Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 20.08.2014 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | L 3 R 116/14, L 3 R 137/14 B PKH | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 15 FRG, § 1 Abs 2 BVFG |
I. Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. Januar 2014 aufgehoben.
II. Der Klägerin wird
1.) für das Verfahren vor dem Sozialgericht Berlin mit Wirkung vom 07. Februar 2011
2.) für die Durchführung des Berufungsverfahrens
Prozesskostenhilfe gemäß §§ 73a des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), 114 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO) ohne Festsetzung von Monatsraten und aus dem Vermögen zu zahlenden Beträgen unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten, Rechtsanwalt W K, bewilligt, weil sie die Kosten der Prozessführung nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch anteilig nicht aufbringen kann, hinreichende Erfolgsaussicht besteht, die Klage und die Berufung nicht mutwillig erscheinen und ihre Vertretung durch einen Rechtsanwalt erforderlich erscheint.
Die frist- und formgemäß eingelegte Beschwerde der Klägerin (§ 73 a Sozialgerichtsgesetz SGG i. V. m. § 127 Abs. 2 S. 2 Zivilprozessordnung ZPO) gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 28. Januar 2014 ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Prozesskostenhilfe (PKH) gemäß § 73a Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 114 ZPO für das Verfahren vor dem SG Berlin.
Nach § 114 ZPO ist einer Partei, die nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, auf Antrag Prozesskostenhilfe zu gewähren, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.
Aus den von der Klägerin vorgelegten Unterlagen vom 26. Mai 2010, 04. Mai 2011 sowie vom 20. April 2014 ergibt sich, dass sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen „bedürftig“ im Sinne der genannten Vorschrift ist. Vorliegend kommt der Klage auch - entgegen der vom SG Berlin vertretenen Ansicht – aus nachfolgend dargelegten Gründen eine hinreichende Erfolgsaussicht im vorstehenden Sinn zu.
Der unbestimmte Rechtsbegriff der hinreichenden Erfolgsaussicht ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verfassungskonform auszulegen. Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) gebietet in Verbindung mit dem unter anderem in Art. 20 Abs. 3 GG zum Ausdruck gebrachten Rechtsstaatsprinzip und dem aus Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG folgenden Gebot effektiven Rechtsschutzes eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Hierbei braucht der Unbemittelte allerdings nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt. Dementsprechend darf die Prüfung der Erfolgsaussichten jedenfalls nicht dazu führen, über die Vorverlagerung der Rechtsverfolgung oder -verteidigung ins Nebenverfahren der PKH eben dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen (BVerfG, Beschluss vom 28. November 2007 – 1 BvR 68/07, 1BvR 70/07, 1 BvR 71/07 -, in juris Rdn. 8 ff.). Demnach ist ausgehend vom für das Hauptsacheverfahren zugrunde zu legenden Sachantrag eine hinreichende Erfolgsaussicht bereits dann gegeben, wenn das Gericht den klägerischen Rechtsstandpunkt für zutreffend oder für zumindest vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Hält das Gericht etwa eine Beweiserhebung von Amts wegen für notwendig, so kann in der Regel eine Erfolgsaussicht nicht verneint werden (Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 73a Rn. 7 a). Deshalb dürfen insbesondere schwierige, bislang nicht geklärte Rechts- und Tatfragen im PKH-Verfahren nicht entschieden werden, sondern müssen über die Gewährung von PKH auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung im Hauptsacheverfahren zugeführt werden können. Wird eine Rechtsfrage aufgeworfen, die in der Rechtsprechung noch nicht geklärt, aber klärungsbedürftig ist, muss Prozesskostenhilfe bewilligt werden. Dasselbe gilt auch dann, wenn es um die Beurteilung schwieriger Rechtsfragen geht, denn hierüber darf das Gericht nicht im Prozesskostenhilfeverfahren entscheiden; vielmehr ist die Frage - im Anschluss an die Bewilligung von Prozesskostenhilfe - im zugrundeliegenden Hauptsacheverfahren zu klären (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 1993 - 1 BvR 1523/92 – in juris; Leitherer a.a.O. Rdn. 7 b).
Davon ausgehend können der Rechtsverfolgung der Klägerin - trotz der nachfolgend dargelegten Bedenken - jedenfalls bei summarischer Prüfung auf der Grundlage des derzeit bekannten Sachstandes hinreichende Erfolgsaussichten nicht von vornherein abgesprochen werden. Grundsätzlich ist maßgebender Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussicht der Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts, auch des Beschwerdegerichts. Dies gilt jedoch nicht in den Fällen, in denen das Gericht die Entscheidung über das Prozesskostenhilfegesuch ohne Verschulden der Partei verzögert hat. Dann ist auf den Zeitpunkt der Entscheidungsreife erster Instanz abzustellen (vgl. Leitherer, a.a.O., Rdn. 7 c m. w. N.). Entscheidungsreife ist dann gegeben, wenn alle Unterlagen – das heißt der vollständig ausgefüllte Vordruck zu den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen mit den entsprechenden Dokumenten zur Glaubhaftmachung des Anspruchs – vorgelegen haben. Entscheidungsreife in dem vor dem SG Berlin geführten Klageverfahren lag hier zum Zeitpunkt des PKH-Antrags und der Vorlage des Vordrucks vor (Eingang: 07. Februar 2011).
Die hinreichende Erfolgsaussicht ist aus den nachfolgend aufgeführten Gründen zu bejahen.
Da die Klägerin keine Beitragszeiten zurückgelegt hat, für die nach Bundesrecht Pflichtbeiträge oder freiwillige Beiträge gezahlt worden sind, kommen zur Erfüllung der Wartezeit für die begehrte Altersrente (§§ 35, 50, 51 Abs. 1, 55 Abs. 1 S. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch <SGB VI>) nur Beitragszeiten nach den Vorschriften des Fremdrentengesetzes (FRG) in Betracht. Die von der Klägerin beanspruchte Gleichstellung ausländischer mit nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten (§ 15 Abs. 1 FRG) ab Beginn ihrer Ausbildung im Juli 1950 bis zum Beginn des Rentenalters setzt zunächst voraus, dass sie dem vom FRG begünstigten Personenkreis angehört. Die Klägerin ist aufgrund ihrer im November 1940 erfolgten Umsiedlung von R in das damalige Gebiet des Deutschen Reiches Umsiedlerin im Sinne des § 1 Abs. 2 Nr. 2 Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) und damit Vertriebene im Sinne des § 1 a) FRG. Dies hat sie auch durch Vorlage ihres aufgrund des Urteils des Bayerischen Verwaltungsgerichts (VG) Bayreuth vom 06. Juni 2008 (B 4 K 05.82) ausgestellten Vertriebenenausweis A glaubhaft gemacht. Zweck des FRG ist die versicherungsrechtliche Gleichstellung der in das Bundesgebiet gelangten Vertriebenen mit den Versicherten im Bundesgebiet. Die von den Vertriebenen vor ihrem Eintreffen im Bundesgebiet zurückgelegten Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten werden deshalb nach näherer Bestimmung des FRG so behandelt, als ob sie im Bundesgebiet zurückgelegt worden seien. Allerdings gilt dies nicht ohne zeitliche und sachliche Begrenzung. So ermöglicht der Vertreibungstatbestand der Umsiedlung - im Fall der Klägerin war dies im Jahr 1940 - lediglich die Anrechnung der bis zur Umsiedlung zurückgelegten ausländischen Beitrags- und Beschäftigungszeiten, und zwar gilt dies unabhängig davon, dass der mit der Aufgabe des Wohnsitzes im ursprünglichen Herkunftsgebiet einmal begründete Status als Vertriebener (Umsiedler) grundsätzlich nicht verloren gehen kann (vgl. VG Bayreuth, Urteil vom 06. Juni 2008 – B 4 K 05.82 - unter Bezugnahme auf Bundesverwaltungsgericht, Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr. 84). Beitrags- und Beschäftigungszeiten sind bei der damals sechsjährigen Klägerin naturgemäß nicht vorhanden.
