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Abstandsflächenvorschriften; Abweichung; atypische Grundstückssituation (verneint); Vorrang des Bauplanungsrechts; offene Erfolgsaussichten; wechselseitiger Verstoß; Vergleichbarkeit; Interessenabwägung; Vorrang des Vollzugsinteresses; Bauen auf eigenes Risiko


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 2. Senat Entscheidungsdatum 19.12.2012
Aktenzeichen OVG 2 S 44.12 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 68 BauO BE, § 6 Abs 1 S 3 BauO BE, § 6 Abs 2 S 1 BauO BE, § 6 Abs 5 S 1 BauO BE, § 34 BauGB, § 212a BauGB

Leitsatz

Die Erteilung einer Abweichung von Abstandsflächenvorschriften nach § 68 Satz 1 BauO Bln ist nur in Ausnahmefällen bei Vorliegen einer atypischen Grundstückssituation zulässig.

Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. Juni 2012 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Beschwerde, einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, trägt die Antragstellerin.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 3750 Euro festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Die angefochtene Entscheidung, mit der es das Verwaltungsgericht abgelehnt hat, die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin gegen die Abweichungsentscheidung vom 1. September 2011 betreffend die Verkürzung von sechs teilweise auf ihr Grundstück fallenden Abstandsflächen des Vorhabens der Beigeladenen anzuordnen, ist im Ergebnis nicht aus den von der Antragstellerin dargelegten Gründen zu beanstanden.

I. Zwar greift die Antragstellerin mit der Beschwerdebegründung zu Recht den Ausgangspunkt des Verwaltungsgerichts an, dass keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken gegen die angefochtene Abweichungsentscheidung bestünden, weil vorliegend weder in quantitativer noch in qualitativer Hinsicht eine Belastung der Antragstellerin durch die Abstandsflächenunterschreitung erkennbar sei. Denn bei einer Abweichung von nachbarschützenden Vorschriften – wie hier von § 6 Abs. 5 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 BauO Bln – kann der Nachbar die objektive Rechtswidrigkeit der Abweichung rügen und geltend machen, dass die Voraussetzungen für die Erteilung der Abweichung nach § 68 BauO Bln nicht erfüllt sind. Dabei steht dem Nachbarn ein Abwehrrecht unabhängig davon zu, ob durch die Verkürzun der erforderlichen Abstandsflächen, die mit der Abweichung zugelassen wurde, eine tatsächliche Beeinträchtigung bewirkt wird (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. März 2006 – OVG 10 S 7.05 -, juris Rn. 27; OVG Berlin, Urteil vom 11. Februar 2003 – 2 B 16.99 -, juris Rn. 29).

