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Kriegsopferversorgung - Überprüfungsverfahren - Versorgungsanspruch - Blindheit als Schädigungsfolge - unmittelbare Kriegseinwirkung - schlechte Versorgung - Mangelernährung - schädigende Einwirkung auf die Leibesfrucht - Blasen- und Nierenbeckenentzündung der Mutter während der Schwangerschaft - Zusammenhang mit Umsiedlung aus Bessarabien - Einnahme des Sulfonamids Prontosil


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 11. Senat Entscheidungsdatum 19.04.2012
Aktenzeichen L 11 VE 85/09 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 1 Abs 1 BVG, § 1 Abs 2a BVG, § 5 Abs 1 BVG

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 7. Oktober 2009 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Kriegsopferversorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).

Der Kläger wurde im siebten Schwangerschaftsmonat 1945 in C geboren. Er ist beidseitig blind. Dabei wurde auf dem linken Auge ein Schielen bereits während des zweiten Lebensjahres des Klägers bemerkt. 1952 wurde linksseitig ein Grauer Star festgestellt und operiert, rechtsseitig wurde eine Sehschwäche bestätigt. 1956 wurde nach weiterer Verschlechterung des Sehvermögens des rechten Auges ein Grauer Star auch dort festgestellt und operiert. Nach einer Nachoperation 1956 rechts entstand ein Sekundärglaukom (Grüner Star), das trotz zweimaliger Operation zur Erblindung führte.

Bereits 1991 beantragte der Kläger bei dem Beklagten eine Beschädigtenversorgung nach dem BVG. Er gab an, dass sich seine Mutter hochschwanger auf der Flucht befunden habe. Sie habe dabei unter anderem einen schweren Bombenangriff auf Potsdam miterlebt, weswegen es zur Frühgeburt des Klägers gekommen sei. Ärztliche Untersuchung und medizinische Behandlung seien nicht möglich gewesen. Aufgrund der schlechten Versorgung mit Lebensmitteln sei er nur mühsam mit Ersatzstoffen am Leben erhalten worden. Im Verwaltungsverfahren gingen eine handschriftliche Erklärung und eine maschinengeschriebene Erklärung der Mutter des Klägers, L S, vom 20. April 1991 und vom 10. Juni 1991 bei dem Beklagten ein. Sie erklärte darin, im fünften Schwangerschaftsmonat aus dem Warthegau geflohen zu sein. Dabei sei sie an einer schweren Grippe erkrankt gewesen und habe die Flucht auf einem offenen Wagen bei -25° erlebt. Auch nach Unterbringung in einem Dorf in B habe sie jede Nacht Fliegeralarm erlebt. Bei einem Bombenangriff auf Potsdam und Umgebung – eine Bombe sei sogar in unmittelbarer Nähe ihres Hauses eingeschlagen - sei ihr Sohn zur Welt gekommen. Dabei sei er noch nicht ausgewachsen gewesen und habe sich aufgrund der Umstände und da es nichts zu essen gegeben habe, nicht entwickeln können. Als ihr Sohn zwei Jahre alt gewesen sei, habe sie festgestellt, dass er auf dem linken Auge nichts habe sehen können. Er sei dann zur Schule gekommen und habe auf dem linken Auge ganz schlecht gesehen. Operationen hätten nichts geholfen. Der Arzt Dr. R aus B habe erklärt, es seien Kriegsschäden an den Augen und dass sich die Augen durch die schlechte Ernährung nicht voll hätten entwickeln können.

Der Beklagte forderte beim Kreiskrankenhaus B Krankengeschichten über stationäre Aufenthalte des Klägers vom 24. November bis 8. Dezember 1951, vom 15. März bis 14. April 1956, vom 18. Juni bis 14. August 1956 und vom 15. September bis 18. Dezember 1956 an. Nach Eingang weiterer Unterlagen – unter anderem eines ärztlichen Untersuchungsbefundes der Ärztin für Allgemeinmedizin Dr. P vom 24. Februar 1992 und eines Arztbriefes des Städtischen Krankenhauses vom 2. Mai 1975 über eine stationäre Behandlung des Klägers vom 5. bis 23. April 1975 – holte der Beklagte ein augenärztliches Gutachten der Fachärztin für Augenheilkunde Dr. V vom 14. April 1993 ein, das diese nach ambulanter Untersuchung des Klägers erstellte und in dem sie für ihr Fachgebiet eine Aphakia operata rechts mit Nachstar und Sekundärglaukom, eine Aphakia operata links mit Amblyopie links, einen Zustand nach perforierender Augenverletzung links 1975 sowie eine Amaurose beidseits diagnostizierte. Der Grad der Behinderung betrage 100. Inwiefern eine intrauterine Fruchtschädigung (dann aber bereits im zweiten bis dritten Embryonalmonat und nicht erst im siebten Schwangerschaftsmonat) oder eine mangelnde Ernährung im Säuglings- und Kleinkindalter auf die Linsenentwicklung Einfluss nähmen, sei zum Teil nur experimentell bestätigt und wissenschaftlich nicht sicher belegbar. Zur geltend gemachten Erblindung als Kriegsnachfolgeschaden könne keine schlüssige Aussage getroffen werden. Es gebe durchaus Aspekte laut Literatur, die einen Zusammenhang wahrscheinlich machen würden; jedoch sei es der Gutachterin nicht möglich, eine Aussage mit großer Wahrscheinlichkeit zu treffen. Nach Einholung einer schriftlichen Stellungnahme des Arztes Dr. S vom 27. Mai 1993 lehnte der Beklagte den Versorgungsantrag des Klägers mit Bescheid vom 6. Juli 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 1994 ab, wogegen der Kläger Klage zum Sozialgericht Frankfurt/Oder erhob (Az. ).

