Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 1. Senat | Entscheidungsdatum | 15.10.2010 | |
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Aktenzeichen | L 1 KR 17/09 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 31 Abs 1 S 1 SGB 5 |
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beteiligten streiten sich um die Erstattung von Kosten für die Behandlung des Klägers mit dem selbst beschafften Arzneimittel Medikinet Retard (Wirkstoff Methylphenidat) für den Zeitraum 12. April 2007 bis 31. Dezember 2007 in Höhe von 1.585,24 EUR. Hinsichtlich der Einzelheiten der konkreten Beschaffungen wird auf die Kopien der Privatverordnungen und der Rechnungen der Apotheke Bl. 15-18 der Gerichtsakte verwiesen.
Der 1989 geborene und bis zum 31. Dezember 2007 bei der Beklagten versicherte Kläger wurde aufgrund einer im Jahr 1997 diagnostizierten Erkrankung an einem Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) bis zu seiner Volljährigkeit mit dem Arzneimittel Medikinet Retard behandelt. Verordnet wurde es jeweils durch die Ärztin für Kinderheilkunde Dr. B. Das Arzneimittel ist nach dem Arzneimittelgesetz (AMG) bis heute nur für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen zugelassen. Die Versorgung wurde deshalb von der Beklagten nur bis zur Volljährigkeit des Klägers übernommen.
Am 18. Juni 2007 beantragte dieser, die Kosten für die weitere Versorgung auch nach dem Erreichen der Volljährigkeit zu übernehmen. Er sei bei Einnahme dieses Arzneimittels ruhiger und gelassener und könne sein Leben besser bewältigten. Seine Ärztin Dr. B gab auf Befragung hin unter dem 1. Juni 2007 an, Therapieziel sei die Verbesserung der Lebensqualität bei schwerem ADHS. Eine Behandlungsalternative bestehe nicht. Es gäbe einen Konsens in den Fachkreisen zu einem Einsatz des Medikamentes auch nach Erreichen der Volljährigkeit. Die Weiterbehandlung sei erforderlich, um die Lebensqualität zu verbessern und die Chancen zur Vermittlung eines Ausbildungsplatzes zu erhöhen. Die positive Wirkung auf sein Befinden und Verhalten sei aus ihrer Sicht und der der anderen Familienmitglieder unbestritten. Der Kläger wirke nach der Medikamentennahme ruhiger und gelassener.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 4. Juli 2007 den Antrag ab.
Hiergegen richtete sich der Widerspruch des Klägers vom 4. August 2007. Er benötige das Medikament gemäß der Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft ADHS der Kinder- und Jugendärzte e. V. 2007, solange er individuelle Kompensationsstrategien für die Symptomatik (Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität) noch nicht erworben habe und eine deutliche Beeinträchtigung der Lebensqualität vorhanden sei
Die Beklagte holte daraufhin eine (weitere) Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) vom 24. August 2007 ein. Dieser sah die Indikationsstellung als unklar an. Dem Schreiben der behandelnden Ärztin vom 14. August 2007 sei nicht zu entnehmen, dass die Stimulanzientherapie befristet durchgeführt und dass die Notwendigkeit der Fortführung regelmäßig überprüft werde. Eine Indikationsstellung sei damit nicht geklärt. Die Verordnung eines Stimulanzpräparates als Dauertherapie entspräche keinesfalls dem medizinischen Standard. Es sei zudem ein multimodales Behandlungskonzept erforderlich, welches bei dem Kläger jedenfalls aktuell nicht zu erkennen sei.
Die Beklagte wies daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 2007 den Widerspruch zurück. Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use nach der Rechtssprechung des Bundessozialgerichts (BSG) seien nicht erfüllt, da eine vollständig wissenschaftlich nachprüfbare und veröffentlichte Publikation einer Phase III-Studie nicht vorliege und auch nicht kurzfristig zu erwarten sei. Es sei nicht zuverlässig beurteilbar, ob eine Zulassung des Medikaments für Erwachsene mit den vorliegenden Ergebnissen zu erwarten sei. In den Fachkreisen bestehe noch erheblicher Forschungsbedarf. Als Behandlungsmöglichkeiten stünden sowohl pharmakologische als auch Psychotherapien zur Verfügung. Die Verordnung von Stimulanzienpräparaten sei für Erwachsene nach den Arzneimittel-Richtlinien ausgeschlossen.
