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Merkzeichen "G"


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat Entscheidungsdatum 09.06.2011
Aktenzeichen L 13 SB 279/09 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 2 VersMedV

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Mai 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Berufungsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ – erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr.

Nachdem der Beklagte bei dem Kläger zuletzt im April 1998 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt hatte, stellte der Kläger am 6. Februar 2007 einen Verschlimmerungsantrag. Auf der Grundlage der versorgungsärztlichen Stellungnahmen der Ärztinnen Dr. Ar und As setzte der Beklagte mit Bescheid vom 17. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 2008 den Gesamt-GdB auf 100 herauf, dem er folgende (verwaltungsintern mit den sich aus den Klammerzusätzen ergebenden Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte:

a) dialysepflichtige Nierenerkrankung (100),

b) Diabetes mellitus, Überfunktion der Nebenschilddrüsen, Polyneuropathie (50),

c) Funktionsbehinderung des Schultergelenks links, Funktionsbehinderung des Kniegelenks rechts (20),

d) Fettstoffwechselstörung (10),

e) diabetisches Nervenleiden (10),

f) Bluthochdruck (10).

Das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ verneinte er.

Mit seiner Klage vor dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Zuerkennung dieses Merkzeichens begehrt. Das Sozialgericht hat Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte eingeholt. Mit Urteil vom 26. Mai 2009 hat es die Klage abgewiesen: Die angefochtenen Bescheide seien nicht zu beanstanden, denn die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ lägen nicht vor.

Gegen diese Entscheidung hat der Kläger Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren weiter verfolgt.

Der Senat hat Befundberichte des Orthopäden E vom 19. Juli 2010 und der Hausarztes Dipl.-Med. D vom 3. August 2010 sowie das Gutachten des Allgemeinmediziners Dr. B vom 28. Januar 2011 eingeholt.

Hierzu merkt der Kläger an, dass er vor mehreren Jahren sei an seinem rechten Knie eine Bursa-Operation durchgeführt worden sei. Seit der Hammerzeh-Operation laufe er nicht mehr auf Zehennägeln, da diese Zehen aber steif seien, habe er sich eine Gangtechnik angewöhnt, die etwas schmerzloser sei. Wegen seiner Ohrgeräusche sei er vor allem auf Treppen sehr unsicher. Ingesamt habe er zu dem Gutachter keine Beziehung gefunden. Dessen Mitteilung, dass er nach der Untersuchung problemlos auf dem Bürgersteig aufrecht gegangen sei, empfinde er als Anschuldigung. Es sei doch natürlich, dass er nach der Tortur der Begutachtung, kurzzeitig aufgerichtet, die frische Luft in sich aufgenommen habe. In der Zeit seit der Untersuchung sei sein Gesundheitszustand schlechter geworden. Auch hätten die Schmerzen zugenommen.

In der mündlichen Verhandlung vom 9. Juni 2011 hat er erklärt, das Merkzeichen „G“ nur für die Zukunft geltend zu machen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 26. Mai 2009 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 17. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 2008 zu verurteilen, bei ihm für die Zukunft das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichens "G" festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält unter Bezugnahme auf die versorgungsärztlichen Stellungnahmen des Chirurgen T vom 11. Januar 2010 und der Internistin R vom 6. September 2010 an seiner Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs des Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit dieser sein Begehren weiter verfolgt, nicht begründet.

Das Sozialgericht hat mit dem angefochtenen Urteil die Klage zu Recht abgewiesen, da der Bescheid des Beklagten vom 17. Januar 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 2008 nicht zu beanstanden ist. Die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichens "G" sind bei dem Kläger nicht erfüllt.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann.

Denn die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ geben in Teil D Nr. 1 an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um annehmen zu können, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Damit tragen die diese Regelungen dem Umstand Rechnung, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also dem Körperbau und etwaigen Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die Versorgungsmedizinischen Grundsätze diejenigen heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Sie beschreiben dabei Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (vgl. zu den von der VersMedV abgelösten Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit: BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

Die in Teil D Nr. 1d der Anlage zu § 2 VersMedV aufgeführten Fallgruppen liegen hier nicht vor.

Die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr lässt sich nicht auf eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens gründen, da bei dem Kläger weder sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 1 der Anlage zu § 2 VersMedV), noch Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sind, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arterielle Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 2 der Anlage zu § 2 VersMedV).

In seinem Gutachten vom 28. Januar 2011 hat der Allgemeinmediziner Dr. B dargelegt, dass bei dem Kläger relativ wahrscheinlich eine beginnende Coxarthrose vorliegt, die aber bislang nicht funktionell bedeutsam ist. Die seitengleichen Umfangmaße der Oberschenkel schließen eine längerfristige Schonhaltung oder Minderbelastbarkeit aus. Als Bewegungseinschränkung des Hüftgelenks geringen Grades ist sie nach der überzeugenden Einschätzung des Sachverständigen nicht mit einem höheren GdB als 10 zu bewerten.

Aus den übrigen orthopädischen Beeinträchtigungen resultiert kein GdB: Die Hammerzehdeformität des Klägers wurde 2007 und 2008 operativ erfolgreich beseitigt. Die Beweglichkeit der zweiten und dritten Zehe beidseits ist nach den Feststellungen des Gutachters etwas beeinträchtigt, aber schmerzfrei. Auch eine altersüberschreitende Beeinträchtigung der Kniegelenke hat sich nicht nachweisen lassen. Bei voller Streckfähigkeit können beide Knie bis 130° zügig und indolent gebeugt werden. Die Wirbelsäule wies ausschließlich Normalbefunde auf. Die Inklinationsfähigkeit der Lendenwirbelsäule ist vollständig gegeben; die Seitneigung und Rotation sind bis 30° zügig möglich. Nervenwurzelreizerscheinungen hat der Sachverständigen ausschließen können.

Zwar kann nach Teil D Nr. 1d Satz 3 der Anlage zu § 2 VersMedV die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ auch auf innere Leiden gestützt werden, jedoch ist nach den Feststellungen des Sachverständigen hierfür nichts ersichtlich. Vor allem ist eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 4 der Anlage zu § 2 VersMedV). Kardiopulmonale Beeinträchtigungen haben sich bei der Begutachtung nicht erkennen lassen. Das Ruhe-EKG ist ebenso unauffällig gewesen wie die Spirometrie. Andere innere Leiden mit einer schweren Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit, z. B. chronische Niereninsuffizienz mit ausgeprägter Anämie (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 5 der Anlage zu § 2 VersMedV), liegen bei dem Kläger nicht vor. Aus dessen Nierenleiden ergeben sich nach den Feststellungen des Sachverständigen keine fortbewegungsrelevanten Störungen. Der Kläger befindet sich unverändert in normalem Ernährungs- und Kräftezustand. Die zeitweilig ausgeprägtere renale Anämie ist erfolgreich beseitigt. Der Hämoglobinwert des Klägers lag bei der Untersuchung durch Dr. B sogar oberhalb des Normalbereichs. Die Behauptung des Klägers, sein Gesundheitszustand habe sich seit der Begutachtung verschlechtert, ist durch nichts belegt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt, dass der Kläger in der Hauptsache unterlegen ist und auch seit Antragstellung keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens „G“ hatte.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.