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Kostenerstattung; Verpflichtungserklärung; Aufnahmeprogramm des Landes Berlin für syrische Geflüchtete;erfolgreicher Asylantrag; Aufenthaltszweckwechsel; Fortbestehen der Haftung; Auslegung; fehlende Belehrung;Weisungslage; atypische Umstände; Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat Entscheidungsdatum 04.11.2020
Aktenzeichen OVG 3 B 25/20 ECLI ECLI:DE:OVGBEBB:2020:1104.3B25.20.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 23 Abs 1 AufenthG, § 68a AufenthG, § 68 AufenthG, § 25 Abs 1 AufenthG

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. April 2020 geändert. Der Bescheid des Jobcenters Treptow-Köpenick von Berlin vom 21. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides derselben Behörde vom 22. Januar 2019 wird aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v.H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über eine Inanspruchnahme aus einer Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG.

Der 1...in D...(Syrien) geborene Kläger ist seit November 2...als Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie beim ...Klinikum in B... beschäftigt; dort wurde er im Juli 2...zum Oberarzt berufen. Er ist mit der 1...in A...(Vereinigte Arabische Emirate) geborenen D...verheiratet; die Eheleute haben drei Kinder.

Unter dem 9. September 2014 verpflichtete sich der Kläger gegenüber der Berliner Ausländerbehörde, für seinen Schwager, den 1987 in A... D...geborenen, seinerzeit in Erbil (Irak) aufhältigen palästinensischen Volkszugehörigen F..., nach § 68 AufenthG die Kosten für den Lebensunterhalt zu tragen. Die Verpflichtungserklärung erfolgte auf dem bundeseinheitlich verwendeten Formular der Bundesdruckerei mit der Artikel-Nr. 10150. Als Dauer der Verpflichtung sah die Erklärung den auf den 22. Juli 2014 bestimmten Beginn der voraussichtlichen Visumgültigkeit „bis zur Beendigung des Aufenthalts (…) oder bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck“ vor. Auf Seite 2 oben des Formulars werden in einem vorgedruckten Text die öffentlichen Mittel aufgeführt, die von der Verpflichtung zur Erstattung umfasst sind; unter einem als „Behördenvermerke“ gekennzeichneten Feld ist hinzugefügt: „ausgenommen Verpflichtung für die Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit“. Außerdem bestätigte der Kläger mit der Erklärung unter anderem, dass er von der Ausländerbehörde hingewiesen worden sei auf „den Umfang und die Dauer der Haftung und über die Bindungswirkung dieser Verpflichtung“, ferner dass er zu der Verpflichtung aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse in der Lage sei. Unter „Bemerkungen“ wird in der Verpflichtungserklärung abschließend festgehalten: „Aufnahme Land Berlin § 23 Abs. 1 AufenthG“.

In einer ebenfalls mit Datum vom 9. September 2014 erfolgten „Zusatzerklärung und -bestätigung zur Verpflichtungserklärung“ bestätigte der Kläger des Weiteren, vor Abgabe der Verpflichtungserklärung unter anderem darauf hingewiesen worden zu sein, „dass sich die Verpflichtung unabhängig von der Dauer des Visums oder der Aufenthaltserlaubnis auf den gesamten - unter Umständen auch unerlaubten - Aufenthalt erstreckt und erst mit dem Ablauf des vorgesehenen Gesamtaufenthaltes endet“. Außerdem bestätigte der Kläger in der Unterlage nochmals, zur Verpflichtung aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse in der Lage zu sein. In dem Vordruck für diese Erklärung hatte die Ausländerbehörde Streichungen vorgenommen, die sich auf die vom Kläger zu erstattenden Leistungen „bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit“ bezogen. So wurden die beispielhaft genannten Kosten für „Arzt, Medikamente, Aufenthalt im Krankenhaus, Pflegeheim o.Ä.“ gestrichen, außerdem die folgende Passage:

„Zwar ist sowohl für die Erteilung eines Einreisevisums als auch einer Aufenthaltserlaubnis eine Krankenversicherung vorgeschrieben. Ich habe aber im Krankheitsfalle auch für die Kosten aufzukommen, die unter Umständen nicht von der Krankenkasse übernommen werden bzw. über der Versicherungssumme der Krankenkasse liegen.“

Zuvor hatte der Kläger bereits für vier andere Angehörige Verpflichtungserklärungen abgegeben. Eine weitere Verpflichtungserklärung besteht zugunsten der Schwiegermutter des Klägers. Letztere lebt nach wie vor im Haushalt des Klägers und wird von ihm unterstützt; einen Asylantrag stellte sie nicht. Auch für seinen Schwager und die weiteren Verwandten hatte der Kläger nach deren Einreise zunächst die Kosten für ihren Lebensunterhalt getragen.

Bei Abgabe einer seiner früheren Verpflichtungserklärungen hatte sich der Kläger bei der Ausländerbehörde ausdrücklich über die Haftungsdauer erkundigt. Die Ausländerbehörde vermochte ihm hierzu jedoch keine Auskunft zu erteilen und verwies darauf, dass sie mit der Rückforderung „nichts zu tun“ habe. Bei Abgabe der Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 fragte der Kläger deshalb nicht nochmals nach dem Umfang der Haftung nach.

Im November 2014 reiste der Schwager des Klägers mit einem im Rahmen des Berliner Landesaufnahmeprogramms für syrische Geflüchtete erteilten Visum gemäß § 23 Abs. 1 (in Verbindung mit § 6 Abs. 3 Satz 1 und 2) AufenthG in das Bundesgebiet ein. Auf seinen nach der Einreise gestellten Asylantrag erkannte ihm das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) im Januar 2015 die Flüchtlingseigenschaft zu und die Asylberechtigung an. Daraufhin erteilte ihm die Berliner Ausländerbehörde im Februar 2015 eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen gemäß § 25 Abs. 1 AufenthG.

Im Zeitraum von November 2015 bis Oktober 2017 bezog der Schwager des Klägers Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Regelbedarf und Unterkunftskosten, Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung) in Höhe von insgesamt 17.567,04 EUR, davon 2.741,98 EUR Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge.

Mit Schreiben vom 7. August 2018 hörte das Jobcenter Berlin Treptow-Köpenick (im Folgenden: Jobcenter) den Kläger zur Inanspruchnahme aus der Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 an.

Mit Schreiben seines Verfahrensbevollmächtigten vom 14. September 2018 erklärte der Kläger gegenüber der Berliner Ausländerbehörde die Anfechtung der Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 wegen Inhaltsirrtums nach § 119 Abs. 1, 1. Var. BGB. Zur Begründung machte er geltend, angesichts der Formulierung „bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Zweck“ in der Verpflichtungserklärung sei er bei Abgabe der Erklärung davon ausgegangen, dass diese nach dem Wechsel des Aufenthaltstitels infolge des erfolgreichen Asylantrags seines Schwagers erlösche.

Mit Bescheid vom 21. September 2018 forderte das Jobcenter den Kläger aufgrund der Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 zur Erstattung der dem Schwager des Klägers von November 2015 bis Oktober 2017 gewährten SGB II-Leistungen in Höhe von 17.567,04 EUR auf. Der hiergegen von dem Kläger erhobene Widerspruch blieb ohne Erfolg (zurückweisender Widerspruchsbescheid des Jobcenters vom 22. Januar 2019).

Die hiergegen gerichtete Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 28. April 2020 abgewiesen. Die von dem Kläger abgegebene Verpflichtungserklärung sei wirksam und erfasse die zu erstattenden Leistungen; insbesondere sei die Erklärung nicht aufgrund der zwischenzeitlich erklärten Anfechtung als von Anfang an nichtig anzusehen. Die Haftung aus der Verpflichtungserklärung sei nicht dadurch beendet, dass dem Schwager des Klägers vor dem einschlägigen Leistungszeitraum infolge seines erfolgreichen Asylantrags eine Aufenthaltserlaubnis nach Maßgabe von § 25 AufenthG erteilt worden sei. Im Übrigen sei die Kostenheranziehung auch nicht unverhältnismäßig. Es sei höchstrichterlich geklärt, dass die Inanspruchnahme die Regel sei, von der nur bei Vorliegen atypischer Gegebenheiten abgewichen werden könne. Ein solcher atypischer Fall liege hier nicht vor. Soweit eine behördliche Weisungslage existiere, führe dies zu keiner anderen Beurteilung.

Mit der von dem Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung macht der Kläger im Wesentlichen geltend, er habe die Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 wegen eines Inhaltsirrtums über die Dauer der Haftung wirksam angefochten. Er habe sich falsche Vorstellungen über die Bedeutung des in der Verpflichtungserklärung verwendeten Begriffs des „Aufenthaltszwecks“ gemacht, der in hohem Maße mehrdeutig sei. Im Zeitpunkt der Abgabe der Verpflichtungserklärung sei ganz überwiegend die Ansicht vertreten worden, dass ein Wechsel im Aufenthaltszweck anzunehmen sei, wenn ein zuvor nach § 23 Abs. 1 AufenthG Berechtigter einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG erhalte. Darüber hinaus sei seine Heranziehung unverhältnismäßig. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts bestehe bei der Inanspruchnahme aus einer Verpflichtungserklärung kein Regelermessen. Jedenfalls sei eine atypische Ausnahmesituation gegeben. Die Ausländerbehörde habe ihn bei seiner früheren Nachfrage keine Auskunft über die Dauer der Haftung gegeben und auch sonst nicht ausreichend aufgeklärt. Zudem liege eine nach Art. 3 Abs. 1 GG beachtliche Selbstbindung der Verwaltung vor, nach der von der Inanspruchnahme abzusehen sei. Im Land Berlin habe zumindest die Hälfte der Jobcenter von einer Heranziehung in vergleichbaren Fällen abgesehen. Davon unabhängig bestehe seit dem März 2019 eine veröffentlichte Weisungslage der Bundesagentur für Arbeit nebst begleitender politischer Äußerungen. Bei ihm sei der Eindruck erweckt worden, aufgrund dieser Weisung sei seine Inanspruchnahme ausgeschlossen. Die Weisung sei auch nicht rechtswidrig, sondern könne im Lichte höherrangigen Rechts ohne Weiteres dahingehend ausgelegt werden, dass sie nur einen weiteren atypischen Fall vorsehe. Schließlich habe sich das Verwaltungsgericht auch nur oberflächlich mit der weitergehenden, seit Dezember 2019 bestehenden Weisungslage im Land Berlin befasst. Ausgehend von dieser Weisungslage sei die Erstattungsforderung des Beklagten zumindest um die Unterkunftskosten zu reduzieren.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 28. April 2020 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 21. September 2018 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2019 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt sinngemäß,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung bezieht er sich auf das nach seiner Auffassung zutreffende Urteil des Verwaltungsgerichts und seine erstinstanzlichen Ausführungen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Streitakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Jobcenters und die Ausländerakte der Berliner Ausländerbehörde für den Schwager des Klägers; die genannten Akten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte trotz des Ausbleibens eines Vertreters des Beklagten im Termin verhandeln und entscheiden, weil der Beklagte in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Rechtsfolge hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Berufung ist zulässig und begründet. Das Verwaltungsgericht hätte die Klage nicht abweisen dürfen. Die zulässige Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1, 1. Var. VwGO ist begründet. Der angefochtene Leistungsbescheid vom 21. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2019 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Rechtmäßigkeit des Leistungsbescheides bestimmt sich nach der im Zeitpunkt der letzten behördlichen Entscheidung maßgeblichen Sach- und Rechtslage (vgl. nur BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 1 C 10/16 - juris Rn. 17 m. w. Nachw.), hier also nach der Sach- und Rechtslage bei Erlass des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2019. Maßgeblich ist daher das Aufenthaltsgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I S. 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 12. Juli 2018 (BGBl. I S. 1147).

Gemäß § 68 Abs. 1 AufenthG in der seither unverändert geltenden Fassung des am 6. August 2016 in Kraft getretenen Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I S. 1939) hat, wer sich der Ausländerbehörde oder einer Auslandsvertretung gegenüber verpflichtet hat, die Kosten für den Lebensunterhalt eines Ausländers zu tragen, für einen Zeitraum von fünf Jahren sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers einschließlich der Versorgung mit Wohnraum sowie der Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden, auch soweit die Aufwendungen auf einem gesetzlichen Anspruch des Ausländers beruhen (Satz 1). Der Zeitraum nach Satz 1 beginnt mit der durch die Verpflichtungserklärung ermöglichten Einreise des Ausländers (Satz 3). Die Verpflichtungserklärung erlischt vor Ablauf des Zeitraums von fünf Jahren ab Einreise des Ausländers nicht durch Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Abschnitt 5 des Kapitels 2 des Aufenthaltsgesetzes („Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen“) oder durch Anerkennung nach § 3 oder § 4 AsylG (Satz 4). Gemäß § 68a Abs. 1 AufenthG in der am 22. Januar 2019 geltenden Fassung gilt § 68 Abs. 1 Satz 1 bis 3 AufenthG auch für vor dem 6. August 2016 abgegebene Verpflichtungserklärungen, jedoch mit der Maßgabe, dass an die Stelle des Zeitraums von fünf Jahren ein Zeitraum von drei Jahren tritt (Satz 1). Sofern die Frist nach § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG zum 6. August 2016 bereits abgelaufen ist, endet die Verpflichtung zur Erstattung öffentlicher Mittel mit Ablauf des 31. August 2016 (Satz 2).

Die Verpflichtung nach § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bedarf der Schriftform (§ 68 Abs. 2 Satz 1 AufenthG). Wie sich aus der Regelung zur Vollstreckung in § 68 Abs. 2 Satz 2 AufenthG ergibt, ist die zuständige Behörde - hier also das Jobcenter - im Übrigen ermächtigt, den Erstattungsanspruch durch Verwaltungsakt geltend zu machen (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 1 C 10/16 - juris Rn. 19).

Im Fall des Klägers sind bereits die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Heranziehung zur Kostenerstattung auf der Grundlage von § 68 (in Verbindung mit § 68a) AufenthG nicht gegeben. Dabei kann offen bleiben, ob die vom Kläger unter dem 9. September 2014 abgegebene Verpflichtungserklärung gemäß § 142 Abs. 1 BGB aufgrund der mit dem Schreiben vom 14. September 2018 erklärten Anfechtung als von Anfang an nichtig anzusehen ist. Denn die Verpflichtungserklärung erfasst in zeitlicher Hinsicht nicht (mehr) die dem Schwager des Klägers im Zeitraum von November 2015 bis Oktober 2017 von dem Beklagten erbrachten Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II (Regelbedarf und Unterkunftskosten, Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung). Zwar ist die gesetzlich festgelegte Höchstdauer der Haftung von drei Jahren ab dem Zeitraum der Einreise des Begünstigten in das Bundesgebiet gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 und 3 in Verbindung mit § 68a Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht überschritten. Die Haftung aus der Verpflichtungserklärung endete jedoch bereits vorzeitig vor dem Beginn des Leistungsbezugs im November 2015 dadurch, dass dem Schwager des Klägers nach erfolgreichem Durchlaufen des Asylverfahrens im Februar 2015 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 AufenthG erteilt wurde.

Das Fortbestehen der Haftung über den Wechsel des Aufenthaltsrechts von § 23 Abs. 1 AufenthG zu § 25 Abs. 1 AufenthG („Rechtskreiswechsel“) hinaus ergibt sich hier nicht schon aus § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG. Denn diese Regelung ist auf die vor dem 6. August 2016 vom Kläger abgegebene Verpflichtungserklärung nicht anwendbar (vgl. § 68a Abs. 1 Satz 1 AufenthG und BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 1 C 10/16 - juris Rn. 22). Anders als das Verwaltungsgericht angenommen hat, folgt eine Kostentragungspflicht, die den Zeitraum nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 1 AufenthG an den Schwager des Klägers umfasst, auch nicht unmittelbar aus der Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 selbst.

Die von dem Kläger abgegebene Verpflichtungserklärung regelt die Dauer der Verpflichtung dahingehend, dass die Haftung „bis zur Beendigung des Aufenthalts (…) oder bis zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zu einem anderen Aufenthaltszweck“ fortbesteht. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 26. Januar 2017 - 1 C 10/16 - juris Rn. 27 ff.) ist hinsichtlich des Begriffs des „Aufenthaltszwecks“ in dem bundeseinheitlich verwendeten Vordruck für die Abgabe von Verpflichtungserklärungen grundsätzlich von den übergreifenden Aufenthaltszwecken des Aufenthaltsgesetzes auszugehen; den Verpflichtungserklärungen liegt in der Regel also kein enger, auf die einzelnen Aufenthaltstitel ausgerichteter Zweckbegriff zugrunde. Ist eine Verpflichtungserklärung - wie hier - abgegeben worden, um eine Aufenthaltserlaubnis nach § 23 Abs. 1 AufenthG zu ermöglichen, so hat dies zur Folge, dass sich die Haftung grundsätzlich - sofern keine besonderen Umstände vorliegen - auf jeden nachfolgenden Aufenthalt aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen im Sinne des Kapitels 2, Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes erstreckt. Das gilt auch für Verpflichtungserklärungen, die vor dem Inkrafttreten der Regelung in § 68 Abs. 1 Satz 4 AufenthG am 6. August 2016 abgegeben wurden (vgl. für die konkrete Situation im jeweiligen Bundesland, in dem die Verpflichtungserklärung abgegeben wurde, z.B. auch OVG Magdeburg, Beschluss vom 24. Juni 2019 - 2 L 17/18 - juris Rn. 10 f.; OVG Saarlouis, Beschluss vom 17. April 2019 - 2 D 286/18 - juris Rn. 20; OVG Münster, Urteil vom 8. Dezember 2017 - 18 A 1197/16 - juris Rn. 32 ff., nachgehend BVerwG, Beschluss vom 20. März 2018 - 1 B 5/18 - juris, und Urteil vom 8. Dezember 2017 - 18 A 1040/16 - juris Rn. 33 ff., nachgehend BVerwG, Beschluss vom 14. März 2018 - 1 B 9/18 - juris, sowie Urteil vom 8. Dezember 2017 - 18 A 1125/16 - juris Rn. 30 ff., nachgehend BVerwG, Beschluss vom 18. April 2018 - 1 B 6/18 - juris; ferner unlängst auch VGH München, Beschluss vom 26. August 2020 - 10 ZB 20.1516 - juris Rn. 8 f.; a.A. VGH Mannheim, Urteil vom 12. Juli 2017 - 11 S 2338/16 - juris Rn. 27 ff.; offen gelassen OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 25, 31 ff.).

Hier liegen indes besondere Umstände vor, die eine abweichende Auslegung der in Rede stehenden Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 gebieten (vgl. vor dem Hintergrund der besonderen Weisungslage in Niedersachsen auch OVG Lüneburg, Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 441/18 - juris Rn. 28 ff. und Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 435/18 - juris Rn. 27 ff.).

Als einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung ist die Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 in entsprechender Anwendung der §§ 133, 157 BGB unter Würdigung der ihrer Unterzeichnung zugrundeliegenden Umstände des Einzelfalls auszulegen (vgl. BVerwG, Urteil vom 24. November 1998 - 1 C 33/97 - juris Rn. 29, 34). Dabei kommt es für die Auslegung derartiger Willenserklärungen grundsätzlich auf den objektiven Empfängerhorizont an, also darauf, wie der Empfänger den erklärten Willen bei objektiver Würdigung verstehen musste. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn die fragliche Erklärung - wie hier - auf einem von einer Behörde als Erklärungsempfänger verwendeten vorformulierten Vordruck abgegeben wird oder sogar abgegeben werden muss (vgl. für die Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG Ziff. 68.2.1.1.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz <VV-AufenthG> vom 26. Oktober 2009). In diesem Fall ist weniger auf den Empfänger abzustellen als vielmehr darauf, wie der Erklärende das Formular bei objektiver Würdigung hat verstehen dürfen. Verbleiben insoweit Zweifel oder Unklarheiten, gehen diese zu Lasten der Behörde (vgl. nur VGH München, Beschluss vom 26. August 2020 - 10 ZB 20.1516 - juris Rn. 9; OVG Lüneburg, Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 441/18 - juris Rn. 29 und Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 435/18 - juris Rn. 28; jeweils m. w. Nachw.).

Dies zugrunde gelegt muss sich der Beklagte entgegenhalten lassen, dass für den Kläger eine derart weitreichende Verpflichtung, wie sie der Beklagte angenommen hat, bei der gebotenen objektiven Würdigung nicht hinreichend erkennbar sein konnte. Vielmehr verblieben im Zeitpunkt der Abgabe der Verpflichtungserklärung erhebliche Unklarheiten und Unsicherheiten über die zeitliche Dauer der Haftung, die einer Inanspruchnahme des Klägers entgegenstehen.

Ausgangspunkt ist für den Senat dabei zunächst, dass - wie auch andernorts in der obergerichtlichen Rechtsprechung bereits vielfach hervorgehoben wurde -, bis zum Inkrafttreten des Integrationsgesetzes am 6. August 2016 und dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Januar 2017 - 1 C 10/16 - (juris) hinsichtlich der Dauer der Haftung aus Verpflichtungserklärungen, die im Zusammenhang mit Landesaufnahmeprogrammen abgegeben wurden, keine eindeutige Rechtslage herrschte (vgl. nur OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 31). Zwar vertrat etwa das Bundesinnenministerium von Anfang an die später vom Bundesverwaltungsgericht mit dem genannten Urteil vom 26. Januar 2017 bestätigte Ansicht, die Haftung ende mangels Änderung des Aufenthaltszwecks regelmäßig nicht mit dem „Rechtskreiswechsel“. Schon das vom Bundesinnenministerium selbst in Ziff. 68.1.1.3 VV-AufenthG allgemein im Zusammenhang mit der Abgabe von Verpflichtungserklärungen genannte Beispiel für einen Aufenthaltszweckwechsel (Wechsel des Arbeitsgebers, der die Verpflichtungserklärung für den Ausländer abgegeben hat) steht damit jedoch - zumal aus Laiensicht - zumindest in einem gewissen Spannungsverhältnis, legt es doch generell ein eher enges Verständnis des Begriffs des „Aufenthaltszwecks“ nahe. So traten in einigen Bundesländern die zuständigen Landesbehörden der Rechtsauffassung des Bundesinnenministeriums denn auch entgegen und stellten in entsprechenden Erlassen oder anderweitigen Verlautbarungen ausdrücklich klar, dass aus ihrer Sicht die Verpflichtungsgeber mit der Erteilung eines Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 AufenthG aus der Haftung entlassen würden (vgl. z.B. für die damalige niedersächsische Erlasslage OVG Lüneburg, Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 441/18 - juris Rn. 32 ff. und Urteil vom 11. Februar 2019 - 13 LB 435/18 - juris Rn. 31 ff.; ferner für die Situation in Hessen OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 31, unter Verweis auf die Presseerklärung des Hessischen Ministeriums des Innern und für Sport vom 30. Mai 2017 „Innenministerium prüft Verpflichtungserklärungen“; zur Situation in Rheinland-Pfalz OVG Münster, Urteil vom 8. Dezember 2017 - 18 A 1125/16 - juris Rn. 52 ff., nachgehend BVerwG, Beschluss vom 18. April 2018 - 1 B 6/18 - juris).

Die besondere Lage im Land Berlin war dadurch gekennzeichnet, dass es an öffentlich bekanntgemachten oder bekannt gewordenen Erlassen, Weisungen, Anwendungshinweisen, Merkblättern oder ähnlichen Verlautbarungen der zuständigen Landesbehörden, aus denen die Betroffenen den Umfang der Haftung hätten entnehmen können, gefehlt hat: Weder konnten sich die Betroffenen vergewissern, dass die Landesbehörden ein Fortbestehen der Haftung verneinten, noch mussten sie vom Gegenteil ausgehen. In der einschlägigen Aufnahmeanordnung vom 25. September 2013 heißt es in Pkt. II. 3. unter der Überschrift „Verpflichtungserklärung“ lediglich: „Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis setzt voraus, dass eine Verpflichtungserklärung nach § 68 AufenthG abgegeben wurde.“ Und weiter: „Die Verpflichtungserklärung ist für jede einreisewillige Person getrennt abzugeben.“

In dieser Situation kam der individuellen Aufklärung und Beratung der Betroffenen bei Abgabe der Verpflichtungserklärung eine gesteigerte Bedeutung zu (vgl. allgemein auch § 25 VwVfG; für die besondere Bedeutung der Belehrungspflicht speziell im Zusammenhang mit der Abgabe von Verpflichtungserklärungen im Rahmen der Landesaufnahmeprogramme ferner etwa OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 37). Tatsächlich hat eine solche individuelle Aufklärung und Beratung im Land Berlin in vielen Fällen offenbar jedoch nicht stattgefunden, wie sich auch aus der von der Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales erlassenen „Weisung des Landes Berlin als kommunaler Träger zum Umgang mit Erstattungsforderungen aus Verpflichtungserklärungen nach §§ 68, 68a AufenthG, die im Rahmen der Landesaufnahmeanordnungen vor dem 6. August 2016 abgegeben wurden (sog. Altfälle)“ vom 18. Dezember 2019 (im Folgenden: Weisung des Landes Berlin vom 18. Dezember 2019) ergibt. Darin ist nunmehr ein Absehen der Geltendmachung von Ersatzforderungen in Bezug auf die kommunalen Leistungen nach dem SGB II unter anderem für die Fälle vorgesehen, in denen es die Ausländerbehörde „nachweislich verabsäumt <hat>, die Verpflichtungsgeberin bzw. den Verpflichtungsgeber über die Dauer der Haftung zu belehren“ (Ziff. 3).

Auch im Fall des Klägers ist eine solche individuelle Aufklärung und Beratung nicht erfolgt. So hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nochmals seinen erstinstanzlichen Vortrag bekräftigt, dass man ihn bei Abgabe einer seiner früheren Verpflichtungserklärungen vor der Ausländerbehörde trotz ausdrücklicher Nachfrage keine Auskunft über die Haftungsdauer habe geben können und wollen. Demgemäß habe er bei Abgabe der Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 keine weiteren Fragen zum Umfang der Haftung mehr gestellt. Insgesamt habe die Abgabe der Verpflichtungserklärung nur wenige Minuten gedauert. Der Senat hat keine Veranlassung, an diesen Angaben zu zweifeln.

Der Kläger ist auch durch die ebenfalls mit Datum vom 9. September 2014 von ihm unterzeichnete „Zusatzerklärung und -bestätigung zur Verpflichtungserklärung“ nicht ausreichend über die Dauer der Haftung belehrt worden. Im Gegenteil hat diese Erklärung die Unklarheiten und Unsicherheiten noch verstärkt. Denn die Erklärung steht in eklatantem Widerspruch zu der eigentlichen Verpflichtungserklärung, wie mittlerweile ausdrücklich auch die Weisung des Landes Berlin vom 18. Dezember 2019 einräumt (Ziff. 3). Nach der Zusatzerklärung soll sich die Verpflichtung nämlich „unabhängig von der Dauer des Visums oder der Aufenthaltserlaubnis auf den gesamten - unter Umständen auch unerlaubten - Aufenthalt“ erstrecken „und erst mit dem Ablauf des vorgesehenen Gesamtaufenthaltes“ enden. Für den von ihm entschiedenen Fall hat das Bundesverwaltungsgericht (Urteil vom 26. Januar 2017 - 1 C 10/16 - juris Rn. 25 f.) zwischenzeitlich klargestellt, dass die Annahme einer so weitreichenden Haftung, die etwa auch Aufenthalte zu Studienzwecken oder aus familiären Gründen erfassen würde, mit Blick auf die auf § 23 Abs. 1 AufenthG bezogene Zweckbestimmung der Verpflichtungserklärung gegen allgemeine Auslegungsregeln verstößt. Unbeschadet dessen hat die Zusatzerklärung es für laienhafte Empfänger wie den Kläger, der zudem Deutsch als Fremdsprache erlernt hat, zusätzlich erschwert, ein hinreichend eindeutiges Verständnis vom genauen Inhalt der übernommenen Verpflichtung zu entwickeln. Das gilt umso mehr, als die Ausländerbehörde keine Präzisierung geben konnte.

Schließlich kann die Weisung des Landes Berlin vom 18. Dezember 2019 insgesamt als Klarstellung des Landes gelesen werden, dass eine Haftung über den „Rechtskreiswechsel“ hinaus von ihm zu keiner Zeit konkret beabsichtigt gewesen ist. Jedenfalls aber bestätigt die Unterlage, dass die Betroffenen auch aus Sicht des Landes in der damaligen Situation den Umfang der Haftung schlechterdings nicht verlässlich bestimmen konnten, sofern sie hierüber von der Ausländerbehörde nicht ausdrücklich belehrt wurden. Ganz bewusst geht die Weisung mit den in ihr geregelten weiteren Fallgruppen deshalb noch über die von der Bundesagentur für Arbeit erlassene Weisung 201903003 vom 1. März 2019 - Umgang mit den Erstattungsforderungen aus Verpflichtungserklärungen nach §§ 68, 68a Aufenthaltsgesetz im Rahmen der Landesaufnahmeprogramme (im Folgenden: Weisung 201903003 der Bundesagentur für Arbeit vom 1. März 2019) hinaus, um der besonderen Lage im Land Berlin Rechnung zu tragen.

Im Übrigen war die Haftung des Klägers nach der im Zeitpunkt der Abgabe der Verpflichtungserklärung geltenden Rechtslage noch nicht kraft Gesetzes zeitlich befristet; die gesetzlich vorgesehene Höchstdauer der Haftung von fünf bzw. drei Jahren (vgl. § 68 Abs. 1 Satz 1 und § 68a Abs. 1 Satz 1 AufenthG) wurde erst mit dem Integrationsgesetz eingeführt. Vor diesem Hintergrund hatte der Kläger ein besonderes - schützenswertes - Interesse daran, entweder durch eine eindeutige und unmissverständliche Formulierung der Verpflichtungserklärung oder zumindest durch eine dahingehende Belehrung nicht im Unklaren darüber gelassen zu werden, ob seine Haftung anderweitig begrenzt ist oder nicht. Dass der Kläger das Risiko einer wie auch immer gearteten Haftung eingegangen ist, steht dem nicht entgegen. Abgesehen davon, dass das Rechtsstaatsgebot einen für den Betroffenen eindeutigen und vorhersehbaren Haftungsumfang verlangt, befand sich der Kläger unter einem gewissen zeitlichen Druck und war bereit, seine Verwandten selbst zu unterstützen.

Unabhängig von alledem unterläge der angegriffene Leistungsbescheid auch dann der (vollständigen) Aufhebung, wenn man den haftungsbegründenden Tatbestand bejahte. Die Heranziehung des Klägers erwiese sich in diesem Fall zumindest auf der Rechtsfolgenseite als fehlerbehaftet.

Mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ist davon auszugehen, dass das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) und das Gebot, bei der Aufstellung und Ausführung des Haushaltsplans die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit zu beachten (§ 6 Abs. 1 HGrG), in der Regel verlangen, dass die öffentliche Hand ihr zustehende Geldleistungsansprüche durchzusetzen hat (vgl. dazu sowie zum Folgenden BVerwG, Beschluss vom 18. April 2018 - 1 B 6/18 - juris Rn. 9 und Beschluss vom 20. März 2018 - 1 B 5/18 - juris Rn. 8; ferner BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 1 C 10/16 - juris Rn. 35 und Urteil vom 13. Februar 2014 - 1 C 4/13 - juris Rn. 16 m. w. Nachw.). Von dieser Regel kann bei Vorliegen atypischer Gegebenheiten abgewichen werden. Dies gilt auch für den Erstattungsanspruch nach § 68 AufenthG. Demgemäß ist der Verpflichtete im Regelfall zur Erstattung heranzuziehen, ohne dass es dahingehender Ermessenserwägungen bedürfte. Ein Regelfall liegt vor, wenn die Voraussetzungen des Aufenthaltstitels einschließlich der finanziellen Belastbarkeit des Verpflichteten im Verwaltungsverfahren geprüft worden sind und nichts dafür spricht, dass die Heranziehung zu einer unzumutbaren Belastung führen könnte. Hingegen hat die erstattungsberechtigte Stelle bei atypischen Gegebenheiten im Wege des Ermessens zu entscheiden, in welchem Umfang der Anspruch geltend gemacht wird. Wann in diesem Sinne ein Ausnahmefall vorliegt, ist anhand einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls zu entscheiden. Im Übrigen ist unter Würdigung vornehmlich der Umstände, unter denen die Verpflichtungserklärung abgegeben worden ist, zu klären, ob die Heranziehung zur vollen Erstattung der Aufwendungen gemäß § 68 AufenthG namentlich im Hinblick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt ist oder ob es weiterer Erwägungen bedarf, um zu einem angemessenen Interessenausgleich zu gelangen.

Ob ein Ausnahmefall in dem zuvor beschriebenen Sinne gegeben ist, unterliegt voller gerichtlicher Nachprüfung (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Februar 2014 - 1 C 4/13 - juris Rn. 16).

Es bedarf keiner Entscheidung, ob sich im Fall des Klägers eine Atypik schon daraus ergibt, dass die finanzielle Leistungsfähigkeit des Klägers von der Ausländerbehörde nicht mit der gebotenen Sorgfalt überprüft worden ist, das heißt insbesondere auch unter Heranziehung der Pfändungsgrenze aus §§ 850 ff. ZPO als Anhaltspunkt für die Beurteilung der Zumutbarkeit und unter Einbeziehung aller vom Kläger abgegebenen Verpflichtungserklärungen (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 1 C 10/16 - juris Rn. 35; OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 39 ff.). Denn von einem Ausnahmefall ist hier jedenfalls aufgrund der bereits dargestellten besonderen äußeren Umstände auszugehen, unter denen der Kläger die Verpflichtungserklärung abgegeben hat. War die Tragweite der Haftung für den Kläger als juristischem Laien nach damaligem Erkenntnisstand nicht nachvollziehbar - namentlich auch nicht aufgrund einer individuellen Aufklärung und Beratung -, so hätte sich der Beklagte in dem angegriffenen Leistungsbescheid mit Blick auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit mit dieser besonderen Situation einschließlich der unterlassenen Belehrung des Klägers zumindest auseinandersetzen und eine Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls treffen müssen (ähnlich OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 31 ff.). Das gilt umso mehr, als sich der Bund und die Länder nur zwei Tage nach Erlass des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2019 in der Frage der „Flüchtlingsbürgen“ auf eine Einigung verständigt haben (vgl. die Pressemitteilung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 24. Januar 2019 „Gute Lösung, die hilft - Durchbruch in Verhandlungen zwischen Bund und Ländern über finanzielle Forderungen an Flüchtlingsbürgen“). Bereits Anfang Januar 2019, also noch vor Erlass des Widerspruchsbescheides, war öffentlich darüber berichtet worden, dass sich eine solche Einigung konkret abzeichnete (vgl. unter Berufung auf SWR-Informationen z.B. Flüchtlingsrat NRW e.V., Bundes- und Landesaufnahmeprogramme - Bund und Länder lenken ein: Flüchtlingsbürgen können auf Einigung hoffen, 8. Januar 2019). Dies durfte der Beklagte bei seiner Entscheidung nicht unberücksichtigt lassen. Letztlich mündete die Einigung in die Weisung 201903003 der Bundesagentur für Arbeit vom 1. März 2019 und - für die im Land Berlin abgegebenen Verpflichtungserklärungen (Altfälle) - in die Weisung des Landes Berlin vom 18. Dezember 2019. Auch wenn es sich hierbei um bloße - nachträgliche - (verwaltungs-)interne Anweisungen ohne Außenwirkung und Rechtsnormcharakter handelt, können diese Weisungen als Bekräftigung aufgefasst werden, dass in einer Situation wie der des Klägers schon zuvor atypische Gegebenheiten vorgelegen haben, die das Ermessen des Beklagten eröffnet haben.

Es kommt hinzu, dass der Beklagte - wenn auch ohne rechtliche Grundlage - die Kostenerstattungspflicht des Klägers in sachlicher Hinsicht auf die gezahlten Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge erstreckt hat. Umso mehr hätte sich ihm aufdrängen müssen, dass aufgrund der besonderen Umstände weitere Erwägungen angezeigt waren, bevor er die Erstattungsforderung festsetzte (vgl. auch OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 36). Bestünde tatsächlich eine durchgehende Haftung des Verpflichtungsgebers über den „Rechtskreiswechsel“ hinaus, und würde sich die Erstattungspflicht zugleich auch auf in diesem Zeitraum staatlich übernommene Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge beziehen, liefe die mit der Herausnahme der Kosten im Krankheits- und Pflegefall beabsichtigte Lastenteilung zwischen Verpflichtungsgebern und öffentlicher Hand, die nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts der Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dient (vgl. BVerwG, Urteil vom 26. Januar 2017 - 1 C 10/16 - juris Rn. 38), praktisch leer. Auch vor diesem Hintergrund hätte für den Beklagten Veranlassung bestanden, sich im Ermessenswege mit dem Einzelfall des Klägers auseinanderzusetzen.

Die erforderliche Ermessensentscheidung über die Heranziehung des Klägers auf der Grundlage der Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 hat der Beklagte nicht getroffen; es liegt ein - im gerichtlichen Verfahren von vornherein nicht heilbarer (vgl. § 114 Satz 2 VwGO) - Ermessensausfall vor. Insbesondere kann eine ordnungsgemäße Ermessensbetätigung nicht in der pauschalen und nicht weiter begründeten Formulierung im Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2019 gesehen werden, die Heranziehung des Klägers stehe „im Einklang mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“. Dagegen, dass der Beklagte die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung erkannt hat, spricht zudem, wenn es in dem Widerspruchsbescheid weiter heißt, dass der Widerspruch nach der bestehenden Sach- und Rechtslage erfolglos bleiben „musste“ und die Entscheidung den gesetzlichen Bestimmungen entspreche. Ebenso wenig ist eine Ermessensbetätigung durch die standardmäßige Wendung im Ausgangsbescheid vom 21. September 2018 belegt, wonach der Beklagte seine Entscheidung „<u>nter Abwägung aller Gesichtspunkte“ getroffen habe, wobei weder das Vorbringen des Klägers „noch die Aktenlage (…) eine unbillige Härte erkennen“ ließen (ebenso OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 51). Abgesehen davon wäre eine Ermessensbetätigung im Ausgangsbescheid durch den Widerspruchsbescheid überholt.

Ob sich das dem Beklagten eingeräumte Ermessen im Wege der Ermessensreduzierung „auf Null“ (Ermessensschrumpfung) hier letztlich sogar dahingehend verdichtet haben könnte, dass sich allein ein - gegebenenfalls zumindest teilweises - Absehen von der Inanspruchnahme als ermessensgerechte Entscheidung dargestellt hätte, kann der Senat offen lassen. Insbesondere bedarf es keiner Ausführungen dazu, ob im maßgeblichen Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides vom 22. Januar 2019 eine entsprechende Verwaltungspraxis bestanden hat, auf die sich der Kläger über den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG mit Erfolg stützen könnte (sog. Selbstbindung der Verwaltung).

Unabhängig davon wäre der angefochtene Leistungsbescheid jedenfalls teilweise rechtswidrig; nämlich insoweit, als der Beklagte darin die Erstattung von Beiträgen zur Kranken- und Pflegeversicherung im Umfang von insgesamt 2.741,98 EUR geltend macht.

Wie sich schon aus dem Gesetzeswortlaut des § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ergibt, hat der aus einer Verpflichtungserklärung Verpflichtete grundsätzlich sämtliche öffentlichen Mittel zu erstatten, die für den Lebensunterhalt des Ausländers aufgewendet werden, einschließlich solcher Mittel, die der „Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit“ dienen. Das können für Inhaber einer Aufenthaltserlaubnis nach § 23 AufenthG Leistungen bei Krankheit nach § 4 AsylbLG sein (vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 3 Buchst. a AsylbLG) und bei Beziehern von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II Beitragszahlungen zur Kranken- und Pflegeversicherung (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. März 2018 - 1 B 9/18 - juris Rn. 5). Demgemäß heißt es auch in dem bundeseinheitlichen Vordruck der Verpflichtungserklärung, der im Fall des Klägers verwendet wurde, die Verpflichtung umfasse die Erstattung sämtlicher öffentlicher Mittel, die für den Lebensunterhalt „einschließlich der (…) Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit“ aufgewendet würden. Ebenso wie nach der gleichlautenden gesetzlichen Regelung schließt die durch eine solche Verpflichtungserklärung begründete Haftung damit regelmäßig auch die während der Geltungsdauer der Erklärung von der zuständigen Behörde gezahlten Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung eines versicherungspflichtigen Ausländers ein (vgl. OVG Magdeburg, Beschluss vom 24. Juni 2019 - 2 L 17/18 - juris Rn. 13; OVG Münster, Urteil vom 8. Dezember 2017 - 18 A 1197/16 - juris Rn. 53, nachgehend BVerwG, Beschluss vom 20. März 2018 - 1 B 5/18 - juris, und Urteil vom 8. Dezember 2017 - 18 A 1040/16 - juris Rn. 79 ff., nachgehend BVerwG, Beschluss vom 14. März 2018 - 1 B 9/18 - juris).