Hiergegen hat sich die am 12. November 2007 beim Sozialgericht Berlin (SG) eingegangene Klage gerichtet. Dem Kläger könne die Kostenerstattung verlangen. Denn die Wirksamkeit des Medikamentes sei auch im Anwendungsgebiet bereits nachgewiesen. Die fehlende Zulassung liege einzig und allein daran, dass das Pharmaunternehmen die Zulassung aus formellen Gründen lediglich für Minderjährige beantragt habe. Das Bayerische Landessozialgericht habe deshalb beim Medikament Ritalin mit demselben Wirkstoff (Methylphenidat) im Urteil vom 13. Juni 2006, L 5 KR 93/06, statt vom „Off-Label-Use „ von einem „Beyond-Label-Use“ geschrieben. Es gäbe auch im Erwachsenenalter keine Alternativtherapie. Der Behandlungserfolg mit Methylphenidat sei durch Langzeitstudien belegt. Der Wirkstoff sei in Dänemark auch für Erwachsene zugelassen. Im Übrigen gehe das Bayerische Landessozialgericht auch davon aus, dass es sich bei der Erkrankung an ADHS um eine schwerwiegende Erkrankung handeln könnte.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 14. November 2008 abgewiesen. Die Beklagte habe den entsprechenden Antrag zu Recht abgelehnt, sodass auch eine Kostenerstattung nach § 13 Abs. 3 Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) für selbstbeschaffte Leistungen ausscheide.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers. Er habe etwa im November 2008 versuchsweise das Medikament abgesetzt. Es sei daraufhin zu den von der behandelnden Ärztin bereits geschilderten Symptomen gekommen. Er habe seine zuvor begonnene Berufsausbildung nicht fortsetzen können. Bereits am 20. Dezember 2005 habe der Gemeinsame Bundesausschuss die Errichtung einer Expertengruppe mit dem Auftrag zur Erstellung einer Bewertung zur Anwendung von Methylphenidat bei ADHS im Erwachsenenalter erteilt. Der Kläger wiederholt im Übrigen sein bisheriges Vorbringen.
Er beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 14. November 2008 und den Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger die entstandenen Kosten in Höhe von 1.585,24 EUR für das beschaffte Medikament Medikinet Retard zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Zur Begründung beruft sie sich auf eine neu von ihr eingeholte gutachterliche Stellungnahme des MDK vom 16. April 2009, auf welche ergänzend verwiesen wird.
Seit 1. September 2009 ist Methylphenidat auch für Kinder und Jugendliche nur noch unter strengeren Voraussetzungen als Arzneimittel zugelassen: Es ist nur noch im Rahmen einer therapeutischen Gesamtstrategie bei der Behandlung von ADHS indiziert. Die Behandlung ist unter Aufsicht eines Spezialisten für Verhaltensstörungen bei Kindern durchzuführen. Der langfristige Arzneimittelnutzen ist bei jedem Patienten regelmäßig zu überprüfen, indem das Medikament mindestens einmal pro Jahr abgesetzt wird. Patienten, die langfristig mit Methylphenidat behandelt werden, müssen auch auf unerwünschte Nebenwirkungen untersucht werden, z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Bluthochdruck, Erhöhung der Herzfrequenz), Wachstumsstörungen, Appetitlosigkeit und andere psychische Erkrankungen.
Der Senat hat sein Urteil vom 16. Juli 2010 (Az: L 1 KR 653/07) in das Verfahren eingeführt, ferner die aktuellen Fachinformationen zum begehrten Medikament, auf die ergänzend verwiesen wird.
Die Berufung hat keinen Erfolg. Die Klage ist nicht begründet. Der Kläger keinen Kostenerstattungsanspruch für die von ihm im Jahr 2007 getragenen Kosten der auf Privatrezept beschafften Medikation.
