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Pflegestufe - Herabsetzung


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 27. Senat Entscheidungsdatum 08.03.2012
Aktenzeichen L 27 P 75/11 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 48 SGB 10

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 24. Oktober 2011 sowie der Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2009 aufgehoben.

Die Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der 1957 geborene Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung der bei ihm anerkannten Pflegestufe II auf die Pflegestufe I in der gesetzlichen Pflegeversicherung.

Auf den im September 2005 gestellten Antrag des Klägers, der u.a. an einem inkompletten Querschnittsyndrom mit Lähmung der Beine leidet, holte die Beklagte das MDK-Gutachten vom 28. Dezember 2005 ein, in welchem die Pflegefachkraft T einen Zeitaufwand in der Grundpflege von 33 Minuten am Tag ermittelte (Körperpflege: 25 Minuten, Ernährung: 0 Minuten, Mobilität: 8 Minuten). Gegen den Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 9. Januar 2006 erhob der Kläger Widerspruch. Im Widerspruchsverfahren veranlasste die Beklagte eine erneute Begutachtung durch den MDK. Der Arzt St stellte in seinem Gutachten vom 3. Juli 2006 mit ergänzender Stellungnahme vom 24. Juli 2006 einen Zeitaufwand in der Grundpflege von 191 Minuten am Tag fest (Körperpflege: 99 Minuten, Ernährung: 55 Minuten, Mobilität: 37 Minuten). Daraufhin gewährte die Beklagte dem Kläger mit teilweise stattgebendem Widerspruchsbescheid vom 2. August 2006 Leistungen der Pflegestufe II ab 1. Juni 2006 (dem Tag der Krankenhausentlassung).

In der Folgezeit ließ die Beklagte den Pflegebedarf des Klägers nachprüfen: Im Gutachten vom 5. Juli 2007 ermittelte die Pflegefachkraft M bei dem Kläger einen Zeitaufwand in der Grundpflege von 138 Minuten am Tag (Körperpflege: 91 Minuten, Ernährung: 0 Minuten, Mobilität: 47 Minuten). Die Pflegefachkraft K schätzte in ihrem Gutachten vom 26. Februar 2009 hingegen den Zeitaufwand in der Grundpflege auf 54 Minuten am Tag ein (Körperpflege: 42 Minuten, Ernährung: 0 Minuten, Mobilität: 12 Minuten). Auf die Einwände des Klägers gegen die Gutachterin veranlasste die Beklagte eine weitere Begutachtung. Im Gutachten vom 16. Juli 2009 stellte die Pflegefachkraft S einen Zeitaufwand in der Grundpflege von 67 Minuten am Tag fest (Körperpflege: 50 Minuten, Ernährung: 1 Minute, Mobilität: 16 Minuten). Auf der Grundlage dieser Gutachten hob die Beklagte mit Bescheid vom 23. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2009 den ursprünglichen Bewilligungsbescheid auf und gewährte dem Kläger ab 1. September 2009 lediglich Leistungen der Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger sich gegen die Aufhebung gewandt. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens der Chirurgin Dr. H vom 23. Januar 2010, die den Zeitaufwand in der Grundpflege auf 98 Minuten am Tag eingeschätzt hat (Körperpflege: 74 Minuten, Ernährung: 0 Minuten, Mobilität: 24 Minuten).

Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 24. Oktober 2011 abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt: Die Herabsetzung der Pflegestufe sei rechtmäßig, da der Kläger keinen Anspruch auf Leistungen der Pflegestufe II mehr habe. Denn aus den MDK-Gutachten vom 26. Februar 2009 und 16. Juli 2009 sowie aus dem Sachverständigengutachten der Chirurgin Dr. H vom 23. Januar 2010 ergebe sich, dass der Grundpflegebedarf des Klägers die für die Pflegestufe II geltende Schwelle von 120 Minuten deutlich unterschreite.

Hiergegen hat der Kläger Berufung eingelegt, mit der er u.a. vorbringt, dass der mit seiner Harn- und Stuhlinkontinenz verbundene Pflegeaufwand nicht hinreichend berücksichtigt worden sei.

Die Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 24. Oktober 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2009 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die Entscheidung des Sozialgerichts für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig und unbegründet.

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 24. Oktober 2011 die Anfechtungsklage des Klägers zu Unrecht abgewiesen, da der Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 23. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2009 rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Bewilligungsbescheides ist § 48 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Zehntes Buch (SGB X), wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei dessen Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist. Hierbei sind die im Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die im Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung vorhanden gewesen sind, zu vergleichen.

Die von der Beklagten durch den Bescheid vom 9. Januar 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. August 2006 getroffene Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe II ist als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zu qualifizieren. Im Vergleich zu den im Zeitpunkt des Aufhebungsbescheides der Beklagten vom 23. Juli 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2009 bestehenden Verhältnissen hat der Senat keine wesentliche Änderung feststellen können.

Voraussetzung ist nach § 37 Abs. 1 SGB XI u. a., dass der Anspruchsteller pflegebedürftig ist und mindestens der Pflegestufe II zugeordnet werden kann. Pflegebedürftigkeit liegt hierbei nach § 14 Abs. 1 SGB XI vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedarf, die nach § 14 Abs. 3 SGB XI in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens oder in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen besteht. Als gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach § 14 Abs. 4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.

