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Soziales Entschädigungsrecht; Beschädigtenversorgung; Schädigungsfolge; Impfschaden; Impfkomplikation; (Impf-)Poliomyelitis; Schluckimpfung; Lebendimpfstoff Cox-Vakzine trivalent; Kausalität; neuester medizinischer Erkenntnisstand; spinale/neurale Muskelatrophie


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 11. Senat Entscheidungsdatum 28.04.2011
Aktenzeichen L 11 VJ 28/08 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 60 Abs 1 IfSG, § 51 Abs 1 BSeuchG, § 15 S 1 KOVVfG

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. Juni 2006 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten haben die Beteiligten einander auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt im Überprüfungsverfahren nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) die Anerkennung einer Muskelatrophie als Impfschaden und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung.

Der 1948 geborene Kläger ist Studienrat und wurde zum 1. Juli 1983 wegen Dienstunfähigkeit in den Ruhestand versetzt. Bis zu seiner Volljährigkeit stand er unter der Amtsvormundschaft des Bezirksamtes S Ausweislich der Bescheinigung des Bezirksamtes S erhielt der Kläger am 13. Mai 1960 den Lebendimpfstoff Cox-Vakzine trivalent als Vorbeugungsmittel gegen Kinderlähmung. Die Impfung fand in Berlin (West) im Rahmen einer von der Senatsverwaltung für das Gesundheitswesen veranlassten Impfaktion in der Zeit vom 11. bis zum 20. Mai 1960 statt. Insgesamt wurden etwa 250.000 Personen im Alter zwischen drei Monaten und 20 Jahren und 25.000 bis 30.000 Personen im Alter von über 20 Jahren geimpft. Der verwendete Schluckimpfstoff der Firma L. war von den USA kostenlos zur Verfügung gestellt worden. Der Impfstoff war bis dahin in Deutschland nicht erprobt. Nach der Impfaktion kam es in mehr als 40 Fällen zu Erkrankungen, die in der Folgezeit Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung und der wissenschaftlichen Diskussion waren. Aufgrund der Vorfälle wurde der Impfstoff in Deutschland nicht mehr verwendet. Ausweislich der Impfbescheinigung der Schulgesundheitsfürsorgestelle B nahm der Kläger am 3. Mai 1962 an der Schluckimpfung gegen den Typ I der übertragbaren Kinderlähmung teil. Dabei wurde ein in der ehemaligen DDR bereits zuvor verwendeter und in der Bundesrepublik Deutschland seit 1962 gebräuchlicher Lebendimpfstoff nach Sabin verwendet.

In der Zeit vom 7. Januar 1964 bis 5. Februar 1964 befand sich der Kläger zur stationären Behandlung in der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der F In dem ärztlichen Entlassungsbericht vom 10. Februar 1964 ist ausgeführt: Seit einem Jahr bemerke der Kläger eine Beeinträchtigung beim Laufen; der Gang sei unbeholfen. Die körperliche Untersuchung habe eine Atrophie der Unterschenkel- und Fußmuskulatur beiderseits mit einer Herabsetzung der groben Kraft der Fußmuskulatur ergeben. Die elektromyographische Ableitung habe eindeutig auf das Vorliegen einer neurogenen Parese sowohl in der Wadenmuskulatur als auch in der Kniestreckermuskulatur hingewiesen. Die CPK im Serum sei mit 3,3 E/ml leicht erhöht gewesen. Die Komplementsbindungsreaktionen auf Poliomyelitis seien negativ ausgefallen. Im psychischen Bereich sei der Kläger unauffällig gewesen. Die klinischen sowie die erhobenen Laborbefunde sprächen eindeutig für das Vorliegen einer spinalen Muskelatrophie (SMA). Ob die Symptomatologie auf einen chronischen Entzündungsprozess bzw. stattgehabten Entzündungsprozess oder auf ein degeneratives Leiden im Sinne einer progressiven SMA zurückzuführen sei, habe nicht geklärt werden können. In einem ärztlichen Schreiben der genannten Klinik an den Amtsvormund des Klägers vom 16. März 1965 ist ausgeführt: Auch nach erneuter Durchführung des Neutralisationstests und Kontrolle der Komplementsbindungsreaktionen sei eine floride oder durchgemachte Poliomyelitis nicht nachzuweisen. Aufgrund aller vorliegenden Befunde und unter Berücksichtigung der übersandten Impfbescheinigungen sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen, dass bei dem Kläger keine Poliomyelitis bestehe und auch kein Impfschaden nach der 1962 durchgeführten oralen Poliomyelitisschluckimpfung gegen den Typ I nachzuweisen sei. Bezüglich der festgestellten Titer-Erhöhung des Typs II zeigten die neueren Untersuchungen aus dem serologischen Labor der Berliner Medizinaluntersuchungsämter und des Robert Koch-Instituts, dass solche Titer auch ohne eine Infektion möglich seien. Theoretisch sei denkbar, dass unabhängig von der Schluckimpfung und von dem bestehenden neurologischen Leiden eine latente Infektion Ende 1963 bzw. Anfang 1964 erfolgt sei, da in dieser Zeit vereinzelt der Typ II in Berlin zu beobachten gewesen sei. In einem ärztlichen Bericht der neurologisch-psychiatrischen Abteilung des R vom 23. Mai 1967 ist ausgeführt, bei dem Leiden des Klägers handele es sich mit Sicherheit um eine neurale Muskelatrophie (NMA) vom Typ Charcot-Marie-Tooth.

Mit dem Bescheid vom 15. Februar 1967 erkannte der Beklagte den Kläger als Schwerbeschädigten an und stellte den Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 70 fest; als gesundheitliche Schädigung wurde eine SMA festgestellt. Mit dem Bescheid vom 3. Dezember 1979 stellte der Beklagte eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit des Klägers im Straßenverkehr fest. Nach einem Verkehrsunfall im Jahr 1980 stellte der Beklagte mit dem Bescheid vom 24. November 1982 einen Grad der MdE von 80 bei zusätzlichem Vorliegen von Symptomen einer arterio-venösen Fistel und einer multiplen Knochenfraktur fest.

Im Juni 1985 beantragte der Kläger die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung übertragbarer Krankheiten beim Menschen (BundesSeuchengesetz/BSeuchG) und führte zur Begründung u. a. aus, dass bei ihm, soweit er sich erinnere, 1961/1962 erste Beschwerden (sehr starke Rückenschmerzen, unsicheres Laufen) aufgetreten seien; diese seien damals fälschlicherweise als Pubertätsunpässlichkeiten eingeschätzt worden. Auf Nachfrage des Beklagten teilte das Bezirksamt S mit den Schreiben vom 3. Juli 1985 und vom 5. August 1985 mit, dass beim Jugendgesundheitsdienst und der Impfstelle Unterlagen über den Kläger nicht mehr vorhanden seien, da die Altregistratur einen Wasserschaden erlitten habe. Die Vormundschaftsakten seien bereits vernichtet worden. Die behandelnde Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. B teilte mit Schreiben vom 26. Juli 1985 mit, anhand einer elektromyographischen Untersuchung am 10. August 1979 im Klinikum S habe ein ursächlicher Zusammenhang der bestehenden Muskelatrophie mit den vorausgegangenen Polioschutzimpfungen ausgeschlossen werden können. Auf weitere Anfrage des Beklagten teilte der Senator für Gesundheit, Soziales und Familie mit Schreiben vom 13. November 1985 mit: Weder für die am 13. Mai 1960 noch für die am 3. Mai 1962 durchgeführte Polioschutzimpfung habe es in B eine formelle öffentliche Impfempfehlung gegeben. Die Polioschutzimpfung sei jedoch insbesondere durch Merkblätter und Aufforderung der Eltern zur Impfung öffentlich propagiert worden. In der vom Beklagten veranlassten Stellungnahme vom 6. Dezember 1985 führte der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. T aus: Die in den Akten dokumentierte Anamnese und die Befunde sprächen für eine SMA vom Typ Kugelberg-Welander, wobei es sich um ein unregelmäßig dominant vererbtes Leiden handele. Ein Zusammenhang mit der Poliomyelitisschutz-impfung 1962 sei unwahrscheinlich.