Der Senat hat zu einem solchen Anspruch im Urteil vom 16. Juli 2010 (L 1 KR 653/07) ausgeführt:
Gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit apothekenpflichtigen Arzneimitteln. Nach § 13 Abs. 3 Satz 1, 2. Alternative SGB V besteht Anspruch auf Erstattung der Kosten auch für selbstbeschaffte Arzneimittel, deren Erbringung die Beklagte als Sachleistung zu Unrecht abgelehnt hat. Arzneimittel sind jedoch grundsätzlich nicht von der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung umfasst, wenn die nach § 21 Abs. 1 Arzneimittelgesetz (AMG) erforderliche arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt.
Bei Medikinet retard sowie anderen methylphenidathaltigen Medikamenten handelt es sich um zulassungspflichtige Arzneimittel, die für den Anwendungsbereich ADHS beim Erwachsenen bisher weder vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte noch von der Europäischen Arzneimittelagentur zugelassen sind. Auch wenn methylphenidathaltige Arzneimittel in Deutschland für Kinder und Jugendliche mit ADHS zugelassen sind, genügt dies nicht, um bei Erwachsenen von einer Anwendung im Rahmen der arzneimittelrechtlichen Zulassung auszugehen. Die Bestimmung, dass ein Arzneimittel unter bestimmten Voraussetzungen nicht eingenommen werden darf, stellt eine Einschränkung der Anwendungsgebiete dar und steht folglich mit deren Festlegung auf einer Stufe (so auch BSG, U. v. 30.06.2009 -B 1 KR 5/09 R-). Eine Zustimmung der zuständigen Bundesoberbehörde nach § 29 Abs. 2a Satz 1 AMG zur Erweiterung des Anwendungsgebietes bzw. eine Neuzulassung nach § 29 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 AMG liegen bis zum heutigen Tage nicht vor. Die Rückfrage bei den Herstellerfirmen hat ergeben, dass bisher auch noch kein entsprechender Antrag gestellt worden ist. Insoweit ist auch ein zeitlicher Rahmen, innerhalb dessen eine Entscheidung über die Zulassung bzw. Zulassungserweiterung ergehen könnte, nicht abzusehen. Entsprechendes gilt nach Auskunft des BfArM für die Einschätzung der von ihm berufenen Expertengruppe.
Es liegt hier auch kein Ausnahmefall vor, in dem der Sachleistungs- und/oder Kostenerstattungsanspruch des Klägers nach den allgemeinen Grundsätzen oder aufgrund verfassungsrechtlicher Vorgaben im Off-Label-Use zu begründen wäre.
Das BSG hat zuletzt mit Urteil vom 30.06.2009 (-B 1 KR 5/09 R- juris) bestätigt, dass es sich bei der Anwendung methylphenidathaltiger Mittel bei ADHS bei Erwachsenen nicht um einen durch Gesetzesrecht oder untergesetzliche Regelungen gedeckten Off-Label-Use handelt:
In den auf der Grundlage nach von § 92 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 6 SGB V ergangenen Arzneimittelrichtlinien –AMR-, die seit dem 21. Juli 2006 (Beschluss vom 18. April 2006, BAnz Seite 5122) in Abschnitt H. und Anlage 9 Einzelheiten über die "Verordnungsfähigkeit von zugelassenen Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsgebieten" (vgl. inzwischen Anlage VI zum Abschnitt K.) enthielten, sind methylphenidathaltige Mittel nicht aufgeführt. Eine positive Entscheidung über deren Aufnahme zur Anwendung bei Erwachsenen-ADHS in die AMR ist auch nach dem Zeitpunkt der Entscheidung des BSG nicht ergangen. Ebenso liegt weiterhin keine Empfehlung nach Abschnitt H. Nr. 24 AMR der beim BfArM gebildeten Expertengruppe nach § 35b Abs. 3 Satz 1 SGB V vor.
Die Voraussetzungen für einen Off-Label-Use sind nicht erfüllt. Nach der Rechtsprechung des BSG (z.B. Urteil vom 26. September 2006 -B 1 KR 14/06 R- SozR 4-2500 § 31 Nr. 6; Urteil vom 30. Juni 2009, a.a.O. mit weiteren Nachweisen) kommt ein Off-Label-Use außer in Seltenheitsfällen oder bei einem Systemversagen grundsätzlich nur dann in Betracht, wenn es
1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn
2. keine andere Therapie verfügbar ist und wenn
3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann;
wobei auf die im jeweiligen Zeitpunkt der Behandlung vorliegenden Erkenntnisse abzustellen ist.