Die Haftung des Klägers ist hier jedoch durch den als „Behördenvermerk“ aufgenommenen Zusatz in der Verpflichtungserklärung vom 9. September 2014 ausgeschlossen („ausgenommen Verpflichtung für die Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit“). Anders als der Beklagte im Widerspruchsbescheid vom 22. Januar 2019 meint, bezieht sich dieser Zusatz bei der gebotenen objektiven Würdigung nicht lediglich auf tatsächliche Aufwendungen im konkreten Krankheits- oder Pflegefall (z.B. Kosten für Leistungen nach § 4 AsylbLG). Gegen ein solches Verständnis spricht bereits die konkrete Formulierung des Haftungsausschlusses, der im Wortlaut identisch mit § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und der gleichlautenden Wendung in der Verpflichtungserklärung auf die „Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit“ abstellt. Dies legt es nahe, dass sich der Haftungsausschluss damit auf eben jene öffentlichen Mittel erstreckt, die nach § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG und dem Vordruck der Verpflichtungserklärung der Unterhaltssicherung im Wege der „Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit“ dienen und als solche grundsätzlich von der Haftung umfasst sind. Wie ausgeführt, fallen darunter aber auch Beitragszahlungen zur Kranken- und Pflegeversicherung (ebenso wie hier in einem ähnlich gelagerten Fall OVG Münster, Urteil vom 8. Dezember 2017 - 18 A 1040/16 - juris Rn. 78 ff., nachgehend BVerwG, Beschluss vom 14. März 2018 - 1 B 9/18 - juris; vgl. für die Problematik der Haftung für Kranken- und Versicherungsbeiträge im Zusammenhang mit Verpflichtungserklärungen, die im Rahmen der Landesaufnahmeprogramme abgegeben wurden, daneben z.B. auch OVG Koblenz, Urteil vom 7. November 2019 - 7 A 11069/18.OVG - juris Rn. 36; OVG Magdeburg, Beschluss vom 24. Juni 2019 - 2 L 17/18 - juris Rn. 13, 15; OVG Münster, Urteil vom 8. Dezember 2017 - 18 A 1197/16 - juris Rn. 52 ff., nachgehend BVerwG, Beschluss vom 20. März 2018 - 1 B 5/18 - juris).

Die vom Kläger abgegebene „Zusatzerklärung und -bestätigung zur Verpflichtungserklärung“ vom 9. September 2014 rechtfertigt keine abweichende Würdigung. Zwar wurden die in dem Vordruck für diese Erklärung beispielhaft aufgeführten Leistungen im Krankheits- oder Pflegefall gestrichen („Arzt, Medikamente, Aufenthalt im Krankenhaus, Pflegeheim o.Ä.“), ebenso wie die weitere Passage zu den Kosten, die trotz Bestehens einer Krankenversicherung nicht von der Krankenkasse übernommen werden. Gleichwohl sollte der Haftungsausschluss auch nach dieser Erklärung ersichtlich umfassender sein und sich auf sämtliche Aufwendungen beziehen, die zur Versorgung bei Krankheit oder Pflegedürftigkeit getätigt werden. Das zeigt sich vor allem an der weiteren von der Ausländerbehörde vorgenommenen Streichung, nämlich der Streichung der Worte „bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden“ im Satz: „Meine Verpflichtung umfasst die Erstattung sämtlicher öffentlicher Mittel, die für den Lebensunterhalt des / der Begünstigten auch bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit aufgewendet werden“. Mit diesem Satz knüpft das Formular der „Zusatzerklärung und -bestätigung zur Verpflichtungserklärung“ seinerseits erkennbar an § 68 Abs. 1 Satz 1 AufenthG an, dessen Wortlaut das Formular aufgreift. Damit bestätigt diese Streichung, dass der Haftungsausschluss auch auf die Kosten für den Abschluss einer die Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit abdeckenden Kranken- und Pflegeversicherung - als regelmäßig anfallende Mittel der Unterhaltssicherung (vgl. § 5 Abs. 1 Nr. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 3 Satz 1 und 3 AufenthG) - abzielte. Diese Kosten sollten von der Herausnahme der „Verpflichtung für die Versorgung im Krankheitsfall und bei Pflegebedürftigkeit“ also gerade nicht unberührt bleiben.

Schließlich ergeben sich auch aus der einschlägigen Aufnahmeanordnung des Landes Berlin vom 25. September 2013 keine Hinweise darauf, dass sich die durch den Haftungsausschluss beabsichtigte teilweise Kostenübernahme durch die öffentliche Hand allein auf - vornehmlich während des Bezugs von Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in Betracht kommende - tatsächlich aufzuwendende Kosten im Krankheits- oder Pflegefall beziehen sollte (vgl. demgegenüber etwa für das Landesaufnahmeprogramm von Sachsen-Anhalt OVG Magdeburg, Beschluss vom 24. Juni 2019 - 2 L 17/18 - juris Rn. 15: Herausnahme nur der Kosten bei Krankheit, Schwangerschaft, Geburt, Behinderung und Pflegebedürftigkeit nach §§ 4 und 6 AsylbLG).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 709 Satz 1 und 2 ZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 VwGO genannten Gründe erfüllt ist.