Überschaubarkeit der Sache, die Bedeutung der Rechtssache für den Widerspruchsführer, die persönlichen Umstände des Widerspruchsführers sowie darauf abzustellen, ob sich die Begründetheit des Widerspruchs anhand von Tatsachenfragen oder schwierigen Rechtsfragen entscheidet (vgl. auch VG Göttingen, Urteil vom 30.09.2004 - 2 A 54/03 -, zitiert nach juris.).

Vorliegend war es der Klägerin schon aufgrund ihrer individuellen Fähigkeiten nicht zuzumuten, das Verfahren alleine zu betreiben. Dies steht aufgrund der Tatsache, dass die Klägerin Analphabetin und der deutsche Sprache nicht mächtig ist sowie auch aufgrund des individuellen Eindrucks, den das Gericht von der Klägerin in dem Erörterungstermin in einem vorangegangenen Parallelverfahren gewinnen konnte, zur Überzeugung des Gerichts fest. Weiterhin waren zu berücksichtigen, die Unübersichtlichkeit der Sache insgesamt, die sich bereits aus der auf der Rückseite der streitgegenständlichen Mahnung erfolgten Forderungsaufstellung ergibt sowie die Tatsache, dass selbst im Bereich der Beklagten die aufschiebende Wirkung von Widerspruch und Klage gegen die ursprünglichen Bescheide regelmäßig nicht beachtet zu werden scheint. Die rechtlichen Gegebenheiten, die sämtlich höchstrichterlich geklärt werden mussten, sind selbst für einen „Normalbürger“ nicht ohne weiteres zu übersehen. Vorliegend war es aufgrund der dargestellten individuellen Fähigkeiten der Klägerin erst recht notwendig, um die verfassungsrechtlich in Artikel 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) verbürgte Rechtsschutzgleichheit und den Grundsatz der Waffengleichheit zwischen den Beteiligten, nämlich einer rechtskundig vertretenen Behörde und der Klägerin, herzustellen notwendig, einen Rechtsanwalt hinzuzuziehen (vgl. zu allem auch: BVerfG, Beschluss vom 24.03.2011 - 1 BVR 1737/10 -, zitiert nach juris.). Unstatthaft ist nach der oben zitierten Entscheidung insbesondere in Fällen wie diesem, eine ausschließliche Beurteilung des Verhältnisses von Streitwert und Kostenrisiko, worauf auch die Beklagte maßgeblich abstellt. Insoweit hält es das Bundesverfassungsgericht keinesfalls für fern liegend, dass auch ein Bemittelter verhältnismäßig hohe Rechtsanwaltskosten nicht scheut, wenn er mit einem Obsiegen und der Erstattung seiner Aufwendungen rechnet. Soweit die Beklagte der Klägerin die Fähigkeit zuweist, zutreffende eigene rechtliche Wertungen hinsichtlich der aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Klage gegen Erstattungsbescheide als auch hinsichtlich der Einordnung von Mahngebühren vorzunehmen, ist dies für das Gericht nicht nachvollziehbar. Vielmehr besteht vorliegend ein offensichtliches und grobes Ungleichgewicht zwischen der Behörde und der Klägerin hinsichtlich des Kenntnisstandes und der Fähigkeiten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 105 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit § 193 SGG.

Die Nichtzulassung der Berufung folgt aus § 105 Abs. 1 Satz 3, Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG. Der Wert des Beschwerdegegenstandes übersteigt 750,00 Euro nicht. Zulassungsgründe im Sinne des § 144 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich. Insbesondere erging die Entscheidung unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls.