Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 27. Senat | Entscheidungsdatum | 26.08.2010 | |
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Aktenzeichen | L 27 R 118/07 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 43 SGB 6 |
Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Oktober 2006 und der Bescheid der Beklagten vom 15. April 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2005 geändert. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger ab dem 1. August 2004 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Die außergerichtlichen Kosten des Klägers für das Verfahren in beiden Instanzen trägt zu ¼ die Beklagte. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der 1947 geborene Kläger begehrt die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Er verfügt über eine abgeschlossene Berufsausbildung zum Kaufmannsgehilfen. Nach einer längeren Tätigkeit im Versicherungsaußendienst arbeitete er als Lagerarbeiter; eine anschließende Tätigkeit im Wachdienst am Flughafen beendete er nach kurzer Zeit.
Einen am 18. September 2003 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung einer österreichischen Invaliditätspension lehnte die dortige Pensionsversicherungsanstalt nach Einholung fachärztlicher Gutachten zunächst ab. In dem in Österreich geführten Klageverfahren schloss der Kläger mit der dortigen Pensionsversicherungsanstalt einen Vergleich, wonach diese ihm zunächst für die Zeit vom 1. Januar 2004 bis zum 30. Juni 2006 eine Invaliditätspension zuerkannte. In der Folge gewährte sie dem Kläger die Invaliditätspension unbefristet.
Mit Bescheid vom 15. April 2004 lehnte auch die Beklagte den an sie weitergeleiteten Antrag des Klägers ab, bezog sich auf die in Österreich durchgeführten ärztlichen Untersuchungen und führte zur Begründung aus, der Kläger könne im Rahmen einer 5-Tage-Woche im Umfang von mindestens sechs Stunden täglich Tätigkeiten ausüben. Mit seinem hiergegen gerichteten Widerspruch brachte der Kläger vor, es liege zumindest eine Erwerbsminderung vor. Gegen die österreichische Entscheidung habe er Klage erhoben. Weiterhin legte er Befundberichte der ihn behandelnden Neurologin Dr. R vor, wonach er neben einem Wirbelsäulenschaden mit Bandscheibenvorfall an mittelschweren bis schweren depressiven Episoden litt und sich auch durch länger andauernde Therapie eine Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit nicht würde erreichen lassen.
Die Beklagte holte sodann ein Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. K ein und wies mit Widerspruchsbescheid vom 25. April 2005 den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger könne zwar nach dem Gutachten den zuletzt dauerhaft ausgeübten Beruf eines Lagerarbeiters nicht mehr ausüben, doch sei er zumindest in der Lage, die während seines Erwerbslebens erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten in einer Beschäftigung aus dem erlernten Beruf als Einzelhandelskaufmann zu verwerten und eine solche Tätigkeit mindestens sechs Stunden täglich auszuüben. Ein wesentlicher sozialer Abstieg sei damit nicht verbunden.
Mit der am 19. Mai 2005 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Hierzu hat er für das österreichische Gerichtsverfahren erstellte ärztliche Gutachten vorgelegt. Das Sozialgericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. F B und die Klage mit Urteil vom 20. Oktober 2006 abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, der Kläger sei weder voll noch teilweise erwerbsgemindert. Auch eine teilweise Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit liege nicht vor. Zwar sei nach den medizinischen Gutachten davon auszugehen, dass der Kläger nicht mehr als Lagerarbeiter arbeiten könne, doch könne er auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verwiesen werden, weil es sich bei der Tätigkeit als Lagerarbeiter um eine solche mit einer Anlerndauer von allenfalls einem Jahr gehandelt habe.
Gegen das am 6. November 2006 an den Kläger nach Österreich versandte Urteil hat er am 30. Januar 2007 Berufung eingelegt, zu deren Begründung er sich im Wesentlichen auf die Befundberichte von Frau Dr. R bezogen hat. Außerdem habe er unterdessen einen Bandscheibenvorfall im Halswirbelbereich mit extremen Schmerzen im rechten Arm und der Hand erlitten, der operativ hätte behandelt werden müssen. Zusätzlich hätte er sich einer Lumbalpunktion und einer Hand-OP unterziehen müssen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. Oktober 2006 und den Bescheid der Beklagten vom 15. April 2004 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. April 2005 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab dem 1. Oktober 2003 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, ggf. bei Berufsunfähigkeit zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung bezieht sie sich im Wesentlichen auf das erstinstanzliche Urteil und macht sich das Gutachten des Sachverständigen Dr. B zueigen.
Das Landessozialgericht hat Befundberichte der den Kläger behandelnden Ärzte Dr. K, Dr. H, Dr. T, Dr. K und Dr. L eingeholt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den gesamten Inhalt der Streitakte sowie des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
Die zulässige Berufung ist nur zum Teil begründet. Das erstinstanzliche Urteil ist insofern fehlerhaft und aufzuheben, als es dem Kläger die Zuerkennung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer mit Beginn am 1. August 2004 versagt hat. Für die davor liegende Zeit bleibt die Berufung erfolglos.
