Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 1. Senat | Entscheidungsdatum | 03.07.2014 | |
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Aktenzeichen | L 1 KR 208/14 B ER | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 41 SGB 5, § 31 SGB 6, § 40 SGB 5 |
Der Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 19. Juni 2014 wird abgeändert.
Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller zu 2) eine stationäre Rehabilitationsmaßnahme ab dem heutigen Tage bis zum 22. Juli 2014 für sich und die Antragstellerin zu 1) als seiner Mutter/Begleitperson im Kinder-Rehazentrum U, Sstr, K vorläufig zu gewähren sowie der Antragstellerin zu 1) für den genannten Zeitraum vorläufig Haushaltshilfe zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Die Antragsgegnerin hat den Antragstellern die Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.
Der Senat verweist zum Sachverhalt auf den genannten Beschluss (§ 142 Abs. 2 S. 3 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).
Die zulässige Beschwerde vom 20. Juni 2014 hat im Wesentlichen Erfolg.
Nach § 86b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung zulässig, wenn andernfalls die Gefahr besteht, dass ein Recht des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Gemäß § 86b Abs. 2 S. 2 SGG kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung).
Voraussetzung sind das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes.
Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird. Die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung).
Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (ständige Rechtsprechung des Senats, siehe auch Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -).
Hier ist nur eine Folgenabwägung möglich:
Ob dem Antragsteller zu 2) (nachfolgend nur noch: „Antragsteller“) ein Anspruch in der Hauptsache zusteht, ist unklar. Die Erfolgschancen im Hauptsacheverfahren sind offen,
Es sprechen aber gewichtige Umstände dafür, dass die Antragsgegnerin verpflichtet ist, dem Antragsteller als Familienversichertem nach § 10 Sozialgesetzbuch 5. Buch die begehrte konkrete Rehabilitationsmaßnahme als stationäre Rehabilitation zu gewähren, weil die Voraussetzungen des § 40 Abs. 2 SGB V (ambulante Behandlung bzw. ambulante Reha reichen nicht aus) sowie des § 40 Abs. 3, 2. Hs SGB V (erneute Kur innerhalb von vier Jahren aus dringenden medizinischen Gründen) erfüllt sind.
Die Multimorbidität und Behandlungsbedürftigkeit des Antragstellers stellt nach dem Vortrag der Antragsgegnerin auch der MDK in seinen Gutachten nach Aktenlage nicht in Frage. Die als Alternativen für ausreichend gehaltenen weiteren ambulanten Behandlungen (pulmologische Behandlung, Ernährungsberatung, Rehasport, Intensivierung von Ergo- und Physiotherapie) blenden aus, dass der Antragsteller nach dem glaubhaft gemachten Antragsteller Vorbringen bereits jetzt praktisch täglich Arzt-, Therapie- und Theapiesporttermine hat. Die Auflistung der Therapien und Maßnahmen im Schriftsatz der Antragsteller vom 17. Juni 2014 führt über mehr als eine Seite eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen im Wochenturnus auf. Der Antragsteller ist kein Rentner, sondern ein schulpflichtiger 13 jähriger Teenager, dem es weder zumutbar ist, werktags die Zeit außerhalb nur mit der Behandlung seiner Leiden verbringen zu müssen. Noch darf es sein, dass der Schulbesuch über Gebühr leidet.
Rechtswidrig ist zudem nach Aktenlage die Prüfung einer Mutter-Kind-Kur nach § 41 Abs. 1 SGB V unterblieben, obwohl es sich um bindendes Recht handelt.
Dass das Rehazentrum keinen Versorgungsvertrag nach § 41 Abs. 1 S. 3 SGB V mit der Antragsgegnerin hat, ist von dieser nicht vorgebracht worden.
Insoweit stellt sich die Frage nach der Notwendigkeit einer Begleitperson per se nicht.
Soweit die Antragsgegnerin einen Anspruch auf eine Begleitperson nach § 11 Abs. 3 SGB V für eine Maßnahme nach § 40 Abs. 2 SGB V (normale stationäre Reha) ablehnt, weil die Voraussetzungen der Verfahrensabsprache zu Anträgen der "Familienorientierten Rehabilitation" vom 1. Oktober 2009 nicht vorlägen, verkennt sie, dass diese Absprache von vornherein nur das Vorgehen bei schwerst chronisch kranken Kindern regelt. Ein Umkehrschluss, dass in allen anderen Fällen eine notwendige Mitaufnahme in eine stationäre Rehamaßnahme ausgeschlossen sei, ergibt sich aus dem Gesetz nicht.
Auch die erforderliche Prüfung, ob die Antragsgegnerin als zweitangegangener Rehabilitationsträger im Sinne des § 14 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) leistungsverpflichtet nach anderen Vorschriften ist, ist unterblieben. Die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV Bund) hat ihre Zuständigkeit als primärer Rehaleistungsträger für eine Kinderrehabiliationsmaßnahme nach § 31 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI) in der Weiterleitungsmitteilung vom 18. März 2014 verneint, weil die begehrte Handlung keine positiven Auswirkungen für eine spätere Erwerbsfähigkeit des Antragstellers habe.
