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Armenien; vorläufiger Rechtsschutz; einstweilige Anordnung; Aussetzung der Abschiebung; Duldung; Abschiebungsandrohung des Bundesamtes in ungeklärten Herkunftsstaat; ungeklärte Staatsangehörigkeit; Nichtvorliegen von Abschiebungshindernissen; fehlende Zielstaatsbenennung; (keine) Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse; fehlende Regelungswirkung; unverbindlicher Hinweis; keine Bindungswirkung der Ausländerbehörde; nachträgliche Konkretisierung des Zielstaates; Stattgabe


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 2. Senat Entscheidungsdatum 22.08.2014
Aktenzeichen OVG 2 S 54.14 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen Art 19 Abs 4 GG, § 60 Abs 2 AufenthG, § 60 Abs 3 AufenthG, § 60 Abs 4 AufenthG, § 60 Abs 5 AufenthG, § 60 Abs 6 AufenthG, § 60 Abs 7 AufenthG, § 60a Abs 2 S 1 AufenthG, § 72 Abs 2 AufenthG, § 42 S 1 AsylVfG, § 88 VwGO, § 123 Abs 1 VwGO, § 146 Abs 4 S 6 VwGO

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 7. Juli 2014 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig eine Duldung zu erteilen.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

I.

Die zuletzt in Dagestan (Russische Förderation) lebende Antragstellerin armenischer Volkszugehörigkeit und ungeklärter Staatsangehörigkeit begehrt die Aussetzung ihrer Abschiebung nach Armenien. Nach ihren eigenen Angaben reiste sie im August 2007 gemeinsam mit ihrem damals minderjährigen Sohn K. in das Bundesgebiet ein. Ihren Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Bescheid vom 16. Dezember 2009 ab. Zugleich stellte es das Nichtvorliegen von Abschiebungshindernissen nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG fest und forderte die Antragstellerin zur Ausreise auf. Für den Fall der Nichteinhaltung der Ausreisefrist drohte ihr das Bundesamt aufgrund der ungeklärten Staatsangehörigkeit die Abschiebung in ihren Herkunftsstaat oder einen anderen Staat an, in den sie einreisen dürfe oder der zu ihrer Rücknahme verpflichtet sei. Die Klage der Antragstellerin auf Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland zur Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG wies die zuständige Asylkammer des Verwaltungsgericht Berlin durch Urteil vom 8. Mai 2012 (VG 33 K 9.12 A) im Wesentlichen mit der Begründung ab, die Antragstellerin sei durch die Feststellungen des Bundesamtes zum Nichtvorliegen von Abschiebungshindernissen nicht beschwert, denn diese seien mangels konkreter Zielstaatsbenennung gegenstandslos. Der Angabe „Herkunftsstaat“ komme kein Regelungscharakter zu, sie stelle lediglich einen vorläufigen unverbindlichen Hinweis dar.

Anfang Mai 2014 beantragte die Antragstellerin (erneut) die Erteilung einer Duldung, die der Antragsgegner mit Bescheid vom 20. Mai 2014 ablehnte. Rechtliche und tatsächliche Abschiebungshindernisse lägen nicht (mehr) vor, nachdem die armenische Botschaft der Passersatzausstellung zugestimmt habe. An die Entscheidung des Bundesamtes aus dem Jahre 2009, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht bestünden, sei er – der Antragsgegner – nach § 42 AsylVfG gebunden. Den gegen die Duldungsablehnung gerichteten Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat das Verwaltungsgericht zurückgewiesen und in dem angegriffenen Beschluss u.a. die Bindung der Ausländerbehörde des Antragsgegners an die Entscheidung des Bundesamtes zum Nichtvorliegen von zielstaatbezogenen Abschiebungsverboten bestätigt.

Hiergegen wendet sich die Antragstellerin mit ihrer Beschwerde.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, rechtfertigt eine Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht hat das Begehren der Antragstellerin, das sich nach Auffassung des Senats bei sachgerechter Auslegung (§ 88 VwGO) auf die Verpflichtung des Antragsgegners auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Erteilung einer Duldung konzentriert, zu Unrecht abgelehnt. Die Antragstellerin hat im Beschwerdeverfahren einen Anspruch auf Aussetzung ihrer Abschiebung glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 1 und 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).

Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange diese aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nicht möglich ist. Die Abschiebung der vollziehbar ausreisepflichtigen Antragstellerin ist derzeit auf rechtlichen Gründen unmöglich. Der unter Bezugnahme auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 8. Mai 2012 (VG 33 K 9.12 A) vorgetragene Einwand der Beschwerde gegen die Bindungswirkung der Entscheidung des Bundesamtes in Bezug auf das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (Beschwerdeschrift S. 2 und 3) greift durch. Die Ausländerbehörde ist zwar grundsätzlich – wie das Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Beschluss zutreffend erkannt hat – an die Entscheidung des Bundesamtes über das Vorliegen von zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen gebunden (§ 42 Satz 1 AsylVfG), ohne dass ihr insoweit eine eigene Prüfungskompetenz zukäme. Dies setzt jedoch voraus, dass die Androhung der Abschiebung eine ordnungsgemäße Zielstaatsbezeichnung enthält. Die Bezeichnung „Herkunftsstaat“ genügt diesen Anforderungen jedenfalls dann nicht, wenn sich auch aus den Gründen des Bescheides nicht ergibt, welcher konkrete Staat damit gemeint ist. Denn die positive oder negative Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse kann naturgemäß nur in Ansehung der tatsächlichen Verhältnisse eines konkreten Staates getroffen und gerichtlich überprüft werden. Die Angabe eines noch ungeklärten Herkunftsstaates in der Abschiebungsandrohung hat – anders als die Bezeichnung eines konkreten Zielstaates – keinen Regelungscharakter; sie stellt lediglich einen vorläufigen unverbindlichen allgemeinen Hinweis auf andere aufnahmebereite Staaten nach § 59 Abs. 2 AufenthG dar (vgl. BVerwG, Urteil vom 25. Juli 2000 – 9 C 42.99 –, juris Rn. 10 und 14 zu § 50 Abs. 2 AuslG). So liegen die Dinge hier:

Das Bundesamt hat die Abschiebungsandrohung unter Ziffer 4 in seinem Bescheid vom 16. Dezember 2009 auf den Herkunftssaat der Antragstellerin beschränkt, weil „aufgrund der ungeklärten Staatsangehörigkeit der Antragsteller(in) zum Zeitpunkt der Entscheidung keine konkrete Benennung des Ziellandes“ habe erfolgen können. Der Herkunftsstaat wird in den Gründen des Bescheids ausdrücklich als „ungeklärt“ bezeichnet (Bescheid S. 10). Auch die Russische Förderation hat das Bundesamt nicht als Land des gewöhnlichen Aufenthaltes der Antragstellerin angesehen (Bescheid S. 6). Im Ergebnis ist das Bundesamt selbst von einem „unverbindlichen Hinweis“ und davon ausgegangen, dass der Antragstellerin vor Vollzug der Abschiebung der Zielstaat noch konkret zu benennen ist, damit sie wirksamen Rechtsschutz gegen das angedrohte Zwangsmittel erlangen könne und das Gericht in die Lage versetzt werde, die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung konkret zu überprüfen (Bescheid S. 10 und 11).

Vor diesem Hintergrund besteht kein Raum für die erstinstanzliche Annahme einer Bindungswirkung nach § 42 Satz 1 AsylVfG. Vielmehr ist die Ausländerbehörde nach erfolgter Konkretisierung des Zielstaates (hier: Armenien) mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG gehalten, über das Vorliegen eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots (§ 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG) nach vorheriger Beteiligung des Bundesamtes (erstmals) zu entscheiden (vgl. § 72 Abs. 2 AufenthG). Der Umstand, dass die Asylkammer des Verwaltungsgerichts die Verpflichtungsklage der Antragstellerin auf Feststellung des Vorliegens von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG abgewiesen hat, zwingt zu keiner abweichenden rechtlichen Beurteilung. Denn die rechtskräftige Abweisung der Klage führt mangels Regelungscharakters der vom Bundesamt getroffenen Feststellungen zum ungeklärten Herkunftsstaat nur zur Bestandskraft eines „vorläufigen unverbindlichen Hinweises“. Diese Bestandskraft der Abschiebungsandrohung kann der Antragstellerin nach der nunmehr erfolgten Konkretisierung des Abschiebezielstaates nicht „präklusiv“ entgegengehalten werden (vgl. Schl.-Holst. OVG, Beschluss vom 31. August 2008 – 1 LA 48.08 –, juris Rn. 19).

Der Anordnungsgrund folgt aus der – unstreitig – unmittelbar bevorstehenden Abschiebung der Antragstellerin.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).