Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 14. Senat | Entscheidungsdatum | 14.08.2012 | |
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Aktenzeichen | L 14 AS 1605/12 B ER, L 14 AS 1710/12 B PKH | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 7 Abs 1 S 1 SGB 2, § 7 Abs 5 SGB 2, § 7 Abs 1 BAföG |
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 21. Juni 2012 geändert.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Regelbedarf sowie Bedarf für Unterkunft und Heizung) ab dem 14. August 2012 bis zu einer Entscheidung des Sozialgerichts in dem dort anhängigen Klageverfahren (S 38 AS 13598/12), längstens jedoch bis zum 31. Dezember 2012 zu erbringen.
Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die ihr entstandenen Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der Kosten, die für die Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts entstanden sind, zu erstatten.
Der Antrag der Antragstellerin, ihr für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und den Rechtsanwalt L Z beizuordnen, wird abgelehnt.
Die statthafte (§ 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG]), nicht durch § 172 Abs. 3 SGG ausgeschlossene und auch im Übrigen zulässige (§ 173 SG) Beschwerde der Antragstellerin ist begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht der Hauptsache eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn glaubhaft gemacht ist, dass eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (sogenannter Anordnungsgrund). Ferner muss glaubhaft gemacht sein (§ 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO] i.V.m. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG), dass dem Antragsteller der von ihm geltend gemachte Anspruch zusteht (Anordnungsanspruch). Bereits nach diesen gesetzlichen Regelungen ist eine Gewissheit, dass die tatsächlichen Voraussetzungen für das Begehren vorliegen, nicht erforderlich; notwendig, aber auch ausreichend ist, dass ihr Vorliegen überwiegend wahrscheinlich ist (vgl. § 23 Abs. 1 Satz 2 des Zehnten Buchs des So-zialgesetzbuchs [SGB X]). Die Anforderungen an die Glaubhaftmachung dürfen nicht über-spannt werden (Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 –); Zweifel – auch durchaus „vernünftige“ – dürfen verbleiben. Ist eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, ist anhand einer Folgenabwägung unter Beachtung der grundrechtlichen Belange des Antragstellers zu entscheiden. Dabei ist der sich aus dem Gebot zum Schutz der Menschenwürde in Verbindung mit dem Sozialstaatsgebot ergebenden und unabhängig von den Gründen der Hilfebedürftigkeit bestehenden Pflicht des Staates, durch Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen, Rechnung zu tragen (BVerfG, a.a.O.).
Sowohl Anordnungsanspruch wie auch Anordnungsgrund sind glaubhaft gemacht.
Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 7 des Zweiten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB II) erhalten Personen, die
1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben,
2. erwerbsfähig sind,
3. hilfebedürftig sind und
4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben
(erwerbsfähige Hilfebedürftige – § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II).
Die 31 Jahre alte Antragstellerin ist erwerbsfähig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Es ist auch glaubhaft gemacht, dass sie – derzeit und in der überschaubaren Zukunft – hilfebedürftig ist bzw. weiterhin sein wird. Sie versichert an Eides statt, dass sie – mit Ausnahme eines ihr am 18. Juni 2012 zugeflossenen Honorars für Fotoarbeiten – aus ihrer selbständigen Tätigkeit als Künstlerin kein Einkommen erzielt. Aus den von ihr jetzt vorgelegten Kontoauszügen ergeben sich keine Hinweise auf etwas anderes. Auch ist es nach Kenntnis des Gerichts auch gegenwärtig – wie in den vergangenen Jahrhunderten – durchaus nicht ungewöhnlich, dass es Künstlern – zumal jüngeren – am Anfang ihrer Schaffensphase nicht gelingt, ihre Werke zu veräußern und daraus Einnahmen zu erzielen. Es ist deshalb auch glaubhaft, dass die erst 31 Jahre alte, einem größeren Publikum wohl nicht bekannte Antragstellerin – wie sie ebenfalls an Eides statt versichert – derzeit keine der von ihr geschaffenen Kunstwerke verkaufen kann – obwohl sie sich darum bemüht. Die dafür von ihr angeführten Gründe sind nachvollziehbar. Es besteht deshalb auch kein Anhalt anzunehmen, dass die von der Antragstellerin selbstgeschaffenen Kunstwerke derzeit verwertbares Vermögen sein könnten.