Der Senat folgt der Antragstellerin auch darin, dass die Erteilung einer Abweichung von Abstandsflächenvorschriften nur in Ausnahmefällen bei Vorliegen einer atypischen Grundstückssituation zulässig ist. Nach § 68 Abs. 1 Satz 1 BauO Bln kann die Bauaufsichtsbehörde Abweichungen u.a. von Anforderungen dieses Gesetzes zulassen, wenn sie unter Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung und unter Würdigung der öffentlich-rechtlich geschützten nachbarlichen Belange mit öffentlichen Belangen, insbesondere den Anforderungen des § 3 Abs. 1 BauO Bln, vereinbar sind. Bei den im 2. Halbsatz von § 68 Abs. 1 Satz 1 BauO Bln genannten Anforderungen handelt es sich um Tatbestandsvoraussetzungen, deren Auslegung und Anwendung der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt (vgl. Knuth in: Wilke/Dageförde/Knuth/Meyer/Broy-Bülow, Bauordnung für Berlin, 6. Aufl. 2008, § 68 Rn. 7). Aus dem Merkmal der „Berücksichtigung des Zwecks der jeweiligen Anforderung“ folgt im Falle von Abweichungen von Abstandsflächenvorschriften, dass die Schutzziele des Abstandsflächenrechts zu berücksichtigen sind, die darin liegen, eine ausreichende Belichtung, Besonnung und Belüftung des Grundstücks zu sichern sowie einen ausreichenden Sozialabstand im Interesse des Wohnfriedens zu wahren (vgl. Broy-Bülow in: Bauordnung für Berlin, a.a.O., § 6 Rn. 15). Diese Schutzziele werden gewährleistet durch das in § 6 BauO Bln geregelte, in sich geschlossene System der Abstandsflächenvorschriften, das eine zentimetergenaue Bestimmung der Abstandsflächen vorschreibt (vgl. Abs. 4 und 5) und eigene Regel- und Ausnahmetatbestände beinhaltet (vgl. Abs. 6 und 7). Infolgedessen werden die schutzwürdigen und schutzbedürftigen Interessen der betroffenen Grundstücksnachbarn sowie die relevanten öffentlichen Belange regelmäßig schon durch die Vorschrift des § 6 BauO Bln in einen gerechten Ausgleich gebracht. Nach der durch den Landesgesetzgeber im Jahr 2005 vorgenommenen Verkürzung des Abstandsmaßes von 1 H auf 0,4 H gewährleisten diese Regelungen außerdem nur noch einen bauordnungsrechtlich zu sichernden Mindeststandard (vgl. Urteil des Senats vom 18. Dezember 2007 – 2 A 3.07 -, juris Rn. 93). Abstandsflächenvorschriften dürfen daher lediglich in atypischen Situationen durch die Anwendung von § 68 BauO Bln ergänzt, nicht aber grundsätzlich relativiert werden (vgl. zu § 60 BbgBO, Beschluss des Senats vom 16. Februar 2012 – OVG 2 N 110.11 -, BA S. 4), wobei regelmäßig nur eine grundstücksbezogene Atypik eine Abweichung rechtfertigen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 5. März 2007 - 10 B 274/07 -, juris Rn. 17). Eine solche kann sich z.B. aus Besonderheiten der Lage und des Zuschnitts der benachbarten Grundstücke zueinander oder aus topografischen Besonderheiten des Geländeverlaufs ergeben. Sie mag beispielsweise in Fällen gegeben sein, in welchen die gemeinsame Grundstücksgrenze bei geschlossener Bauweise nicht parallel im rechten Winkel zur Straße verläuft, sondern schräg, so dass die Abstandsfläche der hinteren Gebäudeaußenwand in Teilen auf dem Nachbargrundstück liegt, obwohl das Gebäude parallel zur Straße errichtet ist (vgl. eine Atypik in einem solchen Fall bejahend: OVG Nordrh.-Westf., Beschluss vom 2. März 2007 – 10 B 275/07 -, juris Rn. 22; VG Berlin, Urteil vom 30. April 2010 – VG 19 K 43/09 – UA S. 13). Dabei genügt für die Annahme einer grundstücksbezogenen Atypik nicht irgendeine Besonderheit im Grundstückszuschnitt des Vorhabengrundstücks, sondern nur eine solche, die zur Folge hat, dass die Bebaubarkeit unter Berücksichtigung von Abstandsflächenvorschriften in besonderem Maße erschwert wäre. Hingegen begründen Wünsche eines Eigentümers, sein Grundstück stärker auszunutzen, als dies ohnehin schon zulässig wäre, keine Atypik (vgl. OVG Nordrh.-Westf., Beschluss vom 5. März 2007, a.a.O., juris Rn. 17). Ebenso wenig genügt der Umstand, dass das Nachbargrundstück von einer Verkürzung der Abstandsfläche nicht stark betroffen ist, für die Annahme einer atypischen Grundstückssituation.