Es bestehen keine Anhaltspunkte für ein Systemversagen, das anzunehmen wäre, wenn die zuständigen Stellen den Zulassungsantrag nicht bzw. nicht rechtzeitig bearbeiten (so auch BSG, Urteil vom 30. Juni 2009, a.a.O).
Bei ADHS handelt es sich nicht um einen Seltenheitsfall. Ein solcher liegt vor, wenn der Versicherte an einer sehr seltenen und deshalb einer systematischen Erforschung von darauf bezogenen Therapiemöglichkeiten nicht zugänglichen Erkrankung leidet, für die keine anderen Therapiemöglichkeiten zur Verfügung stehen. Angesichts einer Verbreitung der ADHS auch im Erwachsenenalter von ca. 2 % ist von einem Seltenheitsfall nicht auszugehen (vgl. BSG, wie vor). Laut DGPPN sollen sogar 2,5 bis 4% aller Erwachsenen betroffen sein (Quelle: http://www.medice.de/therapiefelder/adhs/fachkreisbereich/therapie-der-adhs-2013-multimodal-fruhzeitig-die-spirale-unterbrechen/adhs-therapie-in-verschiedenen-altersgruppen/).
Auch wenn es sich bei der Erkrankung des Klägers um eine schwerwiegende, zwar nicht lebensbedrohliche, aber die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung handelt und andere Therapien nicht verfügbar sein sollten, fehlt es hier jedenfalls an der dritten der oben aufgeführten Voraussetzungen für einen Off-Label-Use, der begründeten Aussicht auf einen Behandlungserfolg.
Bis zum heutigen Tage kann aufgrund der Datenlage nicht davon ausgegangen werden, dass gerade mit den begehrten methylphenidathaltigen Arzneimitteln ein Behandlungserfolg im Sinne der Rechtsprechung des BSG (wie vor) zum Off-Label-Use nachgewiesen ist. Hierzu müssen Forschungsergebnisse vorliegen, die erwarten lassen, dass das (konkrete) Arzneimittel für die betreffende Indikation zugelassen werden kann. Dies setzt voraus, dass
a) die Erweiterung der Zulassung bereits beantragt ist und die Ergebnisse einer kontrollierten klinischen Prüfung der Phase III (gegenüber Standard oder Placebo) veröffentlicht sind und eine klinisch relevante Wirksamkeit respektive einen klinisch relevanten Nutzen bei vertretbaren Risiken belegen oder
b) außerhalb eines Zulassungsverfahrens gewonnene Erkenntnisse veröffentlicht sind, die über Qualität und Wirksamkeit des Arzneimittels in dem neuen Anwendungsgebiet zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen zulassen und aufgrund derer in den einschlägigen Fachkreisen Konsens über einen voraussichtlichen Nutzen in dem vorgenannten Sinne besteht.
Hieran fehlt es zur Überzeugung des Senats auch weiterhin. Das BSG (wie vor) führt aus: „Die Qualität der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Behandlungserfolg, die für eine zulassungsüberschreitende Pharmakotherapie auf Kosten der GKV nachgewiesen sein muss, entspricht derjenigen für die Zulassungsreife des Arzneimittels im betroffenen Indikationsbereich. Sie ist während und außerhalb eines arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens regelmäßig gleich. Der Schutzbedarf der Patienten, der dem gesamten Arzneimittelrecht zugrunde liegt und - wie dargelegt - in das Leistungsrecht der GKV einstrahlt, unterscheidet sich in beiden Situationen nicht (vgl BSGE 97, 112 = SozR 4-2500 § 31 Nr 5, jeweils RdNr 24 - Ilomedin).