In dem Klageverfahren holte das Sozialgericht eine eingehende Stellungnahme der Mutter des Klägers vom 23. April 1998 ein. Hierin erklärte diese unter anderem, dass ihr Sohn während eines Fronturlaubes ihres Ehemannes im September 1944 gezeugt worden sei. Sie habe das heutige Moldawien im Winter 1940/1941 verlassen müssen. Sie und ihre Familie seien im Warthegau, im Ort „Tanacka“, angesiedelt worden; auf dem langen und schweren Weg dahin sei eine Nierenbeckenentzündung erstmalig aufgetreten. Diese sei nicht gleich erkannt und behandelt worden, so dass sich daraus eine dauerhafte Erkrankung entwickelt habe. Die Lebensmittelversorgung und die Lebenslage hätten sich 1944 sehr schnell verschlechtert. Während der Schwangerschaft habe sie in der Landwirtschaft gearbeitet, wobei durch die Witterungseinflüsse und unpassende Kleidung die Nierenbeckenentzündung wieder aufgetreten sei. Die Nierenbeckenentzündung habe Ende September 1944 begonnen und sei Mitte bis Ende November 1944 wieder abgeklungen. Ein polnischer Arzt habe ihr Medikamente verschrieben, mit denen die Entzündung habe beseitigt werden sollen. Der Urin sei durch die Medizin rot gefärbt gewesen. Durch die Einnahme der Medikamente habe sie Magenbeschwerden bekommen, wodurch häufig Übelkeit und Erbrechen aufgetreten seien. Zum Jahreswechsel 1944/1945 sei sie an einer Grippe erkrankt, sei aber nicht ärztlich behandelt worden und habe dafür auch keine speziellen Mittel bekommen. Im Januar 1945 hätten sie und ihre Familie flüchten müssen und sie habe mit hohem Fieber aus dem Bett gemusst. Sie seien im offenen Wagen bei Temperaturen von -25° bis -28° geflohen. Die wenigen Lebensmittel seien tief gefroren gewesen und hätten zusätzliche Beschwerden verursacht. Beim Schneiden solcher Lebensmittel sei sie mit dem Messer abgerutscht und habe sich in die Hand geschnitten. Ein Sanitäter habe ihre Hand verbunden und ihr eine Spritze gegeben. Inzwischen habe sie zusätzlich einen starken Schnupfen und Husten bekommen und unter starken Kopfschmerzen gelitten; der Sanitäter habe ihr dagegen Tabletten gegeben. In der Nacht vom 26. auf den 27. März 1945 seien Potsdam und Umgebung schwer bombardiert worden. Eine Bombe sei in unmittelbarer Nähe des Hauses eingeschlagen, in dem sie untergebracht gewesen sei. In dieser Nacht sei ihr Sohn geboren worden. Er sei nicht richtig ausgebildet gewesen; die Fontanellen seien offen gewesen, Kinn, Nase und Ohren seien nicht vorhanden gewesen. In den folgenden Tagen sei ihr Sohn gewogen worden; das Gewicht habe nur 1.500 Gramm betragen. Sie habe ihren Sohn nicht stillen können und ihn mit Malzkaffee und etwas Zucker ernähren müssen. Ihr Sohn sei 1952 erstmalig durch Dr. R untersucht worden. Dieser habe festgestellt, dass ihr Sohn auf dem linken Auge geschielt habe und am Grauen Star erkrankt gewesen sei, wodurch das linke Auge erblindet gewesen sei. Auf dem rechten Auge habe eine Sehschwäche vorgelegen. Augenerkrankungen seien weder in ihrer noch in der Familie ihres Mannes vorhanden gewesen. Dr. R habe eine familiär bedingte oder vererbte Augenerkrankung ausgeschlossen. Er habe festgestellt, dass Ursache für die Augenerkrankung ihres Sohnes die Nierenbeckenentzündung und die damit verbundenen Medikamente gewesen seien. Ihr schlechter Gesundheitszustand sowie die Mangelernährung während der Schwangerschaft hätten ebenfalls dazu beigetragen.

In dem Klageverfahren übermittelte der Beklagte ein Gutachten nach Aktenlage des Chefarztes der Klinik für Augenheilkunde des Klinikums Dr. S vom 17. September 1998. Dieser führte aus, dass im Falle des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden dürfe, dass dieser beidseits an einem congenitalen cataract (angeborenen Schichtstar) erkrankt sei. Eine Erbgenese lasse sich nicht völlig ausschließen. In Bezug auf eine mögliche infektiöse Embryopathie oder eine Intoxikation während der ersten Schwangerschaftsmonate führte Dr. S aus, die Cataracta zonularis bei Rötelnerkrankung der Mutter während der ersten drei Schwangerschaftsmonate sei die bekannteste der so genannten Virusembryopathien. Weitere katarakterzeugende infektiöse Embryopathien seien etwa die Encephalitis, Masern, Grippe, Hepatitis, Herpes zoster, Lues, Gonorrhoe, Windpocken, Scharlach und Toxoplasmose. Hinweise auf eine solche Erkrankung der Mutter ergäben sich, außer in Bezug auf die Grippe, nicht. Möglich seien allerdings subklinische und blande Verläufe, die nicht von vornherein eine Diagnose zuließen, vor allem unter den Gegebenheiten einer desolaten Kriegssituation. Andererseits fehlten beim Kläger aber die bei Katarakt aus infektiöser Embryopathie sehr häufig begleitenden Missbildungen an Auge und Körper. Ein eindeutiger Bezug der Erkrankung des Klägers zu einer der genannten Kausalitäten lasse sich also nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen. Eine Verkettung der Augenerkrankung mit der Nierenbeckenentzündung scheine ausgeschlossen. Inwieweit aber die damals verordneten Medikamente embryotoxisch gewirkt haben könnten, lasse sich nicht mehr nachvollziehen. Eine Krankheitsgenese infolge Vitamin-D-Mangels bei Rachitis sei zwar denkbar, doch sei eine Wahrscheinlichkeit insoweit nicht feststellbar. Mit größerer Sicherheit ausgeschlossen sei die Frühgeburtlichkeit als Ursache für den Katarakt. Dass kriegsbedingter Mangel das Auftreten bestimmter Krankheiten begünstige, sei sicher unbestritten. Hieraus kausalitätsbezogene Auswirkungen bis hin zur Entwicklung eines kindlichen Grauen Stares mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ableiten zu wollen, erscheine aber kaum möglich.