Mit der Antragstellerin ist des Weiteren davon auszugehen, dass eine atypische Grundstückssituation vorliegend nicht erkennbar ist. Die gemeinsame Grundstücksgrenze verläuft im rechten Winkel zur Jägerstraße und weist im Bereich des geplanten Innenhofs einen zweifachen – ebenfalls rechtwinkligen - Versatz auf. Dieser Verlauf der Grundstücksgrenze, der auf einer unzulässigen Grundstücksteilung beruhen dürfte, mag zwar ungewöhnlich sein, er macht indessen nicht die Verletzung der Abstandsflächenvorschriften notwendig, die Gegenstand der Befreiungsentscheidung sind. Diese werden vielmehr ausgelöst durch die Wünsche der Beigeladenen, die ihr Vorhaben in Bereichen, in denen planungsrechtlich an vorhandene Brandmauern anzubauen ist, mit mehreren Staffelgeschossen, einer Dachterrasse, die durch eine nicht grenzständige Außentreppe erschlossen werden soll, und mit zwei Balkonen, die einen unzulässigen Abstand zur Brandwand aufweisen, ausgestalten will. Der Zuschnitt des Grundstücks weist keine Besonderheiten auf, die es der Beigeladenen unzumutbar erschweren würden, dieses unter Einhaltung von Abstandsflächenvorschriften wirtschaftlich auszunutzen. Das Grundstück wäre vielmehr problemlos unter Beachtung der Mindestmaße der Tiefe der Abstandsfläche von 0,4 H bebaubar, z.B. indem das Vorhaben der Beigeladenen zu Grunde gelegt wird, jedoch auf das in Form eines Staffelgeschosses geplante 5. Obergeschoss einschließlich der Dachterrasse verzichtet würde (Abweichungen Nr. 149.1 bis 149.3), anstelle der zum Innenhof geplanten Terrasse für das 4. Obergeschoss dieses ohne Staffelung im Bereich des Innenhofes bis zur Grundstücksgrenze weitergeführt würde (Abweichung Nr. 149.4) und die im rückwärtigen Grundstücksbereich geplanten Balkone auf die nach § 6 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a) BauO Bln zulässige Tiefe von 1,50 m beschränkt würden (Abweichungen Nr. 149.5 und 149.6).

Der von der Beigeladenen in ihren Schriftsätzen vom 6. August und 18. September 2012 vertretenen Auffassung, die atypische Grundstückssituation liege hier darin, dass für die gesamte Grundstücksgrenze planungsrechtlich die geschlossene Bauweise gelte und gemäß § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO Bln Abstandsflächen deshalb überhaupt nicht erforderlich seien, ist nicht zu folgen. Dabei kann hier dahinstehen, ob die Annahme der Beigeladenen zutrifft, dass auch außerhalb desjenigen Teils der Grundstücksgrenze, der auf dem Grundstück der Antragstellerin eine Brandwand aufweist, planungsrechtlich an die Grenze gebaut werden muss oder darf im Sinne von § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO Bln. Selbst wenn man dies unterstellt, folgte daraus nicht, dass die Einhaltung von Abstandsflächen in Bezug auf die hier streitgegenständlichen Teile der Außenwand des Vorhabens der Beigeladenen entbehrlich ist. Nach § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO Bln ist eine Abstandsfläche nicht erforderlich vor Außenwänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen Vorschriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Diese Vorschrift räumt nach ihrem eindeutigen Wortlaut dem bundesrechtlichen Planungsrecht nur dann den Vorrang gegenüber dem Bauordnungsrecht ein, wenn die Außenwände tatsächlich an der Grundstücksgrenze errichtet werden. Dies ist jedoch in Bezug auf diejenigen Teile der Außenwände, die die streitgegenständlichen Abstandsflächenüberschreitungen auslösen, gerade nicht der Fall. § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO Bln räumt dem Bauherrn hingegen kein Recht ein, anstelle einer bauplanungsrechtlich zulässigen Grenzbebauung in einem geringeren Abstand, als in den Abstandsflächenbestimmungen vorgesehen, an die Grenze zu bauen. Macht ein Bauherr von einer ihm ggf. bauplanungsrechtlich eingeräumten Option einer grenzständigen Bebauung keinen Gebrauch – wie hier durch die Schaffung von nicht grenzständigen Staffelgeschossen einschließlich Dachaufbauten bzw. Balkonen – müssen die nicht grenzständig errichteten Teile der Außenwand ihrerseits die landesrechtlichen Abstandserfordernisse einhalten (vgl. OVG Nordrh.-Westf., Beschluss vom 17. Juli 2008 – 7 B 195/08 -, juris Rn. 18).