Vor diesem Hintergrund hat (…) Gewicht, dass das BfArM erst noch zusätzliche Daten zu Dosierung und geschlechtsspezifischen Unterschieden beim Ansprechen auf Methylphenidat für erforderlich hält, um über eine erweiterte, auch auf Erwachsene bezogene Zulassung entscheiden zu können. Da die weitere Studie, welche im September 2008 eingeleitet werden sollte, offenbar noch nicht abgeschlossen ist und ihre Ergebnisse noch nicht veröffentlicht worden sind, fehlte und fehlt es für die bislang erfolgte Behandlung des Klägers an den für einen Off-Label-Use notwendigen qualifizierten fachlichen Erkenntnissen. Dies steht in Einklang damit, dass auch ein positives Votum seitens der beim BfArM gebildeten Off-Label-Use-Expertengruppe (…) noch nicht vorliegt. Demgemäß kann auch aus der von Klägerseite angeführten, 2007 abgeschlossenen, mit 359 Studienteilnehmern durchgeführten bisher größten Phase III-Studie über den Einsatz des methylphenidathaltigen Arzneimittels "Medikinet retard" im Erwachsenenalter (sog "EMMA-Studie"), die am 22.01.2009 in einem medizinischen Fachjournal publiziert worden ist, aktuell noch nichts hergeleitet werden. Der Hersteller Medice berichtet selbst davon, dass er auch mit dieser Studie die angestrebte Zulassung bislang noch nicht habe erlangen können und deshalb weiter hieran arbeite (www.medice.de/ unternehmen/aktuelles/neues-zu-adhs-im-erwachsenenalter, im Internet recherchiert am 10.6.2009; im Ergebnis übereinstimmend bereits LSG Hamburg, Beschluss vom 14.8.2008 - L 1 B 258/08 ER KR, Breithaupt 2009, 7; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 12.11.2008 - L 9 KR 110/06, juris; SG Düsseldorf, Urteil vom 5.3.2008 - S 2 KA 84/07, juris)“.
Hiervon abzuweichen besteht im vorliegenden Fall kein Anlass. Insbesondere vermag die Einschätzung des Sachverständigen Prof. Dr. H den Off-Label-Einsatz von Methylphenidat nicht zu rechtfertigen. Für den krankenversicherungsrechtlichen Anspruch ist es ohne Belang, dass der Gutachter - den Leitlinien der DGPPN (Der Nervenarzt 2003, 939) folgend - eine Behandlung mit dem Wirkstoff Methylphenidat als "Mittel der ersten Wahl" bei Erwachsenen-ADHS ansieht. Die Leitlinien der medizinischen Fachgesellschaften bestimmen den Umfang der Leistungsansprüche der Versicherten nicht.
Die veröffentlichten wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Qualität und Wirksamkeit der entsprechenden Medikation reichen noch nicht hin, um von einem Konsens in Fachkreisen auszugehen. Prof. Dr. H stellt insoweit auf die Studien von Wilens (2003) sowie Spencer, Biderman, Wilens et al. (2005) ab, nach denen die Kriterien einer kontrollierten klinischen Prüfung für den Wirkstoff Methylphenidat als erfüllt anzusehen seien. Deren Ergebnisse lagen jedoch auch bereits der Entscheidung des BSG zugrunde. Ein Zulassungsverfahren ist offenbar weiterhin nicht beantragt. Für die der „EMMA-Studie“ nachfolgende Studie der Firma Medice („QUMEA“) wurde im Januar 2010 die Datenerhebung beendet, Ergebnisse sind aber noch nicht veröffentlicht (Quelle: http://clinicaltrials.gov/show/NCT00730249).
Im Falle des hiesigen Klägers kommt in diesem Klageverfahren eine Leistungspflicht der Beklagten auch nicht unter erleichterten Voraussetzungen für einen Off-Label-Use in Betracht. Das BSG hat nämlich dahinstehen lassen: „ (…) ob angesichts der im Laufe der letzten Jahre vom Gesetzgeber geschaffenen Regelungen, mit denen er deutlich gemacht hat, unter welchen Bedingungen er eine Off-Label-Versorgung mit Arzneimitteln in der GKV für angezeigt hält, aktuell überhaupt noch Raum für eine richterrechtliche Rechtsfortbildung in diesem Bereich besteht, deren Ermöglichung bei Verkündung des Sandoglobulin-Urteils vom 19.3.2002 (BSGE 89, 184 = SozR 3-2500 § 31 Nr 8) noch wesentlich auf dem Fehlen solcher normativen Vorgaben beruhte.