In einer ergänzenden Stellungnahme vom 10. Dezember 1998 erklärte L S, sich Ende 1944 bei Flüchtlingen, die aufgenommen worden seien, mit Masern und Röteln angesteckt zu haben. Zu dieser Erklärung holte das Sozialgericht eine ergänzende Stellungnahme bei Dr. S vom 2. Juni 1999 ein, der einräumte, eine Rötelnerkrankung während einer Schwangerschaft sei eine mögliche Ursache für einen angeborenen Grauen Star. Anhaltspunkte dafür, dass die Mutter des Klägers während der Schwangerschaft an Röteln erkrankt sei, fänden sich nach Aktenlage aber nicht. Die Mutter des Klägers erklärte unter dem 8. Juli 1999, von Mitte bis Ende Oktober 1944 an Röteln erkrankt zu sein; Zeugen dafür könne sie nicht benennen.

Das Sozialgericht holte schließlich ein augenärztliches Gutachten bei Dr. med. habil. D vom 24. März 2000 ein, das dieser aufgrund ambulanter Untersuchung des Klägers am 17. Februar 2000 erstellte. Dieser führte aus, dass ein Zusammenhang zwischen dem angeborenen Grauen Star links mehr als rechts und der Nierenbeckenentzündung der Mutter nicht völlig auszuschließen, aber eher unwahrscheinlich sei, da auch in Friedenszeiten sehr viele Schwangere an Nierenbeckenentzündungen leiden würden, bei deren Kindern es zu keiner angeborenen Linsentrübung komme. Ein Zusammenhang zwischen den nicht bekannten Medikamenten, die 1944 den Urin der Mutter rot gefärbt haben, und den Erkrankungen des Klägers erscheine rein spekulativ. Insgesamt sei es nicht möglich festzustellen, dass mit überwiegender Wahrscheinlichkeit die im Jahr 1957 eingetretene Erblindung Folge der dramatischen Umstände der Flucht seiner Mutter im Jahre 1944 sei. Der Kläger nahm daraufhin die Klage zurück.

Am 9. April 2003 erklärten die Bevollmächtigten des Klägers, von diesem beauftragt worden zu sein, „ggf. einen Antrag auf Neufeststellung einzureichen“, und erbaten Akteneinsicht. Am 26. Januar 2005 stellten sie einen Antrag nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Diesem beigefügt war eine mehrseitige Erklärung des Klägers, in dem er ausführte, seine Mutter habe zur Behandlung der Nierenbeckenentzündung im September 1944 das Medikament Prontosil, ein Sulfonamid, erhalten. Dieses sei unter anderem zur Behandlung von Entzündungen der Harnwege eingesetzt worden und habe den Urin rot gefärbt. Der Kläger übermittelte Auszüge aus mehreren Fachbüchern und stellte dar, dass die Plazenta für die meisten Arzneistoffe durchlässig sei. Die größte Gefahr von Missbildungen bestehe in der vierten bis achten Schwangerschaftswoche, die Entwicklung der Augen sei insbesondere in der vierten bis fünften oder fünften bis sechsten Schwangerschaftswoche gefährdet. Zu den Medikamenten, die ein erhöhtes fetotoxisches Risiko darstellten, gehörten auch Sulfonamide. In seinem Schreiben ging der Kläger auch auf die Möglichkeit intrauteriner Fruchtschädigungen infolge Infektionen und Mangelernährung ein. Der Zeitraum, in dem seine Mutter Prontosil habe einnehmen müssen, stimme genau mit dem überein, in dem Missbildungen der Linse verursacht würden. Auch der Zeitraum für die Entstehung von Zahnanomalien treffe zu, denn bei ihm seien nur drei Schneidezähne angelegt, was auch Folge von Störungen in der Entwicklung in der siebten bis achten Schwangerschaftswoche sei.

Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme des Arztes Dr. M vom 17. Februar 2005 lehnte der Beklagte den Überprüfungsantrag, „eingegangen am 09. April 2003“, mit Bescheid vom 18. März 2005 ab. Die Voraussetzungen des § 44 SGB X lägen nicht vor. Denn mit überwiegender Wahrscheinlichkeit liege bei dem Kläger ein Cataracta congenita beidseits mit typischem Strabismus convergens und den krankheitsbedingten Folgeschäden vor. Ein schädigender Vorgang sei nach Aktenlage nicht eindeutig zu beweisen; eine allgemeine Mangelerscheinung stelle keinen Tatbestand nach § 5 BVG dar. Die geltend gemachten Medikamenteneinnahmen mehr oder weniger unbekannter und nicht nachgewiesener Art der Mutter des Klägers während der Schwangerschaft seien für den Versorgungsanspruch nach dem BVG irrelevant. Die Fakten, auf die sich die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs gründe, müssten voll bewiesen sein. Dieser Vollbeweis sei nicht erbracht worden.