Hierauf lehnte der Beklagte den Antrag des Klägers mit Bescheid vom 20. Dezember 1985 ab. Mit dem hiergegen gerichteten Widerspruch machte der Kläger geltend: Nach der Impfung vom 13. Mai 1960 habe er unter starken Rückenschmerzen gelitten, in deren Folge es zu häufiger Übelkeit gekommen sei. Diese Symptome seien nur wenige Tage nach der Impfung und danach wiederholt in Abständen aufgetreten. Massagen hätten zu keiner Besserung geführt; vielmehr habe sich zunehmend eine Schwäche bzw. Unsicherheit beim Gehen entwickelt. Auf Grund eines Attestes der Schulärztin Dr. B habe er in der Zeit vom 24. Juni 1961 bis 4. August 1961 eine Kur durchgeführt. In einer weiteren vom Beklagten veranlassten Stellungnahme vom 18. März 1986 führte der Arzt Dr. T.: Eine progressive SMA gehöre zwar zu der Liste der Krankheiten, bei denen eine „Kann-Versorgung“ in Frage komme. Die Voraussetzungen hierfür seien jedoch nach den Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz in ihrer Fassung der Ausgabe 1983 – AHP 1983 – (S. 197) nicht gegeben. Denn der Kläger habe keine manifeste Poliomyelitis durchgemacht. Hierauf wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers mit Widerspruchsbescheid vom 23. April 1986 als unbegründet zurück.

In dem sich daran anschließenden Klageverfahren – S 44 Vi 79/86 – veranlasste das Sozialgericht Berlin die Begutachtung des Klägers durch den Arzt für Neurologie Prof. Dr. H. Dieser führte in seinem Gutachten vom 17. Januar 1987 nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 3. November 1986 aus: Ein Impfschaden durch die Polio-Schutzimpfung als mögliche Ursache komme nicht in Betracht. Denn bei dem Kläger seien im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung keine relevanten neurologischen Störungen, insbesondere keine Lähmungen, aufgetreten. Der Beginn der Erkrankung könne nicht exakt festgelegt werden. Nach den Angaben des Klägers und nach den Akten habe die Erkrankung irgendwann zwischen 1960 und 1963 schleichend begonnen. In der Literatur sei bisher kein derartiger Fall dokumentiert worden. Beim Kläger bestehe keine SMA. Es handele sich vielmehr um eine NMA vom Typ Charcot-Marie-Tooth. Diese Erkrankung sei sowohl klinisch als auch elektromyographisch relativ sicher von einer SMA abzugrenzen. Die vorliegende Symptomkonstellation distaler Muskelatrophien an Füßen und Unterschenkeln mit entsprechenden hochgradigen Paresen dieser Muskeln und Hohlfüßen (sogenannte „Storchenbeine“) mit diskreten – distal an Zehen und Füßen auftretenden – sensiblen Störungen sowie der elektroneurographische Nachweis verlangsamter Nervenleitgeschwindigkeiten mit deutlicher Amplitudenreduktion oder das Fehlen von sensiblen Nervenaktionspotentialen sei typisch für diese Krankheit. Eine Verwechselung mit der sogenannten serogenetischen Polyneuritis, die als Folge einer Polio-Schutzimpfung anerkannt werden könne, sei ausgeschlossen. Daraufhin wies das Sozialgericht die Klage mit dem rechtskräftigen Urteil vom 8. Juli 1987 ab.

Mit Schreiben vom 6. November 2005 beantragte der Kläger sinngemäß die Rücknahme des Bescheides vom 20. Dezember 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 1986 und machte geltend, er leide unter einer SMA als Impfschaden. Den Antrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 9. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2006 ab.

Mit der hiergegen am 20. Februar 2006 erhobenen Klage hat der Kläger sein Begehren weiter- verfolgt.

Mit dem Gerichtsbescheid vom 30. Juni 2006 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen und zur Begründung ausgeführt: Der Bescheid vom 9. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2006 sei rechtmäßig. Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Rücknahme des Bescheides vom 20. Dezember 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 1986 nach § 44 Abs. 1 SGB X. Der Beklagte habe bei Erlass des Bescheides weder das Recht unrichtig angewandt, noch sei er von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich als unrichtig erwiesen habe. Der Kläger habe weder nach § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) noch nach § 51 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BSeuchG einen Anspruch auf Beschädigtenversorgung. Der Anwendbarkeit der vorgenannten Regelungen stehe nicht entgegen, dass die erste Schutzimpfung gegen Kinderlähmung vom 13. Mai 1960 bereits vor Inkrafttreten des BSeuchG im Jahr 1961 erfolgt sei. Bei den von dem Kläger nachgewiesenen Impfungen habe es sich um öffentlich empfohlene Impfungen gehandelt. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen den Impfungen und der von dem Kläger geltend gemachten Schädigungsfolge lasse sich jedoch nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit feststellen. Der Kläger habe das Auftreten einer unüblichen Impfreaktion weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht. Dabei könne offen bleiben, ob eine SMA oder eine NMA vorliege. Der Annahme eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Impfung und der Muskelatrophie stehe in beiden Fällen unter Berücksichtigung der für den jeweiligen Zeitraum maßgeblichen AHP entgegen, dass die Muskelatrophie nicht in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit den Impfungen aufgetreten sei. Soweit der Kläger vortrage, unter Rückenschmerzen gelitten zu haben, seien diese Beschwerden nicht mit erheblichen neurologischen Erkrankungen und Beschwerden wie z. B. heftigsten Schmerzen und Lähmungserscheinungen gleichzusetzen. Ausgehend vom Vorliegen einer SMA lägen auch die Voraussetzungen für eine „Kannversorgung“ nicht vor, weil der Kläger eine Poliomyelitis nicht durchgemacht habe.

Gegen den dem Kläger am 8. Juli 2006 zugestellten Gerichtsbescheid hat dieser am 7. August 2006 Berufung eingelegt und ergänzend vorgetragen: Eine unübliche Impfreaktion in Form von andauernden starken Rückenschmerzen, Beeinträchtigungen beim Laufen und Gangstörungen sei durch die vorliegenden Unterlagen der Grundschule bestätigt worden. Danach seien seine Leistungen im Sportunterricht 1960 deutlich abgefallen; in der Folgezeit sei er vom Sportunterricht freigestellt worden. Kurze Zeit nach der Impfung habe er nur noch mit erheblichen Schmerzen laufen bzw. „kriechen“ können. Er sei deshalb an den Arzt für Orthopädie Dr. L verwiesen worden; dieser habe ihm zunächst Krankengymnastik bzw. Massagen verschrieben und ihn später (erfolglos) mit Elektrostimulation und Anabolika behandelt. Das Vorliegen einer Poliomyelitis sei nicht zwingende Vorraussetzung für die Anerkennung eines Impfschadens. Die AHP berücksichtigten insoweit nur häufig vorkommende Sachverhalte und gingen vom Regelfall aus. Muskelatrophien nach Polio-Impfungen seien jedoch bekannt und auch gemeldet worden. In seiner Familie fänden sich keine Anhaltpunkte dafür, dass er die Muskelatrophie geerbt haben könnte.