Der These der Beigeladenen, dass lediglich die offene Bauweise der „Normalfall“ sei, von dem § 6 Abs. 1 Satz 1 BauO Bln ausgehe, weshalb bei geschlossener Bauweise eine atypische Grundstückssituation vorliege, folgt der Senat ebenfalls nicht. Wie dargelegt, liegt eine atypische Grundstückssituation nur vor, wenn im Einzelfall grundstücksbezogene Besonderheiten vorliegen, die dazu führen, dass die Bebaubarkeit des Grundstücks unter Berücksichtigung von Abstandsflächenvorschriften in besonderem Maße erschwert wäre. Hingegen darf die Erteilung einer Abweichung nicht zu einer Aufweichung des Mindeststandards von 0,4 H – der auch für Baugebiete mit geschlossener Bauweise gilt, soweit der Vorrang des Bauplanungsrechts nach § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO Bln nicht eingreift - führen. Darauf liefe jedoch die Annahme einer atypischen Grundstückssituation in allen Fällen, in denen bauplanungsrechtlich eine geschlossene Bauweise gegeben ist, hinaus. Auch die von der Beigeladenen angeführten Gesetzesmaterialien zur Streichung von § 6 Abs. 13 BauO Bln a.F. stützen diese Auffassung nicht. Im Gegenteil kommt darin zum Ausdruck, dass die in der bis zur Neufassung der Bauordnung Berlin im Jahr 2005 geltende Regelung des Abstandsflächenrechts, wonach unter bestimmten Voraussetzungen in überwiegend bebauten Gebieten im Einzelfall geringere Tiefen der Abstandsflächen gestattet werden konnten, vor dem Hintergrund der Reduzierung des allgemeinen Maßes der Abstandsflächentiefe von 1 H auf 0,4 H für überflüssig gehalten wurde (vgl. Gesetzesbegründung zu § 6, AbgH-Drs 15/3926, S. 66). Der Streichung liegt somit die Annahme zu Grunde, dass nach der vorgenommenen Reduzierung des Maßes der Abstandsflächentiefe eine weitere Verringerung der Tiefen von Abstandsflächen in überwiegend bebauten Gebieten nicht mehr in Betracht kommt, weil sich nach der Einschätzung des Gesetzgebers Unterschreitungen des jetzigen Mindestniveaus von 0,4 H kaum mehr begründen lassen (vgl. Gesetzesbegründung, a.a.O., S. 69). Dass in der Gesetzesbegründung darauf verwiesen wird, dass „im Einzelfall über eine Abweichung (§ 68)“ entschieden werden müsse, lässt sich nicht als Anhaltspunkt dafür werten, dass der Gesetzgeber davon ausging, dass mit der gesetzlichen Neuregelung unter denselben Voraussetzungen wie bislang nach § 6 Abs. 13 BauO a.F. Ausnahmen von dem abgesenkten Mindestniveau von nur noch 0,4 H zuzulassen seien.