Soweit die Klägerin mit Wirkung vom 17. Mai 2011 in ihrem Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge A - parallel zu ihrem Status als Umsiedlerin - einen weiteren, neueren Status als Vertriebene (Aussiedlerin) nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG erlangt hat, ist sie auch insoweit Vertriebene nach § 1 BVFG. Sie hat zwar nach der Vertreibung im Jahre 1940 gemeinsam mit ihrer Stiefmutter bereits vor dem Stichtag 08. Mai 1945 im Vertreibungsgebiet wieder ihren Wohnsitz begründet, jedoch gilt für sie als aus diesem Gebiet seinerzeit im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg vertriebene Person eine Ausnahme, weil die Rückkehr dorthin bis zum 31. März 1952 erfolgt ist. Der Erwerb eines mehrfachen Vertriebenenstatus einerseits als Umsiedler und andererseits als Aussiedler im Sinne einer so genannten Mehrfachvertreibung ist nicht ausgeschlossen (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteile vom 17. Oktober 2006 – B 5 RJ 21/05 R – und 24. April 1997 – 13 RJ 23/96 -, jeweils in juris). Jedoch wird der Klägerin auch im ergänzten Vertriebenenausweis A ein ständiger Aufenthalt in der Bundesrepublik, auch für einen früheren Zeitraum, nicht bescheinigt, sondern als Wohnort nach wie vor nur „B, R“ ausgewiesen.
Daher wird im Hauptsacheverfahren zu klären sein, ob die Klägerin sich auf ihren Status laut Vertriebenenausweis als Vertriebene (Aussiedlerin) nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG mit dem Ziel einer Gleichstellung der in R geleisteten Sozialversicherungszeiten und einer Anrechnung dieser Zeiten als Beitragszeiten auch dann mit Erfolg berufen kann, wenn sie nicht in die Bundesrepublik zur Begründung eines Wohnsitzes oder ständigen Aufenthalts eingereist ist bzw. war. Hierauf weist auch die Beklagte im Berufungsverfahren zu Recht hin. Nach Aktenlage hat es den Anschein, dass die Klägerin niemals einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet hat. Nach ihren Angaben ist sie gemeinsam mit ihrer 12jährigen Tochter am 25. Juli 1977 mit einem Touristenvisum in die Bundesrepublik Deutschland eingereist und hat am 15. August 1977 beim Landratsamt/Ausgleichsamt Coburg einen Ausweis für Vertriebene und Flüchtlinge beantragt, der ihr allerdings erst aufgrund des Urteils des VG Bayreuth vom 06. Juni 2008 ausgestellt wurde. Sie hat gemäß den Eintragungen in ihrem r Arbeitsbuch (nach unbezahltem Urlaub ab dem 18. August 1977) bereits am 19. November 1977 ihre Beschäftigung in der Tuchfabrik „P“ wieder aufgenommen und zum 01. Dezember 1977 beim Einwohnermeldeamt der Stadt R (bei C) ihre Rückkehr – gemeinsam mit der Tochter - nach R (zu ihrem Ehemann) gemeldet, wo sie seitdem lebt. Die Eigenschaft als Aussiedlerin setzt grundsätzlich einen Zuzug in das Bundesgebiet voraus, der hier zweifelhaft ist. Ob die Klägerin 1977 einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet hatte, ist nach der Tatsachenlage fraglich. Denn die Bestimmung des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthalts richtet sich sozialversicherungsrechtlich allein nach objektiven Kriterien, wobei ein Wille des Betroffenen, an einem bestimmten Ort seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen, nicht erforderlich ist, andererseits aber auch nicht ausreicht (vgl. § 30 Abs. 3 Erstes Buch Sozialgesetzbuch <SGB I>). Zudem wird der Senat im Berufungsverfahren zu klären haben, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang dem vorgelegten Ausweis der Klägerin als Vertriebene (Aussiedlerin) nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG Bindungswirkung für die Gleichstellung von Fremdbeitragszeiten zukommt. Insbesondere wird er sich mit der Frage auseinanderzusetzen haben, wie es sich verhält, wenn der Vertriebenenausweis nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG möglicherweise unter Zugrundelegung unzutreffender Tatsachen oder irrtümlicher Annahme des Vorliegens der Voraussetzungen durch die ausstellende Behörde oder auch das VG erteilt wurde.