Das Landessozialgericht hat eine schriftliche Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts – Bundesamt für Sera und Impfstoffe – vom 21. November 2006 eingeholt. In dieser führte der Facharzt für Kinderheilkunde Dr. M.: Bei dem Impfstoff Cox-Vakzine trivalent handele es sich um einen abgeschwächten Polio-Lebendimpfstoff, der in den Jahren 1960 und 1962 nur im Rahmen von klinischen Studien in Deutschland verfügbar gewesen sei. Die SMA sei eine genetische Erkrankung. Damit ein Kind an SMA erkranken könne, müssten beide Eltern Träger des veränderten Gens sein und beide müssten dieses Gen an das Kind weitergeben. Üblicherweise werde die Diagnose bei den Kindern vor Erreichen des 6. Lebensmonats gestellt, in der Mehrzahl der Fälle, bevor die Kinder den 3. Lebensmonat erreicht hätten. Da Polio-Lebendimpfstoffe seit nahezu 10 Jahren nicht mehr in der allgemeinen Impfempfehlung vorgesehen seien, sei insoweit nur eine limitierte Auskunft zu gemeldeten Impfkomplikationen nach Polioschutzimpfung möglich. Nach einer Abfrage der Nebenwirkungsdatenbank des Paul-Ehrlich-Instituts über den Zeitraum von 1992 bis 2005 habe kein Fall einer SMA identifiziert werden können, jedoch seien für diesen Zeitraum neben den üblichen Impfreaktionen (Fieber, Lokalreaktionen an der Einstichstelle, Abgeschlagenheit oder grippeähnliche Symptome) auch Einzelfälle zu Muskel- bzw. Gelenkschmerzen, vorübergehender Muskelschwäche oder Entzündungsreaktionen an der Einstichstelle mit nachfolgendem Muskelschwund (Muskelatrophie) dokumentiert. Danach sei ein Zusammenhang zwischen einer Polio-Schutzimpfung und dem Auftreten einer Muskelathrophie als Folge einer ausgeprägten Lokalreaktion möglich. Für das Auftreten einer SMA erscheine dieser Zusammenhang allerdings unwahrscheinlich.

Anfragen des Landessozialgerichts bei der Ärztekammer B, der Barmer Ersatzkasse, der Kassenärztlichen Vereinigung B zur Ermittlung des den Kläger im Zeitraum 1960 bis 1962 behandelnden Arztes Dr. L sind erfolglos geblieben. Ebenso ist eine Anfrage bei dem Praxisnachfolger Dr. P hinsichtlich noch vorhandener Patientenunterlagen für den genannten Zeitraum erfolglos geblieben. Gleiches gilt für eine (weitere) Anfrage bei dem Bezirksamt S hinsichtlich noch vorhandener Unterlagen in den Bereichen Amtsvormundschaft und Gesundheitswesen.

Der Beklagte hat die Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage durch den Arzt für Mikrobiologie und Kinder-/Jugendmedizin Prof. Dr. S veranlasst. Dieser hat in seinem Gutachten vom 12. Februar 2007 ausgeführt: Die aktenkundigen Befunde zum Krankheits- und Impfverlauf beim Kläger sprächen mehr gegen als für eine ursächliche Beteiligung der Poliomyelitisimpfungen an seiner Gesundheitsstörung. Die Ergebnisse der in den Jahren 1964 und 1965 durchgeführten serologischen Untersuchungen auf Poliomyelitis-Antikörper sprächen gegen eine immunologische Auseinandersetzung mit Poliomyelitisviren. Der Impfverlauf innerhalb der ersten 30 Tage nach der Impfung im Mai 1960 sei beim Kläger nicht exakt dokumentiert. Der Kläger betone das Auftreten von Rückenschmerzen und Gangstörungen. Plötzlich auftretende motorische Ausfälle im Sinne von schlaffen Lähmungen habe er nicht erwähnt. Diese seien jedoch gerade typisch für die Nebenwirkungen einer Poliomyelitis-Lebendvakzine. Weiterhin sei festzustellen, dass eine Muskelatrophie und Parese infolge einer Poliomyelitisimpfung stets durch eine Schädigung der (spinalen) Nervenzellen des motorischen Vorderhorns des Rückenmarks zustande komme und damit eine SMA nach sich ziehe. Die vorliegenden Untersuchungsbefunde sprächen aber gegen das Vorliegen einer SMA. Nach den vorliegenden Befunden sei es vielmehr wahrscheinlich, dass es sich bei der Erkrankung des Klägers um eine NMA im Sinne einer motorischen und sensiblen Neuropathie (MSN) und nicht um eine SMA handele. Bei einer MSN sei eine Manifestation in der ersten oder zweiten Lebensdekade typisch. Die vornehmlich distalen Muskelathrophien könnten zu „Storchenbeinen“ sowie zur Hohlfuß- und Hammerzehenbildung führen. Diagnostisch seien elektroneurologische Befunde zur Abgrenzung von einer SMA beweisführend. Vorliegend seien bei allen elektromyographischen und elektroneurographischen Untersuchungen übereinstimmend die für eine NMA typischen Befunde erhoben worden. Die beim Kläger verwendeten Lebendimpfstoffe seien erstmals in den 50er Jahren in den USA eingesetzt worden. Dort seien die Schädigungsfolgen am eingehendsten dokumentiert. Unter etwa 90 Millionen Impfungen seien 15 Erkrankungen des Zentralen Nervenssystems (ZNS) beobachtet worden, die innerhalb von 24 Stunden bis 24 Tagen nach der Impfung aufgetreten seien, darunter ein Todesfall, zwei Myelitiden und zwei Enzephalitiden sowie mehrere leichte Erkrankungen wie Meningismus, Fieberkrämpfe, Labyrinthitis und Zoster (Vivell). Im Jahr 1956 habe sich ein Impfunglück ereignet, bei dem es innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung zu 500 Poliomyelitis-Fällen gekommen sei; davon seien 229 Fällen paralytisch verlaufen. 53 % der Fälle seien in den ersten 15 Tagen und 47 % in der Zeit von 15 - 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten. Die Lähmungen seien stets als Spinalparalysen (Lähmungen als Folge der Zerstörung der spinalen Nervenzellen) aufgetreten.

Nach Vorlage weiterer Unterlagen durch den Kläger hat der Beklagte die Erstellung eines weiteren Gutachtens nach Aktenlage durch den Arzt Prof. Dr. S veranlasst. Dieser hat in seinem Gutachten vom 5. November 2007 ergänzend ausgeführt: Die in den Neutralisationstesten aus den Jahren 1964 und 1965 nachgewiesenen Antikörpertiter gegen Poliomyelitisviren der Typen I - III seien ein Zeichen für eine Auseinandersetzung mit den entsprechenden Viren, wie es nach Infektionen durch Lebendimpfstoffe die Regel sei. Die Höhe der Titer werde insbesondere auch von der immunogenen Stärke der entsprechenden Viren bestimmt, die unterschiedlich sei. Dies könne vorliegend eine Erklärung für den höheren Antikörpertiter gegen den Typ II sein. Eine Impfpoliomyelitis durch den Typ II sei nur nach der Impfung im Mai 1960 denkbar, weil der im Mai 1962 verwendete Impfstoff nur den Typ I enthalten habe. Der zeitliche Abstand zwischen der Impfung im Mai 1960 und der erstmals beobachteten Muskelschwäche im Jahr 1963 liege allerdings weit über der von der Weltgesundheitsorganisation WHO vorgegebenen Inkubationszeit von 30 Tagen, so dass ein ursächlicher Zusammenhang nicht wahrscheinlich sei. Im Übrigen seien die von dem Sachverständigen Prof. Dr. H in seinem Gutachten vom 17. Januar 1987 erhobenen neurologischen Befunde weder mit einer Poliomyelitis noch mit einer Impfpoliomyelitis in Einklang zu bringen.

