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Grad der Behinderung; Kind; Hirnschaden


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat Entscheidungsdatum 14.10.2010
Aktenzeichen L 13 SB 53/10 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 69 SGB 9

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 15. Februar 2010 geändert.

Der Beklagte wird unter Änderung seines Bescheides vom 24. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 2006 verpflichtet, für den Kläger ab dem 3. Februar 2005 einen GdB von 50 festzustellen.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Verfahren vor dem Sozialgericht zur Hälfte und für das Verfahren vor dem Landessozialgericht in vollem Umfang zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger begehrt die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von 50.

Der im Dezember 1996 geborene Kläger leidet unter anderem an einer Nierenerkrankung, an Osteoporose, an einer geistigen Behinderung und an einem psychischen Leiden.

Mit Bescheid vom 24. Mai 2005 stellte der Beklagte bei dem Kläger einen GdB von insgesamt 40 fest und stützte dies auf das Vorliegen einer Nierenfunktionseinschränkung und Osteoporose. Die Gewährung von Nachteilsausgleichen lehnte der Beklagte ab. Den Widerspruch wies der Beklagte nach Durchführung weiterer medizinischer Ermittlungen mit Widerspruchsbescheid vom 6. Juli 2006 mit der Begründung zurück, der GdB sei angemessen festgestellt, die Voraussetzungen für Nachteilsausgleiche lägen nicht vor.

Im anschließenden Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat das Gericht Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers eingeholt. Auf Grund richterlicher Beweisanordnung hat am 11. März 2008 die Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin D. M-S ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet und sich am 5. September 2008 hierzu ergänzend geäußert. Hierbei ist sie zu der Einschätzung gelangt, bei dem Kläger bestehe insgesamt ein GdB von 50. Dieser basiere auf einem häufig rezidivierenden nephrotischen Syndrom mit Notwendigkeit einer immunsuppressiven Behandlung (Einzel-GdB 50), einer kortikoidinduzierten Osteoporose, Zustand nach Therapie mit Vitamin D (Einzel-GdB 30), einer bronchialen Hyperreagibilität bei Hausstauballergie (Einzel-GdB 20), einer unspezifischen Störung der Aktivität und Aufmerksamkeit im Rahmen einer Hirnfunktionsstörung (Einzel-GdB 30) und einer emotionalen Anpassungsstörung als Folge einer chronischen Überlastungsreaktion (Einzel-GdB 30).

Mit Urteil vom 15. Februar 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen: Der Kläger habe keinen Anspruch auf Zuerkennung eines höheren GdB und von Nachteilsausgleichen. Unter Anwendung der versorgungsmedizinischen Grundsätze könne das Gericht allerdings der Einschätzung der Sachverständigen bei der Bestimmung der Einzel-GdB’s und des Gesamt-GdB’s nicht folgen. Das nephrotische Syndrom sei mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewerten. Für die emotionale Anpassungsstörung sei ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen. Die übrigen festgestellten Einschränkungen führten nicht zu einer Erhöhung des GdB. Auch die Voraussetzungen für die Nachteilsausgleiche seien nicht gegeben.

Gegen dieses ihm am 22. Februar 2010 zugestellte Urteil hat der Kläger am 19. März 2010 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Darin macht er die Ansprüche auf Feststellung von Nachteilsausgleichen nicht mehr geltend, beansprucht aber die Feststellung eines Grades der Behinderung von 50. Zur Begründung beruft er sich auf die Einschätzungen der Sachverständigen Dr. M-S.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 15. Februar 2010 zu ändern und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 24. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 2006 zu verpflichten, bei ihm mit Wirkung vom 3. Februar 2010 einen GdB von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise weitere Sachaufklärung im Hinblick auf den Hirnschaden des Klägers vorzunehmen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Während des Berufungsverfahrens ist eine ergänzende Stellungnahme der Sachverständigen Dr. M-S vom 19. Februar 2010 zu den Akten gelangt. Darin hat sie mit ergänzenden Begründungen an den beschriebenen Einzel-GdB’s und auch der Einschätzung des Gesamt-GdB festgehalten.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsakten des Beklagten, welche im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers hat im jetzt aufrechterhaltenen Umfang Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 15. Februar 2010 und der Bescheid des Beklagten vom 24. Mai 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Juli 2006 waren zu ändern und der Beklagte zu verpflichten, bei dem Kläger mit Wirkung vom 3. Februar 2005 einen GdB von 50 festzustellen. Der Anspruch auf Feststellung des GdB beruht auf § 69 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch/ Neuntes Buch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden auf Antrag des behinderten Menschen das Vorliegen einer Behinderung und den Grad der Behinderung fest. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als GdB nach Zehnergraden abgestuft festgestellt. Nach Satz 5 der Vorschrift finden die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes und der aufgrund des § 30 Abs. 17 des Bundesversorgungsgesetzes erlassenen Rechtsverordnung entsprechende Anwendung. Die hiernach heranzuziehende Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10. Dezember 2008 (im Folgenden: Versorgungsmedizinische Grundsätze) gebietet im Falle des Klägers, dass bereits auf Grund der Auswirkungen des bei ihm festzustellenden Hirnschadens ein GdB von jedenfalls 50 anzunehmen ist. Nach 3.1 a der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ist ein Hirnschaden nachgewiesen, wenn Symptome einer organischen Veränderung des Gehirns – nach Verletzung oder Krankheit nach dem Abklingen der akuten Phase – festgestellt worden sind. Im Vordergrund bei der Feststellung der Funktionsbeeinträchtigungen auf Grund von Hirnschäden soll die nach Nr. 3.1.1 genannte Gesamtbewertung im Vordergrund stehen; die unter Nr. 3.1.2 angeführten isoliert vorkommenden bzw. führenden Syndrome stellen eine ergänzende Hilfe zur Beurteilung dar.

