Gericht | SG Neuruppin 20. Kammer | Entscheidungsdatum | 11.04.2011 | |
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Aktenzeichen | S 20 KR 29/11 ER | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
1. Die Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 11. April 2011 bis zum 31. Dezember 2011 Leistungen der häuslichen Krankenpflege (Behandlungspflege) in Form von Blasenspülungen zwei Mal pro Woche zu gewähren.
Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
2. Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Hälfte seiner notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Eine weitergehende Kostenerstattung findet nicht statt.
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die vorläufige Versorgung mit Leistungen der häuslichen Krankenpflege gemäß § 37 Fünftes Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB V) in Form von Blasenspülungen zwei Mal pro Woche.
Der geistig behinderte Antragsteller wohnt in der Wohnstätte des Lebenshilfe e. V. Kreisvereinigung U. in T.. Ihm wurden wegen der Diagnosen T 19.9 (Fremdkörper im Urogenitaltrakt, Teil nicht näher bezeichnet) und D 41.0 (Neubildung unsicheren oder unbekannten Verhaltens der Harnorgane: Niere) bereits mehrfach Blasenspülungen als Leistungen der häuslichen Krankenpflege zur Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung verordnet. Wegen des den Zeitraum Juli 2010 bis Dezember 2010 betreffenden Anspruchs ist beim Sozialgericht Neuruppin zum Aktenzeichen S 20 KR 237/10 bereits ein Verfahren anhängig. Die Antragsgegnerin lehnte in der Vergangenheit die Gewährung der Kosten der häuslichen Krankenpflege bzw. die Übernahme der Kosten ab, da der Antragsteller in einer vollstationären Einrichtung für behinderte Menschen wohnt und dieser kein „geeigneter Ort“ im Sinne des § 37 Abs. 1 und 2 SGB V sein soll.
Der Antragsteller beantragte am 1. Februar 2011 bei dem Sozialgericht Neuruppin den Erlass einer einstweiligen Anordnung und führt aus, auf die Behandlungspflege zwingend angewiesen zu sein. Die Antragsgegnerin weigert sich weiterhin, die entstehenden Kosten zu übernehmen. Mit Schreiben vom 1. März 2011- bei Gericht eingegangen am 10. März 2011 - wurde eine ärztliche Verordnung vom 10. Januar des den Antragsteller behandelnden Urologen in Kopie eingereicht, aus der sich die erneute Verordnung von Blasenspülungen zwei Mal pro Woche als häusliche Krankenpflege für den Zeitraum 1. Januar 2011 bis 31. Dezember 2011 ergibt.
Die Antragsgegnerin hat unter dem 24. Februar 2011 sowie unter dem 16. März 2011 auf den Antrag erwidert und darauf hingewiesen, dass mangels Vorlage einer privatrechtlichen Vereinbarung keine Kostentragungspflicht gemäß § 13 Abs. 3 SGB V besteht und mit Blick auf die Wohnsituation des Antragstellers überdies bereits grundsätzlich ein Leistungsausschluss vorliegt. Dies gelte auch für den Zeitraum ab 1. Januar 2011. Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie auf den Inhalt der Verwaltungsakte der Antragsgegnerin, die dem Gericht vorlag und Gegenstand der Entscheidungsfindung war, Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet.
1. Der Antragsteller führt das Verfahren, ohne einen ausdrücklichen Antrag gestellt zu haben. Aus der Gesamtheit seines Vortrags, mit Blick auf das Verfahren S 20 KR 237/10 sowie unter Anwendung des Meistbegünstigungsgrundsatzes eines nicht anwaltlich vertretenen Rechtssuchenden geht das Gericht davon aus, dass der Antragsteller mit Blick auf die Vergangenheit eine Erstattung der Kosten geltend macht, denen er sich nach eigener Wahrnehmung von Seiten des Pflegedienstes ausgesetzt sieht. Für die Zukunft begehrt der Antragsteller, dass ihm keine Kosten für die Behandlungspflege entstehen, mithin die Leistungsverschaffung als Sachleistung.
2. Nach § 86 b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung im Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Der Antragsteller hat hinreichend geltend gemacht, dass ein Anspruch gegenüber der Antragsgegnerin besteht (Anordnungsanspruch) und er ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Dies ist auch nicht offensichtlich ausgeschlossen.
3. Die einstweilige Anordnung ist grundsätzlich zu erlassen, wenn Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bestehen. Deren Vorliegen ist glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO -). Eine Tatsache ist dann als glaubhaft gemacht anzusehen, wenn ihr Vorliegen nach dem Ergebnis der Ermittlungen, die sich auf sämtliche erreichbaren Beweismittel erstrecken sollen, überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuchs; vgl. auch § 294 ZPO). Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund bilden dabei aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System und stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Die Anforderungen an den Anordnungsanspruch sind mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern und umgekehrt. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenswertes Recht nicht vorhanden ist. Ist die Klage in der Hauptsache dagegen offensichtlich begründet, so vermindern sich die Anforderungen an den Anordnungsgrund (vgl. insgesamt: Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 9. Auflage 2008, Rn. 27 ff. zu § 86 b m.w.N.).
Nach diesen Maßstäben war dem Antrag nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang stattzugeben.
a) Dem Antragsteller steht nach der für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes maßgeblichen Beurteilung einstweilen ein Anspruch auf Gewährung der begehrten Blasenspülungen für die Zukunft zu (§ 37 SGB V). Das Gericht entscheidet dabei ausschließlich nach Folgenabwägung (vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6. Februar 2007 - 1 BvR 3101/06 - [juris]) und lässt insbesondere die Frage, ob eine stationäre Einrichtung der Behindertenhilfe ein sonst geeigneter Ort i. S. d. § 37 SGB V sein kann, offen. Der Antragsteller ist auf Grundlage der - nicht nur erstmalig erfolgten - ärztlichen Verordnung auf die Blasenspülung angewiesen. Das Gericht geht von diesem medizinischen Hintergrund auf Grundlage der Verordnungen aus und sieht für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes von weiteren medizinischen Ermittlungen in der Sache ab. Insoweit wird auch auf die mehrfache und eindringliche Schilderung der Gesamtumstände durch die Betreuerin des Antragstellers Bezug genommen. Die Antragsgegnerin hat davon abgesehen, die Leistungsverweigerung durch den MDK unter medizinischen Gesichtspunkten prüfen bzw. stützen zu lassen und hat sich allein auf die Verneinung des Anspruchs aus Rechtsgründen beschränkt. Vor diesem Hintergrund sieht sich das Gericht für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach Lage des Falls nicht gehalten, die der Antragsgegnerin obliegende Amtsermittlung nachzuholen (vgl. bei unterlassener rechtzeitiger Einleitung des Prüfverfahrens im Abrechnungsstreit mit Krankenhäusern: Bundessozialgericht, Urteil vom 13. Dezember 2001 - B 3 KR 11/01 - [juris]). Dass vor dem Hintergrund der folgenabwägenden Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie der Landessozialgerichte und Sozialgericht bei den konkret im Streit stehenden Leistungen der häuslichen Krankenpflege der bloße Hinweis auf Rechtsgründe im Streitfall nicht standhalten kann, lag auf der Hand.
Die Antragsgegnerin kann sich insbesondere auch nicht mit Erfolg auf die fehlende Auflistung der Blasenspülung im Zusammenhang mit den beim Antragsteller diagnostizierten Krankheiten in Ziff. 9 der Anlage (Leistungsverzeichnis) zur Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Verordnung häuslicher Krankenpflege, zuletzt geändert am 21. Oktober 2010, berufen. Diese ist nicht im Sinne eines Anspruchsausschlusses abschließend. Das Bundessozialgericht hat mit Bezug auf die Häusliche Krankenpflege-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses ausgeführt (Urteil vom 10. November 2005 - B 3 KR 38/04 R - [juris]):
„Dies steht indes dem Anspruch des Klägers nicht entgegen. Zwar handelt es sich bei den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 SGB V um untergesetzliche Normen, die auch innerhalb des Leistungsrechts zu beachten sind (grundlegend BSGE 78, 70 = SozR 3-2500 § 92 Nr. 6, und BSGE 81, 73 = SozR 3-2500 § 92 Nr. 7; im Anschluss daran etwa BSGE 82, 41 = SozR 3-2500 § 103 Nr. 2 und BSGE 81, 240 = SozR 3-2500 § 27 Nr. 9). Ein Ausschluss der im Einzelfall gebotenen Krankenbeobachtung aus dem Katalog der verordnungsfähigen Leistungen verstößt aber gegen höherrangiges Recht. Ebenso wenig wie der Gemeinsame Bundesausschuss ermächtigt ist, den Begriff der Krankheit in § 27 Abs. 1 SGB V hinsichtlich seines Inhalts und seiner Grenzen zu bestimmen (BSGE 85, 36 = SozR 3-2500 § 27 Nr. 11), ist er befugt, medizinisch notwendige Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege auszunehmen, wie der Senat bereits entschieden hat (Urteil vom 17. März 2005 - B 3 KR 35/04 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR bestimmt; unveröffentlichter Beschluss vom 17. August 2005 - B 3 KR 22/05 B -). Die HKP-Richtlinien binden die Gerichte insoweit nicht.“
Dass die verordnete Behandlungspflege in dem vorstehenden Sinn eine „medizinisch notwendige Maßnahme“ ist, ist jedenfalls nicht ausgeschlossen. Insoweit wird der Verordnung als Ausfluss des ärztlichen Sachverstands das für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erforderliche hinreichende Gewicht ohne weitere Ermittlungen (s. o.) beigemessen.