Auf Antrag des Klägers hat das Landessozialgericht die Begutachtung durch die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. D veranlasst. Diese hat in ihrem Gutachten vom 7. September 2010 nach ambulanter Untersuchung des Klägers am 9. Dezember 2009 und am 26. Mai 2010 ausgeführt: Das Krankheitsbild entspreche einer SMA. Unfallbedingt bestehe eine arterio-venöse Fistel im linken Orbitabereich. Die SMA sei offenbar im Zeitraum nach der Impfung 1960 entstanden. Es gebe keine Hinweise darauf, dass sie schon vor der Immunisierung bestanden habe. Der Schüler sei bis dahin gesund und motorisch unauffällig gewesen. Die SMA „könnte“ mit hoher Wahrscheinlichkeit ursächlich auf die Poliomyelitisimpfung mit dem Impfstoff Cox-Vakzine trivalent im Mai 1960 zurückzuführen sein. Die von dem Kläger angegebene Symptomatik in Form von Fieber, Übelkeit und starken Rückenschmerzen mit Bewegungseinschränkungen spreche in der Anamnese für einen spinalen entzündlichen Prozess mit meningialer Beteiligung im Gefolge der Vakzination mit dem Poliolebendimpfstoff; eine viral bedingte aseptische Meningitis sei nicht auszuschließen. Eine der SMA vorausgehende Poliomyelitis könne jedoch nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden. Dies sei dem Umstand geschuldet, dass der Kläger nicht stationär eingewiesen worden sei, mikrobiologische Untersuchungen im Jahr 1960 unterblieben seien und ärztliche Befundberichte über den weiteren Verlauf fehlten bzw. nicht mehr auffindbar seien. Hinzuweisen sei aber darauf, dass die Impfung mit dem Cox-Impfstoff in besonderer Weise risikobehaftet gewesen sei. Der Impfstoff sei im Jahr 1960 weder ausreichend kontrolliert noch zugelassen gewesen. Insgesamt seien 41 gesicherte Fälle einer vakzineassoziierten Poliomyelitis binnen 60 Tagen nach der Impfung dokumentiert worden.

Zu dem Gutachten hat der Beklagte eine weitere ergänzende Stellungnahme des Arztes Prof. Dr. S vom 20. Dezember 2010 veranlasst.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 30. Juni 2006 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 9. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2006 zu verurteilen, den Bescheid vom 20. Dezember 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 1986 teilweise zurückzunehmen und für den Zeitraum ab 1. Januar 2001 eine Muskelathrophie als Schädigungsfolge einer Impfung festzustellen sowie eine Beschädigtenversorgung nach einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit/einem Grad der Schädigungsfolgen von 70 v. H. zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung stützt er sich maßgeblich auf die von ihm veranlassten Gutachten des Arztes Prof. Dr. S.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Streitakten, die beigezogene Gerichtsakte S 44 Vi 79/86 und die Verwaltungsakte des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Gegenstand der Berufung ist das Klagebegehren, soweit dieses (noch) auf die Feststellung einer Muskelathrophie als Folge einer Impfung und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach einem Grad der MdE / Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 70 v. H. für den Zeitraum ab dem 1. Januar 2001 gerichtet ist. Soweit die Klage ursprünglich keine nähere zeitliche Einengung enthielt und auf die Gewährung einer Beschädigtenversorgung nach einem höheren Grad der MdE/ einem höheren GdS als 70 gerichtet war, hat der Kläger die Berufung – nach Hinweis des Senats auf die in § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X geregelte materielle Ausschlussfrist von bis zu vier Jahren sowie den im Rahmen des Schwerbehindertenrechts festgestellten Grad der Behinderung von 70 für die dort als Behinderung berücksichtigte SMA – mit seinem in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag beschränkt und damit (teilweise) zurückgenommen. Damit ist der angegriffene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts in diesem Umfang rechtskräftig geworden.

Die Klage ist nach §§ 54 Abs. 1, Abs. 4, 56 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage soweit noch streitgegenständlich zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Beklagten vom 9. Dezember 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Januar 2006 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat für den Zeitraum ab 1. Januar 2001 keinen Anspruch auf die Feststellung von Schädigungsfolgen und die Gewährung einer Beschädigtenversorgung.

Gemäß § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb u. a. Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Danach liegen die Voraussetzungen für eine (teilweise) Rücknahme des Bescheides 20. Dezember 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. April 1986 nicht vor. Weder hat der Beklagte das Recht unrichtig angewandt, noch ist er von einem Sachverhalt ausgegangen, der sich im Nachhinein als unrichtig erwiesen hat.

Rechtsgrundlage für die von dem Kläger geltend gemachten Ansprüche sind die bis zum 31. Dezember 2000 geltenden Vorschriften des BSeuchG in der Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Bundesseuchengesetzes (ÄndG) vom 25. August 1971 (BGBl. I, S. 1401; zur Anwendung des BSeuchG und des ÄndG auf Schadensfälle, die vor Inkrafttreten des BSeuchG am 1. Januar 1962 eingetreten sind: Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 9. Mai 1972 – 8 RVi 2/72 – und Urteil vom 28. Juli 1972 – 8 RVi 3/72 –, jeweils zitiert nach juris) oder die Vorschriften des am 1. Januar 2001 in Kraft getretenen IfSG. Da die einschlägigen Vorschriften im Wesentlichen inhaltsgleich sind, bedarf es im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, auf welche Bestimmungen letztlich abzustellen ist.

Nach § 51 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG bzw. § 60 Abs. 1 Satz 1 IfSG erhält derjenige, welcher durch eine empfohlene oder angeordnete Schutzimpfung eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen des Impfschadens auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Ein Impfschaden ist nach § 52 Abs. 1 Satz 1 BSeuchG ein über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehender Gesundheitsschaden; nach Satz 2 der Vorschrift liegt ein Impfschaden auch vor, wenn mit lebenden Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person durch diese Erreger einen Gesundheitsschaden erleidet. Nach § 2 Nr. 11 IfSG ist ein Impfschaden die gesundheitliche und wirtschaftliche Folge einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung durch die Schutzimpfung; ein Impfschaden liegt auch vor, wenn mit vermehrungsfähigen Erregern geimpft wurde und eine andere als die geimpfte Person geschädigt wurde.

Erforderlich ist, dass die schädigende Einwirkung (die Impfung), die gesundheitliche Primärschädigung in Form einer unüblichen Impfreaktion (Impfkomplikation) und die Schädigungsfolge (ein Dauerleiden) nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen nachgewiesen und nicht nur wahrscheinlich sind (vgl. BSG, Urteil vom 19. März 1986 – 9 a RVi 2/84 –, zitiert nach juris). Für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem schädigenden Ereignis und der (Primär-) Schädigung sowie zwischen dieser und den Schädigungsfolgen genügt es, dass die Kausalität wahrscheinlich ist (§ 52 Abs. 2 Satz 1 BSeuchG bzw. § 61 Satz 1 IfSG). Wahrscheinlichkeit in diesem Sinne ist anzunehmen, wenn mehr Umstände für als gegen die die Kausalität sprechen; die bloße Möglichkeit reicht nicht aus (BSG, Urteil vom 19. März 1986, a. a. O.).

Bei der vorzunehmenden Kausalitätsbeurteilung sind für den hier maßgeblichen Zeitraum ab 1. Januar 2001 grundsätzlich die „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“, Ausgabe 1996 – AHP 1996 –, und für den Zeitraum ab Juli 2004 – die „Anhaltpunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“ in ihrer jeweils geltenden Fassung (zuletzt Ausgabe 2008 – AHP 2008) zu beachten, die jeweils unter den Nr. 53 bis 143 Hinweise zur Kausalitätsbeurteilung bei einzelnen Krankheitszuständen enthalten. Dies gilt auch für die Zeit ab Inkrafttreten der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung am 1. Januar 2009, die solche auf einzelne Krankheitszustände bezogene Hinweise nicht mehr enthält (vgl. dazu Begründung zur VersMedV, Bundesrats-Drucksache 767/08, Seite 4). Die auf den Erfahrungen der medizinischen Wissenschaft fußenden AHP haben normähnlichen Charakter und sind grundsätzlich wie untergesetzliche Normen heranzuziehen, um eine möglichst gleichmäßige Handhabung der in ihnen niedergelegten Maßstäbe im gesamten Bundesgebiet zu gewährleisten. Grundsätzlich ist der neueste medizinische Erkenntnisstand zu berücksichtigen, und zwar auch dann, wenn der zu beurteilende Impfvorgang – wie hier – Jahrzehnte zurückliegt. Dabei ist allerdings genau zu prüfen, ob sich die neuesten medizinischen Erkenntnisse überhaupt auf den zu beurteilenden Vorgang beziehen. Bezogen auf das Impfschadensrecht müssen die nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft in Betracht zu ziehenden Impfkomplikationen gerade auch die Impfstoffe betreffen, die im konkreten Fall verwendet worden sind (vgl. u. a. BSG, Urteil vom 17. Dezember 1997 – 9 RVi 1/95 –, Urteil vom 24. April 2008 – B 9/9a SB 10/06 R –, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VJ 1/10 R –, jeweils zitiert nach juris)

Nach Teil C Nr. 57 AHP 2008 stellen die von der beim Robert Koch-Institut eingerichteten Ständigen Impfkommission (STIKO) entwickelten und im Epidemiologischen Bulletin (EB) veröffentlichten Kriterien (Arbeitsergebnisse) zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer über das übliche Maß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung („Impfschaden“) den jeweils aktuellen Stand der Wissenschaft dar. Dieser Beurteilungsgrundsatz beruht auf einem Beschluss des Ärztlichen Sachverständigenbeirats „Versorgungsmedizin“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS, Rundschreiben vom 12. Dezember 2006 – IV c.6-48064-3 –) und ersetzt die noch in den AHP 1996, 2004 und 2005 enthaltenen detaillierten Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einem „Impfschaden“ (Impfkomplikation).

Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die von der bereits im Jahr 1972 beim damaligen Bundesgesundheitsamt eingerichteten STIKO in dem Zeitraum ab 2005 im EB veröffentlichten Arbeitsergebnisse keine neuen medizinischen Erkenntnisse zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer Impfkomplikation enthalten. Dies dürfte insbesondere darin begründet liegen, dass die STIKO im Jahr 1998 die Empfehlung des Einsatzes von oraler Poliovirus-Lebend-Vakzine (OPV) aufgehoben und stattdessen den generellen Einsatz von inaktiviertem Polio-Impfstoff empfohlen hat (vgl. Mitteilung der STIKO, EB Nr. 4-1998 Seite 21). Danach ist die Zahl der Polio-Impfschadensfälle in Deutschland weiter gesunken. So sind seit 2004 in den im Internet (www.rki.de) einzusehenden Falldefinitionen des Robert Koch-Instituts zur Übermittlung von Nachweisen von Poliomyelitis-Erkrankungen oder Todesfällen keine Impfkomplikationen mehr benannt (vgl. noch Meldekriterien für ausgewählte Infektionskrankheiten, EB Nr. 34-1998 Seite 241, 246 f.; damit in Übereinstimmung: Ratgeber Infektionskrankheiten mit vorläufiger Falldefinition Poliomyelitis, EB Nr. 27-2000 Seite 215 f.).

Danach sind die für den hier maßgeblichen Zeitraum ab 1. Januar 2001 grundsätzlich anzuwendenden AHP 1996, 2004 und 2005 als aktueller Stand der Wissenschaft in Betracht zu ziehen. In Teil C Nr. 57. 2 a) AHP 1996, 2004 und 2005 (jeweils Seite 194 f.) sind als übliche Impfreaktionen einer Poliomyelitis-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoff aufgeführt:

Einige Tage nach der Schluckimpfung gelegentlich – nur wenige Tage – anhaltend – Durchfälle, Erbrechen, erhöhte Temperaturen, Exantheme, Kopfschmerzen, Abgeschlagenheit.

Als Impfkomplikationen nach einer Poliomyelitis-Schutzimpfung sind genannt:

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten).

Beim Guillain-Barré-Syndrom ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 10 Wochen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

Die sehr selten beobachtete Meningoenzephalitis und/oder die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens ohne die Symptome einer Impfpoliomyelitis bedürfen stets einer besonders sorgfältigen diagnostischen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung zwischen dem 3. und 14. Tag nach der Impfung nachgewiesen wurde und außerdem Impfviren und/oder eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden. Einzelne hirnorganische Anfälle nach der Impfung (z.B. Fieberkrämpfe) mit einer mehrmonatigen Latenz zur Entwicklung eines Anfallsleidens können nicht als Erstmanifestation des Anfallsleidens gewertet werden.

Da die hier streitgegenständlichen Impfungen des Klägers in den Jahren 1960 und 1962 erfolgten, sind zudem Teil C Nr. 57. 2 a) der Anhaltpunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Versorgungswesen, Ausgabe 1973 – AHP 1973 – (Seite 89), und Teil C Nr. 57. 2 a) der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz“, Ausgabe 1983 – AHP 1983 – (Seite 185) als aktueller Stand der Wissenschaft in Betracht zu ziehen, da die dort niedergelegten Kriterien zur Abgrenzung einer üblichen Impfreaktion von einer Impfkomplikation teilweise von den oben dargelegten Beurteilungsgrundsätzen der AHP 1996, 2004 und 2005 abweichen und insoweit möglicherweise bestimmte Polio-Lebendimpfstoffe und andere Umstände berücksichtigen, die in den nachfolgenden AHP nicht (mehr) berücksichtigt worden sind.

So werden in Teil C Nr. 57. 2 a) AHP 1973 (Seite 89) als Impfkomplikationen nach einer Poliomyelitis-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoffen genannt:

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen; Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung.

Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens (bis zu 4 Wochen nach der Impfung); dementsprechend sind über längere Zeit EEG-Kontrollen erforderlich, wenn in den ersten Wochen nach einer Impfung erstmalig ein hirnorganischer Anfall aufgetreten ist.

Gelegentlich auch Auftreten einer Meningoenzephalomyelitis, Polyradikulitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese (neuro-allergische Reaktion?). Hierbei ist ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

Weitere Impfschäden: Erythema nodosum.

Da das Impfvirus von Geimpften ausgeschieden wird, kann es auf Empfängliche übertragen werden und bei diesen zu Impfreaktionen und ggf. Impfschäden führen.

In Teil C Nr. 57. 2 a) AHP 1983 (Seite 185) werden als Impfkomplikationen nach einer Poliomyelitis-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoffen genannt:

Poliomyelitisähnliche Erkrankungen mit schlaffen Lähmungen von wenigstens sechs Wochen Dauer (Impfpoliomyelitis): Inkubationszeit beim Impfling 3 bis 30 Tage, Auftreten von Lähmungen nicht vor dem 6. Tag nach der Impfung. Bei Immundefekten sind längere Inkubationszeiten zu beachten (bis zu mehreren Monaten).

Nicht poliomyelitisähnliche Erkrankungen am Zentralen Nervensystem nach der Impfung, wie die Manifestation eines hirnorganischen Anfallsleidens oder – eher selten – eine Meningoenzephalitis, Polyradikulitis, Polyneuritis oder Fazialisparese, bedürfen einer besonders sorgfältigen Klärung. Ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung ist dann wahrscheinlich, wenn die Erkrankung innerhalb von 30 Tagen nach der Impfung aufgetreten ist, außerdem Impfviren im Darm oder Rachen und eine Antikörperbildung nachzuweisen waren und andere Ursachen der Erkrankung ausscheiden.

Dieselben Voraussetzungen gelten für das selten als Impfschaden in Betracht kommende Erythema nodosum.

Da das Impfvirus von Geimpften ausgeschieden wird, kann es auf Kontaktpersonen übertragen werden und bei diesen – innerhalb von 7 bis 60 Tagen nach Einnahme der Vakzine durch den Geimpften – zu Impfreaktionen und ggf. Impfschäden führen.

Soweit hier vornehmlich eine Impfkomplikation infolge der Impfung des Klägers am 13. Mai 1960 mit dem Lebendimpfstoff Cox-Vakzine trivalent (Cox-Impfstoff) in Betracht zu ziehen ist, kann allerdings offen bleiben, ob die vorstehend wiedergegebenen Abgrenzungskriterien der AHP 1973, 1983, 1996, 2004 und 2005 auch die aktuellen medizinischen Erkenntnisse zu möglichen Impfkomplikationen nach einer Impfung mit dem Cox-Impfstoff berücksichtigt haben. Denn nach umfassender Auswertung aller verfügbaren medizinischen Erkenntnisquellen steht zur Überzeugung des Senats fest, dass die aus der Verwendung des Cox-Impfstoffs resultierenden möglichen Impfkomplikationen sich ihrer Art nach nicht wesentlich von denen unterscheiden, die in den genannten AHP angegeben sind.