Aufgrund der im vorliegenden Rechtsstreit durchgeführten Beweisaufnahme, insbesondere aufgrund der gutachtlichen Äußerungen der Sachverständigen M-S, ist der Senat zu der Überzeugung gelangt, dass bei dem Kläger ein Hirnschaden im vorgenannten Sinne vorliegt und nachgewiesen ist. Die Sachverständige hat überzeugend und für den Senat vollständig nachvollziehbar dargelegt, dass die Nierenerkrankung des Klägers in der Folge zu einer organischen Veränderung des Gehirns und damit nach Krankheit im Sinne der Ziffer 3.1 a der Versorgungsmedizinischen Grundsätze geführt hat. Zweifel an der Richtigkeit der Feststellungen der Sachverständigen sind für den Senat nicht angezeigt. Die Sachverständige hat als erfahrene Kinderneurologin umfassende Sachkunde auf insbesondere diesem betroffenen Gebiet und hat sich darüber hinaus auch auf vorangegangene testpsychologische Untersuchungen stützen können.

Gemäß 3.1.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze führen Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung zu einem GdB von 50 bis 60. Ein solcher Hirnschaden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung ist im Falle des Klägers gegeben, denn sowohl die im Alltag des Klägers festzustellenden geistigen Einschränkungen – insbesondere im Hinblick auf seine schulische Leistungsfähigkeit – als auch insbesondere die auf dem Hirnschäden beruhenden psychischen Störungen wirken sich im Alltag deutlich aus und sind damit mittelgradig im Sinne der Ziffer 3.1.2 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze. Die jedenfalls mittelgradige Auswirkung im Alltag stellt sich als Folge einer emotionalen Anpassungsstörung auf Grund einer chronischen Überlastungsreaktion bei dem Kläger dar. Der Kläger ist erheblich emotional belastet. Als Folge treten Verlust- und Trennungsängste und ein eindeutig vermindertes Selbstwertgefühl auf. In Situationen, die den Kläger irritieren oder eine komplexe Reaktion abverlangen, ist er oft überfordert und gerät schnell in Panik. Diese durch die Sachverständige Dr. M-S bereits in ihrem Gutachten vom 11. März 2008 festgestellte emotionale Beeinträchtigung ist durch die Sachverständige auch in ihrer jüngsten Äußerung vom 19. Februar 2010 nochmals bestätigt und nachvollziehbar dargelegt worden. Der Senat hat auch insoweit keine Zweifel an dem Vorliegen einer mindestens mittelgradigen, sich im Alltag auswirkenden Folge der emotionalen Beeinträchtigung des Klägers aufgrund des Hirnschadens. Hinzu kommen weitere, von der Sachverständigen ebenfalls nachvollziehbar beschriebene geistige Behinderungen, die dazu führen, dass der Kläger auch in seinen schulischen Leistungen hinter dem altersentsprechenden Stand zurück bleibt. Insgesamt wirken sich diese auf den Hirnschaden beruhenden Einschränkungen mindestens mittelgradig auf das Alltagsleben des Klägers aus und rechtfertigen den GdB von 50.

Indessen sah der Senat keine Veranlassung, dem hilfsweise gestellten Beweisantrag des Beklagten zu folgen und weitere Sachaufklärung im Hinblick auf den Hirnschaden des Klägers vorzunehmen. Für den Senat sind die den vorliegenden Rechtsstreit betreffenden Fragen, soweit der Hirnschaden des Klägers berührt ist, durch die abgeschlossene medizinische Sachaufklärung nach Maßgabe des § 128 SGG hinreichend geklärt. Die allenfalls theoretisch denkbare weitere Sachaufklärung hierzu würde eine Sachaufklärung „ins Blaue hinein“ und damit im Ergebnis einen unzulässigen Ausforschungsbeweis bedeuten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und berücksichtigt, dass der Kläger im Ergebnis mit seinem Begehren, soweit er erstinstanzlich noch die Gewährung von Nachteilsausgleichen begehrt hatte, erfolglos geblieben ist, dass andererseits aber die von ihm erhobene Berufung in vollem Umfange Erfolg hatte.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht ersichtlich sind.