Hiergegen legte der Kläger Widerspruch ein. Ein leichter Strabismus convergens und ein leichter Microphthalmus des linken Auges seien vorhanden gewesen; dieser Strabismus convergens sei aber so gering gewesen, das er in keinem Dokument beschrieben worden sei. Er habe auch nicht durch Dr. R beseitigt werden müssen. Ein Strabismus des rechten Auges habe überhaupt nicht vorgelegen. Der Kläger legte seinem Schreiben mehrere Unterlagen bei, unter anderem auch einen Fragebogen für die Neuaufnahmen des Augenarztes Dr. R vom 10. November 1961. Nach Einholung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme der Leitenden Ärztin Dr. R vom 31. Mai 2005 wies der Beklagte den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 22. November 2005 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 15. Dezember 2005 Klage erhoben, mit der er sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren vertieft hat. Er hat darauf hingewiesen, von Dr. R im August 1953 wegen eines angeborenen Grauen Stars zur Operation eingewiesen worden zu sein. 1956 sei er wegen eines Grauen Stars auf dem rechten Auge eingewiesen worden. Seine Eltern hätten fünf Kinder, acht Enkel und sechs Urenkel, von denen niemand außer ihm, dem Kläger, an einem Katarakt oder einer sonstigen Sehschädigung erkrankt sei. Der Kläger hat mehrere Kopien aus dem Archiv des Kreiskrankenhauses B und eine schriftliche Stellungnahme von A D, einer Freundin seiner Mutter, vom 22. Januar 2006 zu den Akten gereicht. Auf Aufforderung des Gerichts hat der Kläger dem Sozialgericht ein Schreiben vom 9. April 2007 übermittelt, in dem er mitgeteilt hat, dass bei seiner Mutter in der zweiten Septemberhälfte 1944 die Blasen- und Nierenbeckenentzündung in schwerer Form wieder aufgetreten sei. In dieser Zeit habe sie das Medikament Prontosil und zur Schmerzlinderung Aspirin eingenommen. In dieser Zeit hätten seine Mutter und deren Schwiegereltern im Warthegau in dem Dorf Tannacker (polnisch Swierczyna) gelebt; die medizinische Untersuchung und Verordnung der Medikamente sei in Kriewen (polnisch Krzywin) erfolgt. Prontosil sei durch einen polnischen Arzt verordnet worden; ein deutscher Arzt sei in der Nähe nicht verfügbar gewesen. Der Kläger hat weiter vorgetragen, eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe d BVG liege vor, weil seine Mutter 1940 auf Befehl der Regierung des Deutschen Reiches zwangsumgesiedelt worden sei. Während dieser Zwangsumsiedlung sei die Mutter auch infolge der schlechten hygienischen Bedingungen an der Blasen- und Nierenbeckenentzündung erkrankt, die nicht rechtzeitig erkannt worden sei und daher einen schweren und chronischen Verlauf genommen habe. Auch liege eine nachträgliche Auswirkung im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe e BVG vor.

Der Beklagte hat dem Sozialgericht eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Versorgungsärztin Dr. H vom 17. Februar 2006 übermittelt.

Das Sozialgericht hat die Klage durch Urteil vom 7. Oktober 2009 abgewiesen. Eine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchstabe a BVG liege nicht vor, insbesondere handele es sich bei der Einnahme des Medikaments Prontosil nicht um eine mit der Zwangsumsiedlung im Jahr 1940 zusammenhängende Tatsache. Denn Krankheiten der hier vorliegenden Art seien zu der fraglichen Zeit mit Prontosil behandelt worden. Auch Mangelzustände hinsichtlich Ernährung und Versorgung stellten keinen besonderen Umstand nach den §§ 1 und 5 BVG dar.

Gegen das ihm am 29. Oktober 2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 24. November 2009 Berufung eingelegt.

Der Senat hat auf Antrag des Klägers nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ein Gutachten bei dem Oberarzt der Klinik und Poliklinik für Augenheilkunde des Universitätsklinikums Dr. S vom 15. September 2011 eingeholt. Dieser hat den Kläger am 14. September 2011 ambulant untersucht und mitgeteilt, dass bei dem Kläger nur links eine angeborene Linsentrübung (kongenitaler Katarakt) vorgelegen habe, rechts habe sich diese erst zu einem späteren Zeitpunkt, als so genannter juveniler Katarakt, entwickelt. Selbst wenn man annähme, dass es sich auch bei der Schädigung des rechten Auges um eine Spätwirkung der Einnahme von Prontosil in der Schwangerschaft der Mutter gehandelt habe, so sei die Blindheit insoweit erst durch Operationskomplikationen aufgetreten. Die Gesundheitsstörungen seien mit überwiegender Wahrscheinlichkeit darauf zurückzuführen, dass die Mutter des Klägers im September 1944 an einer Blasen- und Nierenbeckenentzündung erkrankt sei und zur Behandlung dieser Erkrankung das Medikament Prontosil eingenommen habe. Eine annähernd gleichwertige oder nur mögliche Ursache der Gesundheitsstörungen wäre eine Schädigung direkt durch eine virale Entzündung der Mutter in der Frühschwangerschaft des ersten Triminons. Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage 25 v. H. Denn die Komplikationen durch die Operation der juvenilen Linsentrübung könne nicht auf die Einnahme des Medikaments Prontosil zurückgeführt werden. Der „Gesamt-MdE“ betrage 100 v. H.