Wie Teil C Nr. 57. 2 a) AHP 1973 (Seite 89) und Teil C Nr. 57. 2 a) AHP 1983 (Seite 185) berücksichtigt auch Teil C Nr. 57 AHP 1996, 2004 und 2005 (jedenfalls) die möglichen Impfkomplikationen nach einer Impfung mit dem in der Bundesrepublik Deutschland im Zeitraum 1962 bis 1998 eingesetzten OPV-Impfstoff nach Sabin (vgl. Leonhardt, Stück/Fescharek, Reiter, Schmitt, Neue Impfstrategie gegen Poliomyelitis, Deutsches Ärzteblatt 1997, 94, A-2736 <Heft 42>; Meldekriterien für ausgewählte Infektionskrankheiten, EB Nr. 34-1998 Seite 241, 246 f.; Ratgeber Infektionskrankheiten mit vorläufiger Falldefinition Poliomyelitis, EB Nr. 27-2000 Seite 215 f;), mit dem auch der Kläger am 3. Mai 1962 geimpft worden ist. Bei diesem handelt es sich wie bei dem Cox-Impfstoff um einen Impfstoff aus abgeschwächten vermehrungsfähigen Poliomyelitisviren. Die wesentlichen Unterschiede des Cox-Impfstoffes im Vergleich zum Sabin-Impfstoff sind wie folgt zusammenzufassen (vgl. Henneberg, Poliomyelitis-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoff <Cox> in Berlin im Mai 1960, Bundesgesundheitsblatt 1962, Seite 153, 154 ff.; Nachtrag zur Poliomyelitis-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoff <Cox> in Berlin im Mai 1960, Bundesgesundheitsblatt 1962, Seite 383): Bei dem Cox-Impfstoff handelte es sich um einen trivalenten und bei dem Sabin-Impfstoff um einen monovalenten Impfstoff. Eine Dosis Cox-Impfstoff wies eine 60mal höhere Dosierung der Virusmenge auf als die erste zu verabreichende Dosis des Sabin-Impfstoffes. Die Verwendung des Cox-Impstoffes führte zu einer deutlich höheren Intensität der Virusvermehrung im Rachen und im Darm und damit zu einem breiten Streuen der Impfviren durch Tröpfcheninfektionen (vor allem bei Erwachsenen) und Fäkalien (vor allem bei Kindern). Dies führte im Rahmen der in der Zeit vom 11. Mai bis zum 20. Mai 1960 durchgeführten Impfaktion zu einer Verdoppelung bis Verdreifachung der Schadensfälle durch Kontaktinfektionen. Für den Zeitraum vom 20. Mai bis zum 30. Juli 1960 wurden 41 Poliomyelitis-Fälle, davon 23 bei nicht Geimpften, identifiziert, die ursächlich auf die Impfaktion zurückgeführt wurden. Wegen dieser Besonderheiten wurde der in Deutschland vor der Impfaktion nicht erprobte Cox-Impfstoff nicht zugelassen. Ihrer Art nach haben sich die als Folge der Impfaktion beobachteten Impfkomplikationen nicht von den bei der Verwendung des Sabin-Impfstoffes beobachteten Komplikationen unterschieden (vgl. dazu auch Henneberg, Diskussionsbeitrag, Wissenschaftliche Sitzung der Österreichischen Gesellschaft für Mikrobiologie und Hygiene am 14. Juli 1960; Dietze/Möbius/Wünscher, Zur Frage der Kontraindikation bei peronaler Poliomyelitis-Schutzimpfung, jeweils von der Sachverständigen Prof. Dr. D zu den Akten gereicht). Zu beobachten waren in 32 Fällen klinische Poliomyelitisfälle mit Lähmungen und Erkrankungen mit Reaktionen des ZNS wie Enzephalitis, aseptische Meningitis oder Meningismus. Da in dem Impfzeitraum vom 11. Mai bis zum 20. Mai 1960 in Berlin (West) gleichzeitig Mumps, Varicellen, Influenca, Erkältungskrankheiten und Meningoencephalitiden vorkamen, waren Differentialdiagnosen schwer zu stellen. Nach den Ausführungen von Prof. Dr. S in seinem Gutachten vom 12. Februar 2007, welches wie auch sein Gutachten vom 5. November 2007 und seine ergänzende Stellungnahme vom 20. Dezember 2010 im Wege des Urkundenbeweises im hiesigen Verfahren verwendet werden kann (vgl. hierzu z. B. BSG, Beschluss vom 26. Mai 2000 – B 2 U 90/00 B –, zitiert nach juris), decken sich die in Berlin beobachteten Impfkomplikationen mit den entsprechenden Erfahrungen in den USA, wo in den 50er Jahren die gleichen Lebend-Impfstoffe wie bei dem Kläger erstmals eingesetzt wurden und die Schädigungsfolgen am eingehendsten dokumentiert sind. Die dort beobachteten Impffolgen waren Poliomyelitis-Fälle mit Spinalparalysen, Myelitiden, Enzephalitiden sowie mehrere leichte Erkrankungen wie Meningismus, Fieberkrämpfe, Labyrinthitis und Zoster (Vivell) und entsprachen im Wesentlichen den in Berlin festgestellten Impfkomplikationen.

Hiervon ausgehend kann offen bleiben, ob die hier grundsätzlich anzuwendenden AHP 1996, 2004 und 2005 für die Beurteilung von Komplikationen infolge der insbesondere im Jahr 1960 vorgenommenen Impfung des Klägers mit dem Cox-Impfstoff uneingeschränkt maßgebend sind. Dabei legt der Senat nach Auswertung aller verfügbaren medizinischen Erkenntnisquellen und in Anknüpfung an Teil C Nr. 57. 2 a) AHP 1983 (Seite 185) bei der Beurteilung des Vorliegens einer Impfkomplikation als Folge der Impfung des Klägers mit dem Cox-Impfstoff im Jahr 1960 eine Inkubationszeit von 60 Tagen, und nicht lediglich von 30 Tagen, zu Grunde. Dies berücksichtigt die Erfahrungen aus der in dem Zeitraum vom 11. bis 20. Mai 1960 in Berlin durchgeführten umfangreichen Impfaktion (vgl. Henneberg, Poliomyelitis-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoff <Cox> in Berlin im Mai 1960, a. a. O.; Nachtrag zur Poliomyelitis-Schutzimpfung mit Lebendimpfstoff <Cox> in Berlin im Mai 1960, a. a. O.), die auch in die bereits genannten Falldefinitionen des Robert Koch-Institutes für die Poliomyelitis Eingang gefunden haben (vgl. Meldekriterien für ausgewählte Infektionskrankheiten, EB Nr. 34-1998 Seite 241, 246 f.; Ratgeber Infektionskrankheiten mit vorläufiger Falldefinition Poliomyelitis, EB Nr. 27-2000 Seite 215 f.).

Vorstehendes gilt sowohl für die hier als Impfkomplikation in Frage stehende poliomyelitisähnliche Erkrankung als auch für die Meningoenzephalitis. Soweit die AHP in den Fassungen seit 1996 den Nachweis verlangen, dass es zwischen dem 3. und 14. Tag zu einer Meningoenzephalitis gekommen ist, kann nach den verfügbaren medizinischen Erkenntnissen zur Verwendung des Cox-Impfstoffs nicht regelhaft von einer solchen Inkubationszeit ausgegangen werden. So ist es in den USA nach den Ausführungen von Prof. Dr. S bei Geimpften nach Impfung mit dem Wirkstoff Cox-Vakzine trivalent innerhalb eines Zeitraumes von bis zu 24 Tagen nach der Impfung zu Myelitiden, Enzephalitiden und Meningismus gekommen. Der Senat geht deshalb entsprechend Teil C Nr. 57. 2 a) AHP 1973 und 1983 auch bei der Meningoenzephalitis grundsätzlich von einem Inkubationszeitraum von 30 Tagen und im Rahmen einer umfangreichen Impfaktion von 60 Tagen aus.