Allerdings hat das BSG in der genannten Entscheidung eine abgestufte Anwendung der Grundsätze zum Off-Label-Use erwogen bei der zulassungsüberschreitenden Weiterbehandlung ein und derselben Erkrankung bei Erwachsenen, die als Kinder mit nur für die Behandlung von unter 18-jährigen zugelassenen Medikamenten versorgt worden sind. Der Kläger begehrt die Kostenerstattung auch für Medikamente zur Weiterbehandlung nach dem 18. Geburtstag.
Konkret hat das BSG hierzu ausgeführt (wie vor, Rdnr. 39)
„Der vorliegende Fall gibt keinen Anlass, die Anforderungen an einen zulassungsüberschreitenden Einsatz von Kinderarzneimitteln für Erwachsene zu modifizieren. Eine solche Anpassung kommt etwa in Betracht, wenn der Versicherte in der Zeit unmittelbar vor Vollendung des 18. Lebensjahres mit einem nur für Kinder und Jugendliche zugelassenen Arzneimittel indikationsbezogen versorgt wurde und er nach Erreichen des 18. Lebensjahres an derselben Krankheit leidet, die auch nach einem solchen "Stichtag" auf andere Weise nicht angemessen behandelt werden kann. Unter diesem Blickwinkel könnte auch die Behandlung von ADHS zu würdigen sein, zB im Wege einer bereichsspezifischen Auslegung des Merkmals "Jugendlicher". Für ADHS ging man in Fachkreisen im deutschsprachigen Raum noch bis Ende der 1990er Jahre vielfach davon aus, dass es sich um eine Störung handele, die ausschließlich das Kinder- und Jugendalter betreffe (Prävalenz 4 bis 5 %) und mit dem Erwachsenenalter "ausheile". Demgegenüber haben inzwischen zahlreiche Studien verdeutlicht, dass ADHS häufig auch im Erwachsenenalter (Prävalenz ca 2 %) fortbesteht (zum Ganzen vgl zB Philipsen/Heßlinger/Tebartz van Elst, DÄBl 2008, A-311 ff). Sollte das Risiko-Nutzen-Potenzial beim Fortgebrauch eines für Kinder zugelassenen und im Kindes- und Jugendlichenalter schon unmittelbar vor Erreichen des 18. Lebensjahrs angewandten Arzneimittels auch bei Überschreiten der Schwelle zur Volljährigkeit im Wesentlichen gleich geblieben sein, bedürfte es jedenfalls einer besonderen Rechtfertigung, die nahtlose Weiterversorgung des Betroffenen mit dem begehrten Mittel abzulehnen.“
Hier steht allerdings eine Kostenerstattung für im Jahr 2007 verschaffte Medikamente im Streit. Es geht damit um einen Zeitpunkt, bei dem von einem hinreichenden Forschungsstand im dargelegten Sinne noch nicht ausgegangen werden kann. Die erwähnte (erste) große Studie zu Methylphenidatbehandlung Erwachsener („EMMA“) wurde erst 2009 veröffentlicht (vgl. BSG, wie vor Rdnr. 35).
Hinzu kommt, dass das Kosten-Nutzen-Potenzial für Methylphenidat bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen in letzter Zeit kritischer gesehen wird. Dies hat sich in der der aktuellen Zulassung der Medikamente mit diesem Wirkstoff widergespiegelt. Die Kinderärzte sollen diese Medikamente nicht mehr –wie bisher oft der Fall- einfach auf Dauer verordnen. Ein Off-label-Use für junge Erwachsene könnte deshalb aus Sicht des Senats nur erfolgen, wenn die Medikamentengabe den aktuellen Erkenntnissen auch zu den Risiken Rechnung trägt. Dies ist beim Kläger im Jahr 2007 nicht der Fall gewesen. Es fehlte bereits an einer gesicherten Indikation. Auch hat eine (begleitende) Verhaltenstherapie nicht stattgefunden –sondern nur eine Ergotherapie mit Coaching-, wie bereits in der MDK-Stellungnahme vom 24. August 2007 bemängelt wurde.