Der Beklagte hat zu dem Gutachten des Sachverständigen Dr. S eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Augenheilkunde H vom 22. November 2011 zu den Akten gereicht und diese zusammen mit einer Stellungnahme des Beklagten vom 19. Dezember 2011 dem Sachverständigen Dr. S zur ergänzenden Stellungnahme vorgelegt. In dieser Stellungnahme vom 4. Januar 2012 hat Dr. S erklärt, an seiner Einschätzung festzuhalten. Im Übrigen könne nicht belegt werden, dass die Nierenbeckenentzündung im Jahr 1940 im kausalen Zusammenhang mit der Umsiedlung aufgetreten sei und dass die erneute Erkrankung im Jahr 1944 wiederum im Zusammenhang mit der 1940 aufgetretenen Nierenbeckenentzündung stehe. Eine Mangelernährung der Schwangeren sei keine typische Ursache einer beidseitigen Kataraktbildung.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt/Oder vom 7. Oktober 2009 sowie den Bescheid des Beklagten vom 18. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. November 2005 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Bescheid vom 6. Juli 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 1994 zurückzunehmen, sowie die Erblindung des Klägers als Schädigungsfolge im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes anzuerkennen und dem Kläger hieraus entsprechende Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz bei einem Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit/Grad der Schädigungsfolgen von 100 (v. H.) einschließlich einer Pflegezulage nach Stufe III ab dem 1. April 2003 zu gewähren.

Der Beklage beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt weiter aus, der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchstabe d BVG liege bereits deshalb nicht vor, weil sich diese Vorschrift auf deutsches oder ehemals deutsch besetztes Gebiet beziehe. Bei dem früheren Bessarabien habe es sich aber wohl nie um deutsches Gebiet gehandelt. Die zur damaligen Zeit übliche Behandlung mit Sulfonamiden stelle keinen Schädigungstatbestand dar. Er verweist im Übrigen noch auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme der Fachärztin für Augenheilkunde H vom 23. Februar 2012.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, den Inhalt der Gerichtsakte des Sozialgerichts Frankfurt/Oder sowie den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist nicht begründet. Das Urteil des Sozialgerichts ist zutreffend. Der Bescheid des Beklagten vom 18. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. November 2005 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Er hat keinen Anspruch auf Rücknahme des Bescheides vom 6. Juli 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 1994, auf Feststellung der Erblindung als Schädigungsfolge und auf hieraus abzuleitende Versorgung ab dem 1. April 2003 nach dem BVG.

Der Anspruch besteht nicht nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X. Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist danach der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden nach § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht.

Die Voraussetzungen des § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X liegen nicht vor. Der Bescheid vom 6. Juli 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. April 1994 ist rechtmäßig. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Feststellung seiner Erblindung als Schädigungsfolge und demnach hieraus auch keinen Versorgungsanspruch nach dem BVG.

Der Versorgungsanspruch setzt voraus, dass durch eine - hier allein in Betracht kommende - unmittelbare Kriegseinwirkung (§ 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchstabe a i. V. m. § 5 BVG) eine gesundheitliche (Primär-)schädigung eingetreten ist und Gesundheitsstörungen feststellbar sind, die als (Spät-)folgen dieser Schädigung zu beurteilen sind (so genannte Schädigungsfolgen). Der schädigende Vorgang, die (Primär-)schädigung und die Schädigungsfolgen müssen nachgewiesen sein. Erforderlich ist insoweit eine an Sicherheit grenzende ernste, vernünftige Zweifel ausschließende Wahrscheinlichkeit. Demgegenüber genügt für den ursächlichen Zusammenhang zwischen Schädigung und Schädigungsfolgen die Wahrscheinlichkeit (§ 1 Abs. 3 BVG). Die Wahrscheinlichkeit ist dann gegeben, wenn nach der geltenden ärztlich-wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht, wobei lediglich die Möglichkeit eines Zusammenhangs oder ein zeitlicher Zusammenhang nicht genügen. Nach der im Versorgungsrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung ist ferner zu beachten, dass nicht jeder Umstand, der irgendwie zum Erfolg beigetragen hat, rechtlich beachtlich ist, sondern beachtlich im vorgenannten Sinne sind nur die Bedingungen, die unter Abwägung ihres verschiedenen Wertes wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg diesen wesentlich herbeigeführt haben (vgl. Urteil des Senats vom 29. Juni 2010 - L 11 VK 5/09 - juris).

Hier ist nicht feststellbar, dass die Augenerkrankung und schließlich Erblindung des Klägers auf einer unmittelbaren Kriegseinwirkung beruht. Als unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchstabe a gelten gemäß § 5 Abs. 1 BVG, wenn sie im Zusammenhang mit einem der beiden Weltkriege stehen,

a) Kampfhandlungen und damit unmittelbar zusammenhängende militärische Maßnahmen, insbesondere die Einwirkung von Kampfmitteln,

b) behördliche Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung, mit Ausnahme der allgemeinen Verdunklungsmaßnahmen,

c) Einwirkungen, denen der Beschädigte durch die besonderen Umstände der Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbar drohenden Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt war,

d) schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebiets oder mit der zwangsweisen Umsiedlung oder Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind,

e) nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben.

Folgende Umstände sind als mögliche Ursachen der Augenerkrankung des Klägers, die schließlich zu seiner vollständigen Erblindung geführt hat, zu diskutieren:

1. Die Frühgeburt des Klägers.

2. Die sich an die Frühgeburt anschließende schlechte Versorgung - insbesondere Mangelernährung - des Klägers.

3. Die allgemeine – insbesondere ernährungsbedingte – Mangelsituation, der seine Mutter auch während der Schwangerschaft mit dem Kläger ausgesetzt war.

4. Eine zum Jahreswechsel 1944/1945 erlittene schwere Grippe der Mutter des Klägers.

5. Eine Erkrankung der Mutter während der Schwangerschaft, hier die Blasen- und Nierenbeckenentzündung ab September bis November 1944, die sich seine Mutter erstmalig anlässlich der Umsiedlung aus Bessarabien im Jahre 1940 zugezogen hatte, die infolge unzureichender medizinischer Versorgung einen chronifizierten Verlauf nahm und die während der Schwangerschaft also wieder auftrat.