Nach § 31 Abs. 2 S. 2 SGB VI wird zwar eine Kinderrehabilitation nach dem SGB VI nur erbracht, soweit sich dies aus der einschlägigen Richtlinie ergibt.
Nach § 2 der Gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI für Kinderheilbehandlungen (Kinderrehabilitationsrichtlinien; Kinderreha-Richtlinien) vom 5. September 1991 in der Fassung vom 17. Dezember 2012 ist aber gerade keine Voraussetzung, dass die Behandlung eine (sichere) positive Auswirkung auf die spätere Erwerbsfähigkeit hat. Es reicht vielmehr aus, dass die Behandlung einen Einfluss haben kann. Ob dies hier der Fall ist, wird auch im Widerspruchsverfahren zu klären sein.
Die Antragsgegnerin ist im eigenen Interesse gehalten, die DRV Bund bereits im Widerspruchsverfahren zu beteiligen.
Auch der Anspruch auf eine Haushaltshilfe nach § 54 SGB IX bzw. § 38 SGB V ist hinreichend glaubhaft gemacht: Zum Haushalt der Antragsteller gehören auch die zwei Töchter bzw. Schwestern. Aist sieben Jahre alt. Ihre Schwester Aist 15 Jahre alt und damit noch zu jung, um den Haushalt zu führen. Der Vater von Awohnt woanders und arbeitet in Wechselschicht.
Die Folgenabwägung führt hier zu einer weitgehenden Stattgabe:
Die Kurmaßnahme ist dringend, wie sich jedenfalls in der hier nur möglichen summarischen Betrachtung aufgrund der eingereichten ärztlichen Bescheinigungen ergibt.
Es besteht die akute Gefahr, dass sich bei einer Verzögerung der überwiegend wahrscheinlich gebotenen stationären Rehabilitationsmaßnahme der Leidenszustand unnötig chronifiziert, obgleich ein Anspruch wahrscheinlich besteht.
Zu berücksichtigen ist auch insoweit, dass der Antragsteller kein Erwachsener ist, sondern ein 13 jähriger Jugendlicher, der sich in der körperlichen Entwicklungsphase befindet.
Die Maßnahme ist auch konkret jetzt geboten, weil sie so die schulische Entwicklung wenig stört: Die Kur soll extra teilweise bzw. nunmehr überwiegend in den Schulferien stattfinden.
Der konkrete Platz im Kinder-Rehazentrum wird aktuell – wie im Beschwerdeverfahren glaubhaft gemacht worden ist – noch freigehalten.
Auf der anderen Seite führt die einstweilige Anordnung nicht zu vollendeten Tatsachen: Die Antragsgegnerin kann die vorläufig aufzuwendenden Mittel, die sich im überschaubaren Rahmen halten, zurückverlangen, soweit rechtskräftig festgestellt werden sollte, dass sie nicht leistungsverpflichtet war und ihr auch kein Erstattungsanspruch gegen die DRV Bund zusteht.
Ganz allgemein darf nach der Rechtsprechung des Senats im Rahmen einer Folgenabwägung zu Lasten des Antragsgegners berücksichtigt werden, dass dieser mangels Vornahme gebotener Sachaufklärung im Antragsverfahren eine unklare Sachlage mitverursacht hat (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. B. v 27. November 2013 - L 1 KR 215/13 B ER juris-Rdnr. 13, B. v. 29. Januar 2009 - L 1 B 506/08 KR ER- juris-Rdnr.18). Angesichts der Multimorbidität des Antragstellers und seines jugendlichen Alters hat es hier nicht der gebotenen Sachaufklärung von Amts wegen entsprochen, zu entscheiden, ohne eine persönliche Untersuchung durch den MDK eingeholt zu haben. Dies wird im Widerspruchsverfahren nachzuholen sein.
Die Beschwerde war klarstellend im Übrigen zurückzuweisen.
Nach dem Wortlaut des Antrages ist auch eine Kur für einen bereits in der Vergangenheit liegenden Zeitraum begehrt.
Die Notwendigkeit einer dringlichen Regelung besteht nur für den Zeitraum, für den ein Platz für den Antragsteller zu 2) tatsächlich reserviert ist, auch wenn davon auszugehen ist, dass im Falle einer Verlängerung der Anspruch im üblichen zeitlichen Umfang bestünde.
Auch steht nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts dem Versicherten (hier der Antragstellerin zu 1) nicht das Recht zu, Leistungsansprüche des nach § 10 SGB V mitversicherten Familienangehörigen im eigenen Namen geltend zu machen (BSG, Urteil v. 16 Juni1999 - B 1 KR 6/99 R). So ist der Antrag hier aber formuliert.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG. Es entspricht billigem Ermessen, der Antragsgegnerin die Kosten voll aufzuerlegen, weil die Anträge im Wesentlichen Erfolg haben.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).