Der Senat hält ferner an seiner im Urteil vom 16.07.2010 vertretenen Auffassung fest, dass auch verfassungsrechtliche Aspekte den Off-Label-Use von methylphenidathaltigen Medikamenten bei ADHS im Erwachsenenalter nicht rechtfertigen:
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 06. Dezember 2005 (-1 BvR 347/98- SozR 4-2500 § 27 Nr. 5) aus den in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 Grundgesetz (GG) verankerten Grundrechten auf Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit gefolgert, dass insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung die maßgeblichen Vorschriften des Krankenversicherungsrechts grundrechtsorientierend auszulegend sind. Es ist mit Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem grundgesetzlichen Sozialstaatsprinzip nicht vereinbar, den Einzelnen unter den Voraussetzungen des § 5 SGB V der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung zu unterwerfen und für seine an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgerichteten Beiträge die notwendige Krankheitsbehandlung gesetzlich zuzusagen, ihn andererseits aber, jedenfalls dann, wenn er an einer lebensbedrohlichen oder sogar regelmäßig tödlichen Erkrankung leidet, für die schulmedizinische Behandlungsmethoden nicht vorliegen, von der Leistung einer bestimmten Behandlungsmethode durch die Krankenkasse auszuschließen und ihn auf eine Finanzierung der Behandlung außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung zu verweisen.
Bei ADHS handelt es sich nicht um eine lebensbedrohliche bzw. regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung (so die Einschätzung des Sachverständigen; vgl. auch BSG, Urteil vom 30. Juni 2009, a.a.O.). Auch der den Kläger behandelnde Neurologe/Psychiater Dr. N schätzt ein, dass es ohne Behandlung zu einer erheblichen Störung der Konzentration und einem vermehrt impulsiven Verhalten käme. Insoweit können sich die Krankheitsfolgen zwar durchaus gravierend für den Betroffenen auswirken, sie sind aber nicht so schwergradig, dass sie wertungsmäßig einer lebensbedrohlichen Erkrankung gleichkämen bzw. notstandsähnlich sind (hierzu BSG, Urteil vom 05. Mai 2009 - B 1 KR 15/08 R – juris).
Die Verfassung und insbesondere Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG gebietet nicht, dass die gesetzlichen Krankenkassen alles leisten müssten, was an Mitteln zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit möglich ist (so auch das BVerfG, wie vor). Auch wenn sich der Kläger bezüglich des hier geltend gemachten Anspruchs auf seinen behandelnden Arzt und nach gutachterlicher Einschätzung Prof. Dr. Hellwegs auf eine „international von allen Experten anerkannte und empfohlene medikamentöse Behandlung der ersten Wahl“ stützen kann, sprechen nach wie vor gewichtige Argumente gegen eine Verordnung zu Lasten der Beklagten.
Jedenfalls dann, wenn die Studienlage bislang die arzneimittelrechtliche Zulassung nicht trägt, gebieten auch die Grundrechte keine Verordnung zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Dem BSG (Urteil vom 30. Juni 2009, a.a.O) ist auch dahingehend zu folgen, dass nicht nur im Hinblick auf das Fehlen zulassungsrelevanter Wirksamkeitsnachweise, sondern auch auf die vom Wirkstoff Methylphenidat, einem Psychostimulanzium, ausgehenden möglichen Gefährdungen eine Leistungsverpflichtung der Beklagten weiterhin nicht besteht. Das BSG verweist insoweit auf die aktuell auf europäischer Ebene hervorgehobenen Gefährdungen und unerwünschten Nebenwirkungen selbst bei Kindern unter Zitat einer Pressemitteilung der EMEA vom 22. Januar 2009 zu erheblichen kardio- und cerebovaskulären Risiken sowie Risiken auf psychiatrischem Gebiet, (www.emea.europa.eu/pdfs/human/ referral/phenedate/2231509en.pdf, recherchiert am 10.6.2009) und dem in Veröffentlichungen beschriebenen besonderen Suchtpotenzial (u. a. Philipsen/Heßlinger/Tebartz van Elst, DÄBl 2008, A-311). Neuere Erkenntnisse kann auch der Senat seiner Entscheidung nicht zugrunde legen.
Soweit Kostenerstattung auch für im Zeitraum bis zur Antragstellung im Juni 2007 selbst beschaffte Medikamente begehrt wird, scheitert eine Kostenerstattung zusätzlich auch an der Nichteinhaltung des gesetzlich vorgesehenen Beschaffungswegs (vgl. BSG, wie vor, Rdnr. 13).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der Sachentscheidung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil ein Zulassungsgrund nach § 160 Abs. 2 SGG nicht vorliegt.