Die Verpflichtung zur Erfüllung des Sachleistungsanspruchs war mit Wirkung ab Beschlussfassung auszusprechen. Trotz der Umgehung des üblichen Antragswegs war dem Antrag im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht insgesamt der Erfolg zu versagen. Zum einen hat die Antragsgegnerin ihre grundsätzliche Rechtsauffassung bereits mit Bezug auf den Zeitraum Juli 2010 bis Dezember 2010 hinreichend deutlich gemacht und der Antragsteller durfte davon ausgehen, dass die Antragsgegnerin davon nicht abrücken wird. Zum anderen hat die Antragsgegnerin jedenfalls im gerichtlichen Verfahren mit der zweiten Antragserwiderung bzw. Stellungnahme vom 16. März 2011 den geltend gemachten Anspruch (weiterhin) abgelehnt.
Der Anspruch ist schließlich auch nicht mit Blick auf die Versorgung des Antragstellers in der Wohneinrichtung ausgeschlossen. Einschränkungen des Anspruchs auf die Gewährung häuslicher Krankenpflege können sich unter diesem Gesichtspunkt nur für einfache Maßnahmen (etwa: Tablettengabe) ergeben (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 18. Oktober 2010 - L 1 KR 286/10 B ER - sowie vom 26. Oktober 2010 - L 1 KR 281/10 B ER -).
In dem ausgeführten zeitlichen Umfang steht dem Antragsteller wegen der erforderlichen Sicherung der ambulanten ärztlichen Behandlung auch ein Anordnungsgrund zur Seite.
b) Soweit der Antragsteller mit Bezug auf die Zeit vor Beschlussfassung einen Anspruch auf Kostenfreistellung bzw. Kostenerstattung aus § 13 Abs. 3 SGB V gegen die Antragsgegnerin geltend macht, war der Antrag zurückzuweisen. Insoweit fehlt es bereits an der Glaubhaftmachung des Anordnungsanspruchs. Der Kostenerstattungs- bzw. -freistellungsanspruch setzt jedenfalls eine privatrechtlich bindende Vereinbarung voraus. Diese hat der Antragsteller - trotz entsprechenden Hinweises der Antragsgegnerin - bis heute nicht vorgelegt.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer analogen Anwendung des § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
IV.
Das Gericht nimmt dieses Verfahren zum Anlass, den Antragsteller mit Bezug auf das Verfahren S 20 KR 237/10 und ggf. mit Bezug auf weitere in der Vergangenheit liegende streitige Zeiträume darauf hinzuweisen, dass er nicht verpflichtet ist, für in der Vergangenheit liegende Zeiten privatrechtliche Vereinbarungen mit dem Pflegedienst abzuschließen, in denen er sich verpflichtet, vorrangig oder nach der Antragsgegnerin nachrangig für die Kosten der bereits erbrachten Behandlungspflege einzustehen. Es ist nicht schlechthin ausgeschlossen, dass der nunmehrige Abschluss solcher Vereinbarungen zu finanziellen Nachteilen des Antragstellers führen kann.