1. Der Kläger hat für die Zeit ab dem 1. August 2004 einen Anspruch auf Zuerkennung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch/Sechstes Buch (SGB VI). Danach haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser bzw. voller Erwerbsminderung, wenn sie 1. voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben. Dass der Kläger die sogenannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Pflichtbeiträge und Wartezeit) erfüllt, steht zwischen den Parteien nicht im Streit.
Voll erwerbsgemindert ist gemäß § 43 Abs. 2 Satz 2 SGB VI, wer wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dies trifft nach Überzeugung des Senats in Auswertung sämtlicher zur Verfügung stehender Befundberichte und Gutachten auf den Kläger zu, der im Wesentlichen an einer depressiven Störung und einem degenerativen Wirbelsäulen-Syndrom mit lumbalem Schmerzsyndrom leidet.
Zwar variieren die ärztlichen Einschätzungen in der Beurteilung des quantitativen Leistungsvermögens des Klägers und reichen von einem Unvermögen zur Tätigkeitsverrichtung auch nur für drei Stunden (Dr. R) über eine Leistungsfähigkeit von vier bis fünf Stunden (Prof. Dr. L) bis zu einer vollschichtigen Verwendungsmöglichkeit (Dr. K und Dr. B), doch kann dies letztlich dahinstehen, denn selbst bei Annahme der dem Kläger ungünstigsten Variante einer vollschichtigen Verwendungsmöglichkeit, sind die qualitativen Anforderungen an eine von ihm noch auszuübende Tätigkeit so umfangreich und vielgestaltig, dass die Tätigkeit nicht mehr dem allgemeinen Arbeitsmarkt zugerechnet werden könnte. Weitgehende Einigkeit der medizinischen Sachverständigen besteht hinsichtlich der qualitativen Einschränkungen der Leistungsfähigkeit des Klägers. Alle beschreiben die dem Kläger noch mögliche Tätigkeit als körperlich leicht, in geschlossenen Räumen auszuüben und geistig einfach bis sehr einfach. Des Weiteren dürfen keine Anforderungen an das Reaktionsvermögen und die Konzentrationsfähigkeit des Klägers gestellt werden, und ein häufiger Haltungswechsel soll gewährleistet sein. Darüber hinaus hat der vom Sozialgericht beauftragte Gutachter Dr. B festgestellt, dem Kläger seien Arbeiten in festgelegtem Arbeitsrhythmus nicht zuzumuten, ebenso wenig Arbeiten unter Zeitdruck, Arbeiten in Wechsel- oder Nachtschicht und Arbeiten am Computer, es sei denn mit einfachsten Programmen, gründlicher Einarbeitung und Assistenzmöglichkeit im Bedarfsfalle. Eine solche Vielzahl von Einschränkungen in einer so breiten Ausdehnung über das Spektrum denkbarer Tätigkeitsinhalte bedeutet letztlich, dass der Kläger nur auf speziellen Schonarbeitsplätzen, nicht aber unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes einsetzbar ist. Insbesondere auch die von der Beklagten im Widerspruchsbescheid herangezogene Tätigkeit im kaufmännisch-verwaltenden Bereich von Handels- und Wirtschaftsunternehmen erscheint dem Senat ausgeschlossen im Hinblick auf die mangelnde Konzentrationsfähigkeit und das eingeschränkte Reaktionsvermögen des Klägers, die notwendige Vermeidung von Zeitdruck und schließlich den weitgehenden Ausschluss einer Tätigkeit am Computer. Selbst die einfachste in Betracht kommende Tätigkeit als Telefonist bietet nicht die Möglichkeit ständig wechselnder Körperhaltung und erfordert ein beim Kläger nicht vorhandenes Konzentrationsvermögen.
Unerheblich ist insofern die vom Sozialgericht herangezogene Einschätzung der medizinischen Sachverständigen, wonach die Behandlungsmöglichkeit der depressiven Störung des Klägers nicht ausgeschöpft und bei deren Durchführung durchaus mit einer Besserung zu rechnen sei. Maßgeblich für die Frage der Erwerbsminderung ist die tatsächliche Leistungsfähigkeit des Versicherten, nicht die bei Inanspruchnahme einer Behandlungsmöglichkeit erreichbare Leistungsfähigkeit.