II. Dennoch ist der angefochtene Beschluss nicht abzuändern, weil er im Ergebnis aus anderen Gründen zutreffend ist.

1. Dies folgt zwar – entgegen der im Schriftsatz vom 19. Oktober 2012 vertretenen Auffassung der Beigeladenen – nicht bereits daraus, dass die Klage der Antragstellerin schon deshalb keine Erfolgsaussichten hat, weil die streitgegenständlichen Abweichungen auf dem bestandskräftigen Vorbescheid Nr. 2008/10907 vom 23. Dezember 2008 beruhen und deshalb im vorliegenden Verfahren nicht mehr in Frage gestellt werden können. Denn der genannte Vorbescheid begründet jedenfalls in Bezug auf die bauordnungsrechtliche Frage der einzuhaltenden Abstandsflächenvorschriften keine Bindungswirkung. Der sachliche Umfang der Bindungswirkung eines Vorbescheids ergibt sich aus den im Vorbescheidsantrag gestellten Fragen und den mit dem Antrag eingereichten Bauvorlagen. Diese bezogen sich hier ausschließlich auf die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens nach § 34 BauGB und nicht auf bauordnungsrechtliche Belange. Keine der gestellten Fragen bezog sich auf abstandsflächenrechtliche Bestimmungen oder auf die Möglichkeit der Erteilung von Abweichungen. In dem mit der Bauvoranfrage eingereichten Lageplan vom 24. November 2008 waren Abstandsflächen auch nicht eingezeichnet. Dementsprechend werden im Bauvorbescheid die im Antrag gestellten Fragen unter der Überschrift „Bauplanungsrecht“ abgehandelt und es wird zur Begründung ausschließlich auf § 34 BauGB Bezug genommen. Unter der Überschrift „Hinweis“ wird außerdem ausdrücklich in Bezug auf eine Abstandsfläche, die auf einem anderen Grundstück liege, darauf hingewiesen, dass das Vorhaben erst mit „Heilung dieses Verstoßes gegen § 6 Abs. 2 BauO Bln“ – anders gewendet: mit Erteilung einer Abweichung - zulässig werde. Auch hieraus folgt, dass der Vorbescheid sich ausschließlich zur bauplanungsrechtlichen Zulässigkeit des Vorhabens verhält. Vor diesem Hintergrund kann dahinstehen, ob es sich bei dem nunmehr geplanten Vorhaben der Beigeladenen, für das die streitgegenständliche Abweichungsentscheidung vom 1. September 2011 ergangen ist, außerdem um ein anderes Vorhaben als das mittels Vorbescheid vom 23. Dezember 2008 ausschnittsweise beurteilte Vorhaben handelt und auch deshalb eine Bindungswirkung nicht angenommen werden kann (vgl. Bayer. VGH, Beschluss vom 4. August 2011 – 2 CS 11.997 -, juris Rn. 8).

2. Die Erfolgsaussichten der Klage der Antragstellerin gegen die Abweichungsentscheidung vom 1. September 2011 sind jedoch als offen anzusehen (hierzu unter a.), wobei die in diesem Fall gebotene Interessenabwägung ergibt, dass dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen der Vorrang einzuräumen ist (hierzu unter b.).

a. Die Erfolgsaussichten der Klage lassen sich im vorliegenden Verfahren nicht abschließend beurteilen, weil eine Berufung der Antragstellerin auf die Rechtswidrigkeit der Entscheidung über die Abweichung von Abstandsflächenvorschriften wegen wechselseitiger Abstandsflächenunterschreitung als treuwidriges Verhalten und unzulässige Rechtsausübung zu bewerten sein könnte. Denn unter Umständen wahren Teile des auf ihrem Grundstück aufstehenden Gebäudes – nämlich die zum gemeinsamen Innenhof führenden Außenwände – ebenfalls nicht die gebotenen Abstandsflächen zum Grundstück der Beigeladenen. Es ist denkbar, dass dieser Einwand gegenüber allen der im Bescheid vom 1. September 2011 unter den Nummern 149.1 bis 149.6 zugelassenen Abweichungen durchgreift und nicht nur gegenüber denjenigen, die den geplanten gemeinsamen Innenhof betreffen, da sämtliche Abweichungen dieselbe gemeinsame Grundstücksgrenze betreffen.