6. Die Behandlung der Blasen- und Nierenbeckenentzündung mit dem Sulfonamid Prontosil.

Soweit die Mutter des Klägers in ihren Erklärungen vom 10. Dezember 1998 und vom 8. Juli 1999 mitgeteilt hat, an Masern und Röteln erkrankt gewesen zu sein, sollen diese Erkrankungen als mögliche Ursache einer Schädigung des Klägers vorliegend nicht diskutiert werden. Denn diese Erkrankungen sind weder nachgewiesen noch nach § 15 Satz 1 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung glaubhaft gemacht. Denn außer der Erklärung der Mutter des Klägers finden sich keine Anhaltspunkte - Zeugenaussagen oder medizinische Unterlagen -, die auf die genannten Erkrankungen hindeuten könnten. Wenig glaubhaft ist die Erklärung der Mutter des Klägers vor dem Hintergrund, dass sie eine Masern- und Rötelnerkrankung in ihrer eingehenden Stellungnahme vom 23. April 1998 nicht erwähnt hatte, der entsprechende Vortrag vielmehr erst nach Erstellung des Gutachtens nach Aktenlage des Chefarztes der Klinik für Augenheilkunde des Klinikums Dr. S vom 17. September 1998 erfolgt war, in dem Dr. S Masern und Röteln als mögliche katarakterzeugende infektiöse Embryopathien diskutiert hatte.

Von den unter 1. und 2. aufgeführten möglichen Ursachen – Frühgeburt und schlechte Versorgung des Klägers selbst – scheidet die schlechte Versorgung/Mangelernährung als zu entschädigender Tatbestand bereits deshalb aus, weil der Begriff der unmittelbaren Kriegseinwirkung eng auszulegen ist (vgl. die Verwaltungsvorschriften zu § 5 des Bundesversorgungsgesetzes <BVGVwV; abgedruckt bei Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, § 5 BVG>; Rohr/Strässer, BVG, § 5 Nr. 1) und eine solche demnach hier nicht vorlag. Denn Zustände, denen alle Bevölkerungskreise für längere Zeit ausgesetzt waren, wie Mangelzustände hinsichtlich der Ernährung und Versorgung mit Arzneimitteln oder ungenügenden Unterkunftsverhältnisse und dadurch bedingte erhöhte Ansteckungsgefahr, fallen nämlich nicht unter diesen Begriff (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 26. April 1960 - 10 RV 240/57 – juris). Des Weiteren ist für beide unter 1. und 2. genannten Ursachen keine gesundheitliche Primärschädigung nachgewiesen und auch nicht im genannten Sinne wahrscheinlich, dass die Augenerkrankung und Erblindung des Klägers auf den genannten Umständen beruht. Dies folgt bereits aus dem insoweit nachvollziehbaren Gutachten von Dr.Svom 17. September 1998, der im Zusammenhang mit der Mangelernährung - auch nur - „hypothetisch als Ursache“ eine Rachitis-Erkrankung und einen Vitamin A-Mangel diskutiert, für die aber jeweils Anhaltspunkte fehlen. Die Frühgeburtlichkeit – so Dr. S – führe eigentlich nur im Rahmen einer so genannten Retinopathia praematurorum als Folge der Sauerstoffbehandlung im Brutkasten bei unreifen Kindern zum sekundären Grauen Star. Bei einem Sieben-Monats-Kind sei dagegen mit einem regelmäßigen Wachstum der noch unreifen Netzhautgefäße zu rechnen.

Den unter 3. bis 6. genannten Sachverhalten ist gemein, dass sie zu einer Zeit aufgetreten waren, zu der der Kläger noch nicht geboren war. Dies steht seinem Anspruch indes nicht entgegen. Nach der Rechtsprechung des BSG, der sich der Senat anschließt, ist als Opfer des Krieges auch eine solche Person anzusehen, die durch kriegsbedingte und im Übrigen als rechtserheblich anerkannte Schädigungstatbestände als Leibesfrucht so betroffen worden ist, dass sich bei ihr nach der Geburt Gesundheitsstörungen als Folgen der Schädigung zeigen (Urteil vom 24. Oktober 1962 - 10 RV 583/59 - juris). Hat also „jemand wegen einer Schädigung seiner Mutter schon von seiner Zeugung an "nicht die Gesundheit empfangen, die von Schöpfung und Natur für den lebenden Organismus eines Menschen (der Rechtsordnung) vorausgegeben ist" (BGHZ aaO), so steht ihm danach ein "Ausgleichsanspruch" ebenso zu, wie wenn ihm nach seiner Geburt ein schädigendes Ereignis begegnet wäre“ (BSG, Urteile vom 15. Oktober 1963 - 11 RV 1292/61 - und vom 21. Juli 1964 - 8 RV 833/62 -; für den Anspruch eines schwerstbehinderten Kindes aus Inzestbeziehung vgl. BSG, Urteil vom 16. April 2002 - B 9 VG 1/01 R - alle bei juris).