Einem Anspruch der Antragstellerin steht auch nicht die Regelung in § 7 Abs. 5 SGB II entgegen, wonach Auszubildende, deren Ausbildung im Rahmen des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAföG) dem Grunde nach förderungsfähig ist, keinen Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuchs haben. Einer nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz förderungsfähigen Ausbildung geht die Antragstellerin nicht – mehr – nach (vgl. § 7 Abs. 1 BAföG). Nicht anderes ergibt sich aus dem Bescheid des Amts für Ausbildungsförderung des Studentenwerks M vom 6. Oktober 2011, mit dem jene Behörde eine Förderung der Ausbildung „Freie Kunst mit Abschluss Akademiebrief (Diplom)“ abgelehnt hat – im Übrigen nicht, wie der Antragsgegner vorträgt, „wegen Vorliegens der Altersgrenze“, sondern weil die Antragstellerin bereits im Oktober 2006 eine forderungsfähige Ausbildung (Magistra Artium) abgeschlossen hat! Die Antragstellerin hat auch ihre zweite (unterstellt: „im Rahmen des Bundesausbildungsgesetzes dem Grunde nach forderungsfähige“) Ausbildung im Studiengang „Freie Kunst mit dem Abschluss Akademiebrief (Diplom)“ bereits am 26. April 2011 abgeschlossen (Urkunde und Prüfungszeugnis der Kunstakademie M, Bl. 10 und 11 der Leistungsakte). Dass sie danach für weitere zwei Semester als „Meisterschülerin“ an der Kunstakademie M eingeschrieben ist, führt nicht dazu, dass sie nunmehr einer weiteren (dritten) „im Rahmen des Bundesausbildungsgesetzes dem Grunde nach forderungsfähigen“ Ausbildung nachgeht; einen sie zur Ausübung eines Berufs befähigenden (weiteren) Abschluss strebt sie weder an, noch ist ein derartiger (berufsqualifizierender) Abschluss vorgesehen oder möglich. Dies ist auch eindeutig der Mitteilung der Kunstakademie M vom 10. April 2012 (Bl. 72 der Leistungsakte) zu entnehmen.
Der Anordnungsgrund ergibt sich daraus, dass die Antragstellerin die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts benötigt.
Der Senat weist bei dieser Gelegenheit darauf hin, dass der Antragsgegner die von der Antragstellerin am 17. April 2012 vorgebrachte „Bitte um Überprüfung des Ablehnungsbescheids vom 28.03.2012“ wohl unzutreffend als (Zugunsten-)Antrag nach § 44 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) verstanden hat; richtigerweise dürfte diese innerhalb der noch laufenden Widerspruchsfrist vorgebrachte „Bitte um Überprüfung“ als Widerspruch zu deuten sein (vgl. Bayerisches LSG, Urteil vom 19. Mai 2010 – L 19 R 577/07 –). Das Sozialgericht wird im Rahmen des Verfahrens in der anhängigen Hauptsache zu prüfen haben, welche verfahrensrechtlichen Folgen sich daraus ergeben.
Die Entscheidung über die Kostenerstattung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG bzw. (hinsichtlich der Kosten für das Beschwerdeverfahren gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe) auf § 127 Abs. 4 ZPO i.V.m. § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG.
Prozesskostenhilfe ist der Antragstellerin weder für das Verfahren vor dem Sozialgericht noch für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen, da sie aufgrund der (unanfechtbaren) Entscheidung über die Erstattung von Kosten in diesem Beschluss in der Lage ist, die Kosten des Verfahrens aufzubringen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).