Dies zugrunde gelegt, kann zur Überzeugung des Gerichts nach Ausschöpfung aller Möglichkeiten zur Aufklärung des Sachverhalts nicht festgestellt werden, dass das Dauerleiden des Klägers mit überwiegender Wahrscheinlichkeit Folge der Impfung vom 13. Mai 1960 oder der Impfung vom 3. Mai 1962ist. In diesem Zusammenhang kann deshalb offenbleiben, ob den Impfungen des Klägers in den Jahren 1960 und 1962 jeweils eine öffentliche Empfehlung zu Grunde lag oder zumindest der Rechtsschein einer solchen Empfehlung bestand (vgl. dazu BSG, Urteil vom 20. Oktober 2008 – B 9/9a VJ 1/07 – m. w. N., zitiert nach juris, für die Zeit vor Inkrafttreten des BSeuchG: Bundesgerichtshof, Urteil vom 23. November 1959 – III ZR 146/58 – BGHZ 31, 187 m. w. N.). Nach der Auskunft des Senators für Gesundheit, Soziales und Familie vom 13. November 1985 und den sonstigen bei den Akten befindlichen Unterlagen (vgl. „Kinderlähmung – 480.000 Cocktails“, Der Spiegel Nr. 36/1960 Seite 21) spricht allerdings viel dafür, dass bei beiden Impfungen zumindest der Rechtsschein einer öffentlichen Impfempfehlung bestand.

Wie der im früheren sozialgerichtlichen Verfahren bestellte Sachverständige Prof. Dr. H und die im hiesigen Verfahren gehörte Sachverständige Prof. Dr. D sowie der vom Beklagten eingeschaltete Gutachter Prof. Dr. S ausgeführt haben, kann weder für den Zeitraum von 60 Tagen nach der Impfung vom 13. Mai 1960 noch für den Zeitraum danach festgestellt werden, dass der Kläger an einer poliomyelitisähnlichen Erkrankung mit schlaffen Lähmungen oder an einer Meningoenzephalitis erkrankt war. Denn es fehlt an ärztlichen Befunden, die das Vorliegen einer solchen Erkrankung belegen könnten. Insbesondere fehlt es an einem labordiagnostischen Nachweis einer stattgehabten Poliomyelitis. Wie dem ärztlichen Entlassungsbericht der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der F vom 10. Februar 1964 zu entnehmen ist, erbrachte die dort umfassend durchgeführte Labordiagnostik keinen Nachweis einer Impfpoliomyelitis. In dem ärztlichen Bericht der genannten Klinik vom 16. März 1965 wird eine solche Erkrankung nach erneuter Durchführung eines Neutralisationstests und Kontrolle der Komplementsbindungsreaktionen unter Mitberücksichtigung der Titer-Erhöhung des Typs II ausgeschlossen. Diese Einschätzung haben insbesondere der in dem Verfahren S 44 Vi 79/86 bestellte Sachverständige Prof. Dr. H in seinem Gutachten vom 17. Januar 1987 und der vom Beklagten eingeschaltete Arzt Prof. Dr. S in seinem Gutachten vom 5. November 2007 bestätigt. Damit in Übereinstimmung sieht auch die Sachverständige Prof. Dr. D das Auftreten einer Impfpoliomyelitis im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung vom 13. Mai 1960 nicht als erwiesen an.

Der Kläger hat einen Impfschaden als Folge der Impfung im Jahr 1960 auch nicht glaubhaft gemacht. Eine solche Beweiserleichterung ist ihm zwar nach der im sozialen Entschädigungsrecht anzuwendenden Vorschrift des § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung zuzugestehen, weil die fehlenden Unterlagen nicht mehr zu beschaffen sind und der Kläger sich ohne sein Verschulden in Beweisnot befindet. Demnach sind die Angaben des Klägers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, soweit diese nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun überwiegender Wahrscheinlichkeit, das heißt der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, das heißt, es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist, weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache reicht hingegen nicht aus, die Beweisanforderungen zu erfüllen (BSG, Beschluss vom 08. August 2001 – B 9 V 23/01 B –, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 und Urteil vom 14. Dezember 2006 – B 4 R 29/06 R –, SozR 4-5075 § 1 Nr. 3).

Nach diesen Grundsätzen hat der Kläger nach Gesamtwürdigung seiner Angaben, der Eidesstattlichen Erklärung seiner inzwischen verstorbenen Tante G vom 11. Januar 2008, der (nicht unterschriebenen) Aufstellung seiner ebenfalls inzwischen verstorbenen Mutter vom 1. Februar 1965 über die Impfungen des Klägers ab 1960, des ärztlichen Entlassungsberichtes der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der F vom 10. Februar 1964 und der vorliegenden Unterlagen aus der Schwerbehindertenakte glaubhaft gemacht, dass er in den ersten 60 Tagen nach der Impfung am 13. Mai 1960 über eine Dauer von mehreren Wochen unter wiederholtem Fieber, häufiger Übelkeit und andauernden sehr starken Rückenschmerzen mit wiederholt auftretenden schwereren Bewegungseinschränkungen gelitten hat. So hat die Mutter des Klägers in ihrer Aufstellung vom 1. Februar 1965 über die Impfungen des Klägers in Übereinstimmung mit den Angaben des Klägers ausgeführt, dass bald nach der Impfung vom 13. Mai 1960 wiederholt sehr starke Rückenschmerzen aufgetreten seien; der Kläger habe sich deshalb öfter plötzlich nicht mehr bewegen können; er habe sich dann gekrümmt vor Schmerzen. Besonders oft seien diese Schmerzen aufgetreten, wenn er eine bestimmte Bewegung gemacht habe, z. B. wenn er sein Fahrrad bestiegen habe. Im Sommer 1960 sei ihm zudem sehr häufig übel gewesen. Damit übereinstimmend und ergänzend hat die Tante des Klägers in ihrer Eidesstattlichen Erklärung vom 11. Januar 2008 ausgeführt, der Kläger habe nach der Impfung am 13. Mai 1960 sehr starke Rückenschmerzen gehabt und nicht aufstehen können. Dazu seien Übelkeit und Fieberschübe gekommen.

Hinreichende Anhaltpunkte für das Auftreten einer erheblichen Gangstörung innerhalb der ersten 60 Tage nach der Impfung bestehen für diesen Zeitraum allerdings nicht. Nach dem ärztlichen Entlassungsbericht der Psychiatrischen und Neurologischen Klinik der F vom 10. Februar 1964 ist vielmehr davon auszugehen, dass sich eine auffällige Gangstörung beim Kläger frühestens Ende des Jahres 1962 gezeigt hatte. Denn danach hatte der Kläger eine erhebliche Beeinträchtigung beim Gehen erst ein Jahr zuvor bemerkt. Dies steht auch in Übereinstimmung mit der von dem in dem Verfahren S 44 Vi 79/86 bestellten Sachverständigen Prof. Dr. H. seinem Gutachten vom 17. Januar 1987 aufgrund der Angaben des Klägers getroffenen Feststellung, die Erkrankung habe irgendwann zwischen 1960 und 1963 schleichend begonnen. Ebenso berichtet die Tante des Klägers in ihrer Eidesstattlichen Erklärung von einer langsam einsetzenden Schwäche beim Gehen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus der dem Gutachten der Sachverständigen Dr. D vom 7. September 2010 zu entnehmenden Schilderung des Klägers, das Laufen sei nach und nach schwieriger geworden. Aus dem Absinken der Zeugnisnote für das Fach Sport im 2. Schulhalbjahr 1960 von ausreichend auf mangelhaft ergibt sich hingegen kein Anhalt, dass bereits in diesem Zeitraum auffällige Bewegungseinschränkungen beim Gehen bestanden. Insoweit ist auch zu berücksichtigen, dass bereits in dem Gutachten für den Übergang aus der Grundschule in die Oberschule vom 15. Januar 1960 eine Unbeholfenheit des Klägers beim Turnen angegeben wurde. Im Übrigen ist dem Kläger nach den vorliegenden Unterlagen erst im Jahr 1966 eine Schulbefreiung vom Sportunterricht erteilt worden.