Die Rente wegen voller Erwerbsminderung ist gem. § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI auch unbefristet zuzusprechen. Nach dieser Vorschrift werden Renten, auf die ein Anspruch unabhängig von der jeweiligen Arbeitsmarktlage besteht, unbefristet geleistet, wenn unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit behoben werden kann, wovon nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen ist. Zwar ist hier dieser Zeitraum nicht verstrichen, doch ist nach Überzeugung des Senats gleichwohl unwahrscheinlich, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit innerhalb des für eine Rentenzahlung wegen Erwerbsminderung noch verbleibenden Zeitraumes behoben werden kann. Gem. § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB VI wird die Rente wegen voller Erwerbsminderung längstens bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze gewährt, die nach § 235 Absatz 2 Satz 2 SGB VI für den Kläger in Deutschland mit Vollendung von 65 Jahren und einem Monat und in Österreich gem. § 4 Abs. 1 Allgemeines Pensionsgesetz (APG) mit Vollendung des 65. Lebensjahres erreicht ist, mithin - ausgehend vom maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung - in wenig mehr als zwei Jahren. Angesichts der bereits zu verzeichnenden Dauer der Erkrankung des Klägers und der neu hinzugekommenen Leiden im Halswirbelbereich und der Hand ist bei lebensnaher Betrachtungsweise auch dann nicht mit einer Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit innerhalb von zwei Jahren zu rechnen, wenn der Kläger die ärztlicherseits für möglich gehaltene Behandlung der depressiven Störung unverzüglich in Angriff nähme. Insoweit hat der im österreichischen Gerichtsverfahren beauftragte Gutachter Dr. L die Mindestdauer allein einer erfolgversprechenden Psychotherapie mit einem Jahr veranschlagt.
2. Soweit der Kläger allerdings die Verpflichtung der Beklagten zur Rentengewährung bereits ab dem 1. Oktober 2003 begehrt, bleibt die Klage für den Zeitraum vor dem 1. August 2004 ohne Erfolg. Gem. § 101 Abs. 1 SGB VI werden befristete Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht vor Beginn des siebten Kalendermonats seit Eintritt der Minderung der Erwerbsfähigkeit geleistet. Vorliegend bestand zunächst nur ein befristeter Rentenanspruch, der sich erst im Laufe des Berufungsverfahrens zu einem unbefristeten Anspruch gewandelt hat. Während für den Inhalt des Urteilsausspruches zur Befristung zu zahlender Renten eine Prognose über die Erwerbsfähigkeit in der Zukunft nach Maßgabe des Erkenntnisstandes im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung stattzufinden hat, ist für den Beginn der Rentenzahlung auf die Möglichkeit der Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit aus einer Ex-ante-Betrachtung abzustellen. Hätte bereits anfänglich eine unbefristete Rentengewährung erfolgen müssen, wäre für deren Beginn § 99 Abs. 1 SGB VI maßgeblich. So liegt es hier jedoch nicht, denn der Senat folgt den insoweit übereinstimmenden Ausführungen sowohl des vom Sozialgericht beauftragten Gutachters Dr. B wie auch des im österreichischen Gerichtsverfahren beauftragten Gutachters Dr. L, wonach die depressive Störung des Klägers mit beachtlicher Aussicht auf Erfolg behandelbar gewesen wäre. Demnach wäre die erstmalige Rentengewährung auf den Antrag vom 18. September 2003 hin gem. § 102 Abs. 2 SGB VI nur auf Zeit, längstens befristet auf drei Jahre, auszusprechen gewesen. Ausgehend davon, dass der Kläger sich erstmals am 24. Juni 2004 wegen seiner psychischen Probleme in die Behandlung der Neurologin Dr. R begeben hat, der für das SG Salzburg tätige Sachverständige Dr. L im Dezember 2004 den Zustand des Klägers als seit ca. einem Jahr bestehend bezeichnet und schließlich die österreichische Pensionsversicherungsanstalt die Invaliditätsrente ab dem 1. Januar 2004 bewilligt hat, geht der Senat davon aus, dass der Leistungsfall, also der Eintritt der vollen Erwerbsminderung des Klägers mit dem 1. Januar 2004 anzunehmen ist, mithin der Anspruch auf Rentengewährung ab dem 1. August 2004 besteht.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Ermessensgerecht erscheint es, die Kosten nur zu einem verhältnismäßig geringen Teil der Beklagten aufzuerlegen, denn der Kläger wäre mit seiner im Jahr 2005 erhobenen Klage nach obigen Ausführungen nur insoweit erfolgreich gewesen, als ihm eine befristete Rente ab August 2004 zuzusprechen gewesen wäre. Erst die nicht in die Risikosphäre der Beklagten fallende Verfahrensdauer und das Unterbleiben der als Erfolg versprechend anzusehenden Psychotherapie haben zu dem letztlich umfangreicheren Klageerfolg geführt.
Gründe für die Zulassung der Revision gem. § 160 Abs. 2 SGG sind nicht ersichtlich.