Gleichwohl kommt ein Anspruch des Klägers auch unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung des BSG hier nicht in Betracht. Dies gilt zum einen für den unter 3. vorgestellten Sachverhalt (allgemeine Mangelversorgung der Mutter des Klägers). Die Mangelsituation, namentlich Mangelernährung, der Mutter des Klägers beruhte bereits nicht auf einer unmittelbaren Kriegseinwirkung, weil insoweit ein Mangelzustand vorlag, dem alle Bevölkerungskreise für längere Zeit ausgesetzt waren. Daneben kommt die Mangelernährung der Mutter des Klägers bei einer Gesamtbetrachtung aller vorliegenden Gutachten auch nur als bestenfalls mögliche, nicht aber wahrscheinliche Ursache in Betracht. Dr. S hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 4. Januar 2012 ausgeführt, eine Mangelernährung der Schwangeren sei keine typische Ursache der beidseitigen Kataraktbildung. Dr. V hat in ihrem Gutachten vom 14. April 1993 in diesem Zusammenhang auf experimentelle Studien und hier auf mögliche Fruchtschädigungen infolge eines Tryptophan-Mangels (Trytophan ist eine aromatische Aminosäure, vgl. Wikipedia) oder einer Hypergalaktosämie hingewiesen; abgesehen davon, dass derartige Mangelzustände allenfalls eine mögliche Ursache darstellen könnten, hat der Senat auch keine Anhaltspunkte für das Vorliegen dieser oder anderer in der Literatur als möglich erachteten Mangelzustände. Auch Dr. S diskutiert in seinem Gutachten vom 17. September 1998 Mangelzustände als allenfalls mögliche Ursache.

Die schwere Grippe, die die Mutter des Klägers nach ihrer Erklärung vom 23. April 1998 zum Jahreswechsel 1944/1945 durchgemacht hatte (diskutiert als Ursache 4.), käme grundsätzlich gleichfalls als allenfalls mögliche, nicht aber wahrscheinliche Ursache in Betracht. In dem vom Kläger im Überprüfungsverfahren vorgelegten Buch „Augenerkrankungen“ von Busse wird die Influenza zwar als mögliche Ursache von Linsentrübungen im Kindesalter angegeben (Seite 89). Nach Küchle (Augenerkrankungen im Kindesalter) vollziehen sich die wichtigsten Phasen der Entwicklung des Auges indes in der zweiten bis zwölften Schwangerschaftswoche (Seite 70); die Ursache eines angeborenen Totalstars findet sich in der fünften bis achten Schwangerschaftswoche (Seite 188). Da die Grippe nach Angaben der Mutter des Klägers nach der zwölften Schwangerschaftswoche aufgetreten war, scheidet sie als auch nur mögliche Ursache für die Sehschädigung des Klägers aus. Darüber hinaus ist die Grippe aber auch nicht Folge einer unmittelbaren Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 BVG und somit auch nicht Folge kriegsbedingter und im Übrigen als rechtserheblich anerkannter Schädigungstatbestände gewesen. Kampfhandlungen und damit unmittelbar zusammenhängende militärische Maßnahmen, behördliche Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit Kampfhandlungen oder ihrer Vorbereitung, Einwirkungen, denen der Beschädigte durch die besonderen Umstände der Flucht vor einer aus kriegerischen Vorgängen unmittelbar drohenden Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt war, schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen oder ehemals deutsch besetzten Gebiets oder mit der zwangsweisen Umsiedlung oder Verschleppung zusammenhängenden besonderen Gefahr eingetreten sind und nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge, die einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen haben, sind insoweit nicht erkennbar. Vielmehr ist die Mutter – gegebenenfalls hervorgerufen durch die allgemeine keine unmittelbare Kriegseinwirkung darstellende Mangelsituation – kriegsunabhängig an einer Grippe erkrankt. Nach ihrer Erklärung vom 23. April 1998 war die Mutter des Klägers zum Jahreswechsel 1944/1945 an der Grippe erkrankt, also zu einem Zeitpunkt, als eine unmittelbare Kriegseinwirkung - etwa im Sinne des § 5 Abs. 1 Buchstabe c BVG - keinesfalls vorlag. Die Flucht im Januar 1945 war offenbar zu einem Zeitpunkt erfolgt, als die Mutter des Klägers bereits an der Grippe erkrankt war, so dass die Grippe nicht ursächlich auf der Flucht beruhen kann.

Auch aus der möglichen Ursache einer Blasen- und Nierenbeckenentzündung der Mutter des Klägers (aufgeführt unter 5.) ergibt sich kein Anspruch des Klägers.

Eine Schädigung der Mutter des Klägers im Sinne eines rechtserheblich anerkannten Schädigungstatbestandes würde vorliegend allein durch die Blasen- und Nierenbeckenentzündung im September 1944, die nur deshalb ausgebrochen war, weil die Mutter des Klägers bei unpassender Kleidung während der Feldarbeit allen Witterungseinflüssen ausgesetzt war, nicht vorliegen. Denn isoliert betrachtet läge hierin keine unmittelbare Kriegseinwirkung im Sinne des § 5 BVG begründet, weil keiner der in § 5 BVG genannten Tatbestände vorlag und die im September 1944 ausgebrochene Blasen- und Nierenbeckenentzündung auf der unzureichenden Bekleidung bei Feldarbeit und damit auf einem Mangelzustand beruhte, dem alle Bevölkerungskreise für längere Zeit ausgesetzt waren.

Ein Zusammenhang der Blasen- und Nierenbeckenentzündung im September 1944 mit einem der Tatbestände des § 5 Abs. 1 Buchstabe d BVG wäre allenfalls herstellbar, wenn man diese Erkrankung mit der erstmalig aufgetretenen Nierenbeckenentzündung im Winter 1940/1941 im Rahmen der Umsiedlung der Mutter des Klägers aus Moldawien in Verbindung bringen wollte und diese Verbindung ausreichen ließe. Ob der Tatbestand des § 5 Abs. 1 Buchstabe d BVG in diesem Falle überhaupt erfüllt wäre (vgl. eingehend zur Umsiedlung von Galizien-Deutschen BSG, Urteil vom 17. April 1970 - 10 RV 210/68 - juris), kann offen bleiben. Der Senat merkt allerdings an, dass das Gesetz insoweit eine mit der Umsiedlung zusammenhängende besondere Gefahr verlangt, mithin eine der zwangsweisen Umsiedlung eigentümliche Gefahr (vgl. BSG, Urteil vom 25. Juni 1963 - 10 RV 1015/60 - juris). Ob diese hier unter Hinweis auf die schlechten hygienischen Bedingungen im Rahmen der Umsiedlung hinreichend dargelegt worden ist, erscheint zweifelhaft, zumal die Erkrankung nach Angaben des Klägers und seiner Mutter einen chronischen Verlauf deshalb genommen hat, weil sie nicht rechtzeitig erkannt und behandelt worden ist, ein Umstand, der mit der Umsiedlung jedenfalls nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehen dürfte.