Ausgehend von diesen Tatsachen hat der Kläger jedoch zunächst nicht glaubhaft gemacht, dass er infolge der Impfung vom 13. Mai 1960 eine poliomyelitisähnliche Erkrankung mit schlaffen Lähmungen erlitten hat. Denn den Angaben des Klägers ist insoweit nicht zu entnehmen, dass er innerhalb von 6 Wochen nach der Impfung oder auch danach an schlaffen Lähmungen gelitten hätte. Wie der in dem Verfahren S 44 Vi 79/86 bestellte Sachverständige Prof. Dr. H und der von dem Beklagten eingeschaltete Gutachter Prof. Dr. S ausgeführt haben, spricht die von dem Kläger für den Zeitraum den ersten 6 Wochen nach der Impfung glaubhaft gemachte Symptomatik von Fieber, Übelkeit, starken Rückenschmerzen und wiederholten schweren Bewegungseinschränkungen gegen das Vorliegen von schlaffen Lähmungen. Damit in Übereinstimmung stehen auch die Ausführungen der Sachverständigen Prof. Dr. D, die das beschriebene Krankheitsbild einer aseptischen Meningitis mit den typischen Symptomen von Fieber, Nackensteifigkeit, Rückenschmerzen und Muskelspasmen zuordnet. Dies entspricht dem vom Robert Koch-Institut herausgegebenen Ratgeber Infektionskrankheiten (16. Folge: Poliomyelitis, EB Nr. 27-2000 Seite 216, EB Nr. 1-2010 Seite 5), wonach die klinische Symptomatik einer nichtparalytischen Poliomyelitis einer aseptischen Meningitis mit Fieber, Nackensteifigkeit, Rückenschmerzen und Muskelspasmen entspricht.

Ebenso hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht, dass er infolge der Impfung vom 13. Mai 1960 eine Meningoenzephalitis erlitten hat. Zwar mögen, wie die Sachverständige Prof. Dr. D dargelegt hat, die von dem Kläger glaubhaft gemachten Krankheitssymptome für die Erkrankung an einer aseptischen Meningitis sprechen, die zu einem Übergreifen auf das ZNS geführt hat (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 2011, Seite 1296, Meningoenzephalomyelitis; zur aseptischen Meningitis als nichtparalytische Poliomyelitis Seite 1648). Wie jedoch Prof. Dr. S in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 20. Dezember 2010 ausgeführt hat, sind diese Symptome zu unspezifisch, um hieraus eine überwiegende Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs mit der Impfung von 13. Mai 1960 herleiten zu können. Dies wird auch von Prof. Dr. D bestätigt, die ebenfalls die Erkrankung des Klägers an einer aseptischen Meningitis nur für möglich und zur Bejahung eines ursächlichen Zusammenhangs mit der Impfung – im Einklang mit Teil C Nr. 57. 2 a) AHP 1973, 1983, 1996, 2004 und 2005 – den Nachweis von Impfviren und/oder einer Antikörperbildung für erforderlich hält. Der labordiagnostische Nachweis von Polioviren oder Antikörpern anhand von Stuhlproben, Rachenabstrichen oder - spülwasser oder Liquor ist insbesondere deshalb erforderlich, weil sich wegen der häufig anzutreffenden Vielzahl von Viren in der Umgebung eine rein klinische Differentialdiagnostik schwierig gestaltet (vgl. auch Doose, Spezielle Probleme der Begutachtung von zerebralen Impfschäden, Die Kriegsopferversorgung 1974, Seite 97; Ratgeber Infektionskrankheiten, EB Nr. 27-2000 Seite 216, EB Nr. 1-2010 Seite 6).

Dass der Kläger infolge der Impfung vom 3. Mai 1962 einen Impfschaden erlitten hat, ist in Übereinstimmung mit Prof. Dr. Sc und Prof. Dr. D schon deshalb unwahrscheinlich, weil diese Impfung nach den Angaben des Klägers keine Impfreaktionen nach sich zog. Dafür ist auch sonst nichts ersichtlich.

Damit fehlt es beim Kläger an einem primären Impfschaden als Brückensymptom. Das möglicherweise in den Jahren 1961/1962 beginnende Dauerleiden der Muskelatrophie kann damit nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die Impfung im Mai 1960 zurückgeführt werden. Dass sich die Muskelatrophie infolge der Impfungen vom 13. Mai 1960 und vom 3. Mai 1962 „schleichend“ entwickelt haben könnte, ist nach Würdigung aller erreichbaren medizinischen Unterlagen und Erkenntnisse auch unter Berücksichtigung der entwicklungsgeschichtlichen Ereignisse in der Person des Klägers unwahrscheinlich. Nach den Feststellungen der Sachverständigen Prof. Dr. D war der Kläger vor der Impfung am 13. Mai 1960 gesund. Dem Gutachten für den Übergang aus der Grundschule in die Oberschule vom 15. Januar 1960 lassen sich für die Zeit vor der Impfung lediglich geringfügige Auffälligkeiten dahin entnehmen, dass der Kläger als schüchtern sowie beim Turnen als unbeholfen beschrieben wurde. Anhaltspunkte für einen Immundefekt, bei dem eine längere Inkubationszeit zu berücksichtigen sein könnte, bestehen nicht. Schließlich gilt unverändert, dass bisher kein Impfschadensfall dokumentiert ist, bei dem sich infolge einer Polio-Schutzimpfung schleichend eine Muskelatrophie ohne vorhergehende Impfkomplikationen entwickelt hätte. Solche Anhaltspunkte lassen sich auch nicht der schriftlichen Auskunft des Paul-Ehrlich-Institutes vom 21. November 2006 entnehmen. Die dort für den Zeitraum von 1992 bis 2005 genannten Einzelfälle von vorübergehenden Muskelschwächen oder Entzündungsreaktionen an der Einstichstelle mit nachfolgendem Muskelschwund (Muskelatrophie) sind mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Weder ist bei dem Kläger eine Spritzimpfung durchgeführt worden, noch war bei ihm – wie bereits dargelegt – eine impfbedingte Entzündungsreaktion innerhalb der ersten 6 Wochen nach der Impfung vom 13. Mai 1960 festzustellen. Zudem sind bei dem Kläger nach der Impfung vom 13. Mai 1960 keine vorübergehenden Muskelschwächen, sondern eher Muskelkrämpfe oder Muskelspasmen aufgetreten.

Nach dem Vorstehenden sind auch die tatbestandlichen Voraussetzungen einer „Kannversorgung“ nach § 52 Abs. 2 Satz 2 BSeuchG bzw. § 61 Satz 2 IfSG nicht gegeben. Denn die Anwendung dieser Vorschriften setzt einen Schädigungstatbestand voraus (vgl. z. B. BSG, Urteil vom 19. August 1981 – 9 RVi 5/80 –, zitiert nach juris). Dieser kann jedoch, wie bereits dargelegt, nicht festgestellt werden, weil es an dem Nachweis von Impfviren und/oder einer Antikörperbildung fehlt. Insoweit stehen dem Kläger keine Beweiserleichterungen zu. Danach bedarf es auch keiner abschließenden Klärung, ob es sich bei der Erkrankung des Klägers um eine SMA handelt.

Einer weiterer Sachaufklärung bedarf es nicht. Insbesondere ist die Beiziehung einer aktuelleren Auskunft des Paul-Ehrlich-Instituts zu dokumentierten Impfreaktionen nach einer Impfung mit dem Wirkstoff Cox-Vakzine trivalent nicht geboten. Denn im Hinblick auf den eingetretenen Zeitablauf von mehr als 50 Jahren ist nichts dafür ersichtlich, dass sich seit der schriftlichen Auskunft des Paul-Ehrlich-Institutes vom 21. November 2006 insoweit neue Erkenntnisse ergeben haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe im Sinne des § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.