Vorliegend bedarf es daher weiterer Ermittlungen des Senats. Zunächst sind die der Erstellung des Vertriebenenausweis A nach § 1 Abs. 2 Nr. 2 BVFG (Umsiedler) vom 29. Juli 2008 und nach § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG (Aussiedler) vom 17. Mai 2011 zu Grunde liegenden Verfahrens- und Gerichtsakten beizuziehen.
Aus den vom Prozessbevollmächtigten der Klägerin genannten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) ergibt sich nichts anderes. Die Rechtssachen C-396/05 und C-419/05 betreffen Fälle, in denen die bei der Bewilligung ihrer Altersrente im Bundesgebiet wohnende Versicherte außerhalb des Bundesgebiets im damaligen Geltungsbereich der Reichsversicherungsgesetze rentenrechtliche Zeiten zurückgelegt hatten, die nach § 247 Abs. 3 SGB VI als Beitragszeiten im Sinne des SGB VI bei der Rentenbewilligung berücksichtigt wurden. Nachdem die Versicherten ihren Wohnsitz in andere Mitgliedstaaten der EU verlegt hatten, hatte der deutsche Rentenversicherungsträger den monatlichen Zahlbetrag der in den anderen Mitgliedstaat zu zahlenden Altersrente nach § 271 SGB VI (Höhe der Rente bei Leistungen an Berechtigte im Ausland) ohne Berücksichtigung der Beiträge nach § 247 Abs. 3 SGB VI neu berechnet, weil die Rente, soweit sie auf Beschäftigungszeiten außerhalb des Bundesgebiets beruhte, den Leistungen für Opfer des Krieges und seiner Folgen zuzuordnen sei, auf die die EGVO 1408/71 nach deren Art. 4 Abs. 4 keine Anwendung finden würde. Der EuGH hat dagegen festgestellt, dass die den Versicherten bewilligte Rente keine Ermessensleistung und keine bedarfsabhängige Leistung sei und sie daher den Leistungen der sozialen Sicherheit im Sinne des Art. 4 Abs. 1 EGVO 1408/71 (Leistungen bei Alter und an Hinterbliebene) zugeordnet. Davon ausgehend hat der EuGH entschieden, dass im Hinblick auf die auch Rentnern gewährte Freizügigkeit innerhalb der EU eine Kürzung der Rente als Leistung der sozialen Sicherheit bei einem Wohnsitzwechsel innerhalb der EU nicht zulässig sei. Die grundsätzliche Frage, in welchem zeitlichen Umfang und mit welchem Wert Beitragszeiten im Sinne des § 247 Abs. 3 SGB VI bei der Rentenberechnung nach deutschen Rechtsvorschriften zu berücksichtigen seien, stellte sich dem EuGH nicht und wurde von ihm auch nicht erörtert.
Nach alledem hat das SG Berlin die Erfolgsaussicht der Klage zu Unrecht verneint, da der Sachverhalt rechtlich nicht erschöpfend geprüft wurde, obgleich sich der Status der Klägerin als Aussiedlerin laut Vertriebenenausweis jedenfalls aus der vom Bevollmächtigten mit Schriftsatz vom 07. Juni 2011 übersandten Ausweiskopie ergab.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).