Weiter kann dahinstehen, ob die Blasen- und Nierenbeckenentzündung im September 1944 wirklich im Zusammenhang mit der Nierenbeckenentzündung im Winter 1940/1941 steht, was vom Sachverständigen Dr. S in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 4. Januar 2012 in Zweifel gezogen zu werden scheint. Auch in diesem Falle – wenn man also die im September 1944 aufgetretene Blasen- und Nierenbeckenentzündung als Schädigung der Mutter des Klägers im Sinne des BVG ansehen wollte – wäre der Kläger nicht infolge dieser Schädigung seinerseits in seiner Gesundheit geschädigt worden. Denn ein kausaler Zusammenhang zwischen seiner Augenerkrankung und der Blasen- und Nierenbeckenentzündung seiner Mutter ist nicht wahrscheinlich. Letztgenannte Erkrankung ist nicht wahrscheinliche, sondern bestenfalls mögliche Ursache der Augenerkrankung des Klägers. Insoweit hat bereits Dr. D in seinem Gutachten vom 24. März 2000 mitgeteilt, in der ihm zur Verfügung stehenden Literatur keine Zusammenhänge zwischen einer Blasen- und Nierenbeckenentzündung und einer angeborenen Linsentrübung gefunden zu haben. Im Übrigen litten auch in Friedenszeiten sehr viele Schwangere an Nierenbeckenentzündungen, bei deren Kindern keine angeborene Linsentrübung beobachtet werde. Auch Dr. S hat in seinem Gutachten einen Zusammenhang zwischen der Nierenbeckenentzündung und der Augenerkrankung des Klägers sogar ausgeschlossen, weil andernfalls von einem schweren Nierenschaden mit Retention giftiger Stoffwechselprodukte auszugehen wäre, was aber mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ernsthaftere Konsequenzen für Gesundheit und Leben der Mutter des Klägers gehabt hätte.

Inwieweit nun die Sehschädigung des Klägers durch die Einnahme des Medikaments Prontosil durch die Mutter (Sachverhalt Nr. 6) hervorgerufen worden ist, namentlich, ob der Sachverständige Dr. S den wahrscheinlichen Zusammenhang zwischen der Augenerkrankung des Klägers und der Einnahme des Medikaments Prontosil durch die Mutter des Klägers zur Behandlung ihrer Blasen- und Nierenbeckenentzündung wirklich überzeugend begründet hat, lässt der Senat offen. Denn insoweit wäre der Kläger nicht durch kriegsbedingte und im Übrigen als rechtserheblich anerkannte Schädigungstatbestände als Leibesfrucht so betroffen worden, dass sich bei ihm nach der Geburt Gesundheitsstörungen als Folgen der Schädigung gezeigt haben. Es läge kein Sachverhalt vor, in dem der Kläger „wegen einer Schädigung seiner Mutter schon von seiner Zeugung an nicht die Gesundheit empfangen [hat], die von Schöpfung und Natur für den lebenden Organismus eines Menschen (der Rechtsordnung) vorausgegeben ist“. Denn selbst wenn man die von der Mutter des Klägers vorgetragenen Nebenwirkungen bei der Einnahme von Prontosil - Magenbeschwerden, wodurch häufig Übelkeit und Erbrechen aufgetreten seien - als gegeben und überhaupt als mögliche Schädigung erachten wollte, was angesichts des nur vorübergehenden Charakters dieser Beschwerden kaum vertretbar erscheint (vgl. § 30 Abs. 1 Satz 3 BVG), würde es sich hierbei nicht um eine nach der gebotenen engen Auslegung unmittelbare Kriegseinwirkung handeln. Denn insoweit hat die Mutter des Klägers ein Medikament eingenommen, das im Deutschen Reich zu dieser Zeit zur Behandlung der bei ihr vorliegenden Erkrankung, die im Übrigen kriegsunabhängig bei Schwangeren gehäuft auftritt (so auch der Sachverständige Dr. S in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 4. Januar 2012; vgl. auch die Darstellung der Ursachen der Pyelonephritis bei Wikipedia), ebenfalls kriegsunabhängig gebräuchlich war. Es würde also in der Verwendung des Medikaments Prontosil allenfalls eine Art Mangelzustand im Sinne einer unzureichenden Versorgung mit Arzneimitteln vorliegen, der indes nicht auf dem Krieg, sondern gegebenenfalls einem allgemein „veralteten“ (wobei die besondere Wirksamkeit von Prontosil gegen bakterielle Erkrankungen erst 1935 von dem deutschen Arzt und Bakteriologen Gerhard Domagk entdeckt worden war, der hierfür 1939 den Nobelpreis für Medizin erhielt, vgl. Wikipedia) Stand der medizinischen Wissenschaft beruhen würde; daneben wären diesem „Mangelzustand“ weite Kreise der Bevölkerung ausgesetzt gewesen, so dass – wie bereits dargelegt – auch aus diesem Grund eine unmittelbare Kriegseinwirkung hier nicht vorläge.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Die Revision ist nicht zugelassen worden, weil Gründe hierfür gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG nicht vorliegen.