Die Zuordnung zur Pflegestufe II setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XI voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens drei Stunden betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als zwei Stunden entfallen müssen.

Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ist in Fällen der vorliegenden Art, in denen um die Herabsetzung einer Pflegestufe im Pflegeversicherungsrecht gestritten wird, nicht bereits dann eingetreten, wenn in einem nach Erlass des Bewilligungsbescheides eingeholten Gutachten der Zeitaufwand in der Grundpflege maßgeblich geringer eingeschätzt wurde als in dem der Bewilligung zu Grunde liegendem Erstgutachten. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass in dem Gesundheitszustand des Betroffenen Änderungen eingetreten sind, die nachvollziehbar den Umfang dessen Hilfebedarfs vermindert haben. Für das Vorliegen dieser Änderung trifft den Beklagten, der sich in dem Aberkennungsbescheid hierauf beruft, die materielle Beweislast.

Der Senat kann vorliegend aus den im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten gutachterlichen Äußerungen nicht die Überzeugung gewinnen, dass die Verhältnisse sich tatsächlich wesentlich geändert hätten. Alleinfalls im Bereich der Ernährung erscheint eine Verminderung des Pflegebedarfs denkbar: Der Arzt St begründete in seinem Gutachten vom 3. Juli 2006 den Zeitaufwand von 55 Minuten damit, dass der Kläger bei der Aufnahme der Nahrung im Hinblick auf seine depressive Erkrankung der Beaufsichtigung und Anleitung bedurfte. Hingegen hat die Sachverständige Dr. H in ihrem Gutachten vom 23. Januar 2010 dargelegt, im Bereich der Ernährung kein Pflegebedarf bestehe, da der Kläger trotz gedrückter Stimmungslage selbständig in der Lage sei, die Nahrung zu sich zu nehmen. Dies kann jedoch dahinstehen. Hinsichtlich der beiden übrigen Bereiche, nämlich Körperpflege und Mobilität, wurde im Gutachten des Arztes St vom 3. Juli 2006, auf welches die Beklagte die Zuerkennung der Pflegestufe II stützte, ein Pflegebedarf von 137 Minuten festgestellt. Es ist nicht nachvollziehbar, dass die tatsächlichen Verhältnisse, die der ursprünglichen Bewilligung zugrunde lagen, sich insoweit tatsächlich wesentlich geändert hätten. Angesichts der stark divergierenden gutachterlichen Beurteilungen, die sich nicht in einem dokumentierten Wechsel des Gesundheitszustandes widerspiegeln, ist der Senat nicht davon überzeugt, dass der Pflegebedarf des Klägers in den Bereichen Körperpflege und Mobilität maßgeblich abgenommen hat: Der Zeitaufwand bei der Körperpflege wurde auf 99 Minuten durch den Arzt St, auf 91 Minuten durch die Pflegefachkraft M, auf 42 Minuten durch die Pflegefachkraft K, auf 50 Minuten durch die Pflegefachkraft S und auf 74 Minuten Chirurgin Dr. H eingeschätzt. Die notwendige Pflege bei der Mobilität wurde von dem Arzt St mit 37 Minuten, von der Pflegefachkraft M mit 47 Minuten, von der Pflegefachkraft K mit 12 Minuten, von der Pflegefachkraft S mit 16 Minuten und von der Chirurgin Dr. H mit 24 Minuten angesetzt. Es spricht deshalb mehr dafür, dass diese Varianz – worauf es bei der Frage der Herabstufung der Pflegestufe gerade nicht ankommt – auf unterschiedlichen subjektiven Bewertungsmaßstäben der Gutachter beruht.

Die Erwägung der Sachverständigen Dr. H in ihrem seitens des Sozialgerichts eingeholten Gutachten vom 23. Januar 2010, dass der Allgemeinzustand des Klägers bei der Begutachtung vom 23. Juni 2006 – also einen Monat nach seiner Krankenhausentlassung noch stark reduziert gewesen sei, sich jedoch inzwischen stabilisiert habe, vermag die Überzeugung des Senats von einer maßgeblichen Verbesserung des Gesundheitszustandes des Klägers nicht zu begründen. Hiergegen spricht, dass nicht nur der begutachtende Arzt St in seinem Gutachten vom 3. Juli 2006 einen die Zuerkennung der Pflegestufe II rechtfertigenden Zeitaufwand in der Grundpflege von mehr als 120 Minuten am Tag feststellt, sondern auch die Pflegefachkraft M in ihrem ein Jahr später erstatteten Gutachten vom 5. Juli 2007.

Schließlich spricht auch gegen die Annahme, der Pflegebedarf habe sich seit der Bewilligung der Pflegestufe II vermindert, dass der ca. 165 bis 170 cm große Kläger, der bei der Untersuchung durch den Arzt St im Juni 2006 mit einem Gewicht von 75 kg noch nahezu normalgewichtig war, bei der letzten MDK-Begutachtung vom 16. Juli 2009 ein Körpergewicht von ca. 125 kg aufwies, da insbesondere die gerichtliche Sachverständige Dr. H betont hat, dass dieses Übergewicht des Klägers zu den die Pflege erschwerenden Faktoren zählt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.