In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass der Grundsatz, dass ein Nachbar, zu dessen Lasten gegen Abstandsflächenvorschriften verstoßen wird, dies in aller Regel als Verletzung seiner Nachbarrechte geltend machen kann, eine Ausnahme erfährt, wenn ein wechselseitiger Verstoß gegen das Abstandsflächenrecht vorliegt. Das nachbarliche Gemeinschaftsverhältnis stellt ein System nachbarlicher Ausgleichs- und Rücksichtnahmepflichten dar. Danach ist es als treuwidriges Verhalten und unzulässige Rechtsausübung zu bewerten, wenn der Nachbar vom Bauherrn die Beachtung einer Vorschrift einfordert, die er selbst zu Lasten des Bauherrn nicht einhält. Das allgemeine Rechtsverständnis billigt es einem Grundstückseigentümer nicht zu, rechtliche Abwehrmaßnahmen gegen eine durch einen Nachbar hervorgerufene Beeinträchtigung zu ergreifen und zugleich diesem Nachbarn quasi spiegelbildlich dieselbe Beeinträchtigung zuzumuten. In einem solchen Fall ergibt sich erst aus der Störung des nachbarlichen Gleichgewichts und nicht schon aus der Abweichung von öffentlich-rechtlichen Normen der Abwehranspruch des Nachbarn. Daher kann ein Grundstücksnachbar gegen die Verletzung abstandsflächenrechtlicher Vorschriften Abwehrrechte grundsätzlich insoweit nicht geltend machen, als die Bebauung auf seinem Grundstück gegenüber dem Nachbargrundstück in vergleichbarem Umfang die nach dem geltenden Recht erforderlichen Abstandsflächen nicht einhält, wobei eine quantitativ und qualitativ wertende Betrachtung der mit der Verletzung der Abstandsflächenvorschriften einhergehenden Beeinträchtigungen vorzunehmen ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 11. August 2010 – OVG 10 N 17.07 -, juris Rn. 13, und vom 18. August 2006 – OVG 2 N 359.04 -, BA S. 2; OVG Berlin, Urteil vom 11. Februar 2003, a.a.O., Rn. 29 f.).

Eine Prüfung der hier in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Tatsachen- und Rechtsfragen ist im vorläufigen Rechtsschutzverfahren weder möglich noch geboten und muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Entgegen der im Schriftsatz der Antragstellerin vom 10. Dezember 2012 vertretenen Auffassung ist vorliegend ein wechselseitiger Verstoß gegen Abstandsflächenvorschriften nicht bereits deshalb ausgeschlossen, weil die Abstandsflächenverletzungen zu Lasten ihres Grundstücks von einem Grundstück – dem Flurstück 151 - ausgehen, bezüglich dessen von dem Gebäude auf ihrem Grundstück keine Abstandsflächenunterschreitungen ausgehen, da diese ausschließlich auf das Flurstück 148 fallen. Diese Argumentation übersieht, dass es sich bei den im Eigentum der Beigeladenen stehenden Flurstücken 148 und 151 um ein Baugrundstück im bauordnungsrechtlichen Sinne handelt. Aus dem Verwaltungsvorgang ergibt sich, dass unter dem 15. Juli 2011 eine Baulast eingetragen worden ist, wonach das Flurstück 148 zusammen mit dem Flurstück 151 bauordnungsrechtlich als ein Baugrundstück gilt, solange das Gebäude auf dem Grundstück der Beigeladenen besteht.

Es bedarf der Klärung im Hauptsacheverfahren, ob durch die zum geplanten gemeinsamen Innenhof führenden Außenwände der auf dem Grundstück der Antragstellerin vorhandenen Bebauung Abstandsflächenvorschriften verletzt werden oder ob nach § 6 Abs. 1 Satz 3 BauO Bln wegen des Vorrangs des Bauplanungsrechts insoweit Abstandsflächen nicht erforderlich sind. Letzteres könnte der Fall sein, wenn nach Bauplanungsrecht vorliegend auch im Bereich des geplanten gemeinsamen Innenhofs im rückwärtigen Teil des Grundstücks, das straßenseitig eine geschlossene Blockrandbebauung aufweist, an die Grundstückgrenze gebaut werden muss oder darf. Allein auf Grundlage der in den Akten befindlichen Luftbilder, deren Aufnahmedatum nicht bekannt ist und die den Verlauf der Flurstücksgrenzen in der näheren Umgebung nicht erkennen lassen, lässt sich die planungsrechtliche Situation nach § 34 BauGB nicht beurteilen. Außerdem kann im vorliegenden Verfahren mangels ausreichender tatsächlicher Informationen keine Bewertung getroffen werden, ob die Bebauung auf dem Grundstück der Antragstellerin – unterstellt, sie verletzt im Bereich des geplanten Innenhofs Abstandsflächenvorschriften - gegenüber dem Grundstück der Beigeladenen in vergleichbarem Umfang die erforderlichen Abstandsflächen nicht einhält. Hierfür wäre in einem ersten Schritt eine rechnerische Gegenüberstellung der Größe sämtlicher Abstandsflächen anzustellen, die einerseits den erteilten Abweichungen zu Grunde liegen und sich auf das Grundstück der Antragstellerin erstrecken und andererseits durch das bestehende Gebäude auf dem Grundstück der Antragstellerin auf das Grundstück der Beigeladenen fallen („quantitative Betrachtung“). Schon diese Betrachtung ist im vorliegenden Verfahren nicht möglich, weil es an einer zeichnerischen Darstellung der Abstandsflächen, die auf das Grundstück der Beigeladenen fallen, fehlt und die von den Beteiligten im Beschwerdeverfahren zu den Maßen des Gebäudes auf dem Grundstück der Antragstellerin gemachten Angaben uneinheitlich bzw. ungenau sind.

b. Die im Falle offener Erfolgsaussichten nach §§ 80a Abs. 3, 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung ergibt, dass dem Vollzugsinteresse der Beigeladenen der Vorrang einzuräumen ist. Sind bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung offen, so hängt die Entscheidung von einer Abwägung der widerstreitenden privaten und öffentlichen Interessen ab. Der Antrag hat dann Erfolg, wenn das Interesse des Antragstellers, bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens von der Ausführung des genehmigten Vorhabens verschont zu bleiben, das Interesse des von der Abweichung Begünstigten an der unverzüglichen Ausnutzung derselben sowie ein gegebenenfalls bestehendes (gleichgerichtetes) öffentliches Interesse überwiegt (vgl. OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 28. September 2012 – 10 S 21.12 -, juris Rn. 4). In Fällen der „bauaufsichtliche(n) Zulassung eines Vorhabens“ i.S.v. § 212a BauGB, worunter jedenfalls eine zeitgleich und unter Bezugnahme auf die Baugenehmigung erteilte Abweichungsentscheidung nach § 68 BauO Bln fällt (vgl. Beschluss des Senats vom 27. Januar 2012 – OVG 2 S 50.10 -, juris Rn. 3), ist bei der Abwägung zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber dem Interesse an der Verwirklichung des Bauvorhabens „auf eigenes Risiko“ – also ohne bestandskräftige Genehmigung – grundsätzlich den Vorrang eingeräumt hat (vgl. Kalb/Külpmann in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, Stand: September 2012, § 212a Rn. 47). Zwar bedeutet der durch § 212a Abs. 1 BauGB angeordnete Wegfall des Suspensiveffekts nicht, dass sich das Vollzugsinteresse regelmäßig durchsetzt und sich die bei offenem Prozessausgang durchzuführende Interessenabwägung erübrigen würde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 14. April 2005 – 4 VR 1005/04 -, juris Rn. 12). Es bedarf aber der Darlegung weiterer Umstände durch den sich gegen die Zulassungsentscheidung wendenden Antragsteller, um eine von § 212a Abs. 1 BauGB abweichende Entscheidung zu rechtfertigen. Solche Umstände hat die Antragstellerin nicht dargetan. Sie hat sich im vorläufigen Rechtsschutzverfahren lediglich auf die objektive Rechtswidrigkeit der angegriffenen Abweichungsentscheidung berufen und nicht geltend gemacht, durch die damit legalisierten Abstandsflächenverkürzungen in besonderem Maße belastet zu sein. Angesichts dessen bleibt es im vorliegenden Fall bei der gesetzgeberischen Wertung, dass dem Bauen auf eigenes Risiko der Vorrang einzuräumen und der Nachbar für eine Realisierung etwaiger Abwehransprüche auf den Zeitpunkt nach einem Obsiegen in der Hauptsache zu verweisen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 2, 162 Abs. 3 VwGO. Insoweit entspricht es billigem Ermessen, der Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen aufzuerlegen, die einen Antrag gestellt und sich damit selbst einem Kostenrisiko ausgesetzt hat.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG, wobei der Senat der von den Beteiligten insoweit nicht angegriffenen Entscheidung des Verwaltungsgerichts folgt.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).