Gericht | OLG Brandenburg 7. Zivilsenat | Entscheidungsdatum | 16.03.2012 | |
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Aktenzeichen | 7 W 55/06 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | Art 27 Nr 1 VollstrZustÜbk 1988, Art 34 VollstrZustÜbk 1988 |
Der Kläger des Ausgangsverfahrens, der dort zur Tragung der Prozesskosten verurteilt wurde, aber gar keinen Auftrag zur Klageerhebung und zur Einlegung eines Rechtsmittels gegeben und daher von dem durch einen Rechtsanwalt für ihn geführten Zivilprozess keine Kenntnis hat, ist völlig außerstande, sich zu verteidigen.
Seine Verurteilung zur Kostentragung ist wegen Verstoßes gegen den Grundsatz rechtlichen Gehörs und damit gegen den ordre public nicht anzuerkennen (Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 10. Oktober 1996 in Sachen Hendrikman und Feyen).
Auf die Beschwerde des Schuldners wird der Beschluss des Vorsitzenden der 1. Zivilkammer des Landgerichts Neuruppin vom 23. Februar 2006 aufgehoben und der Antrag der Gläubigerin, die Urteile des Bezirksgerichts (Sąd Okręgowy) in Jelenia Góra vom 25. September 2001 und des Appellationsgerichts (Sąd Apelacyjny) in Wrocław vom 20. März 2002 für vollstreckbar zu erklären, abgewiesen.
Die Gläubigerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Beschwerdewert: 4.135,84 €.
I.
Die Gläubigerin, eine polnische Versicherungsgesellschaft, erstrebt die Zulassung zweier polnischer Zahlungstitel zur Zwangsvollstreckung.
Ausweislich der insoweit vorgelegten Urteile ist eine im Namen des hiesigen Schuldners - noch unter seinem Geburtsnamen G… - geführte Zivilklage gegen die hiesige Gläubigerin in beiden Instanzen erfolglos geblieben. Dem Schuldner wurden daher die Prozesskosten auferlegt, und zwar 15.043,70 zł in erster Instanz (Urteil des Bezirksgerichts in Jelenia Góra vom 25. September 2001) und 1.665,50 zł in der Appellationsinstanz (Urteil des Appellationsgerichts in Wrocław vom 20. März 2002).
Als Prozessbevollmächtigter des Schuldners trat dort der Rechtsanwalt B… auf. In der Akte des polnischen Gerichtes befindet sich eine Vollmachtsurkunde. Nach deren Inhalt soll der Schuldner – damals noch unter seinem Geburtsnamen G… – den R… J… aus H… (Deutschland) zur Nutzung seines Personenkraftwagens und „zur Erlangung der Entschädigung“ bevollmächtigt haben.
Die Gläubigerin hat beantragt, die beiden Urteile mit der Vollstreckungsklausel zu versehen.
Der Vorsitzende der Zivilkammer des Landgerichts Neuruppin hat dem Antrag stattgegeben und – unter Hinweis auf das Lugano-Übereinkommen und § 8 AVAG – angeordnet, die Urteile mit der Vollstreckungsklausel zu versehen.
Der Beschluss und die mit der Klausel versehenen Urteile wurden dem Schuldner am 9. Juni 2006 in Berlin zugestellt (Bl. 17).
Der Schuldner hat am 6. Juli 2006 Beschwerde eingelegt und behauptet, er habe nie einen solchen Zivilprozess in Polen geführt, insbesondere niemanden mit der Prozessführung beauftragt und dazu bevollmächtigt, ihn zu vertreten. Die angebliche Vollmacht trage nicht seine Unterschrift. Den Rechtsanwalt B… kenne er nicht; er habe nie persönlichen Kontakt zu ihm gehabt, ihm auch nicht geschrieben und ihn nie bevollmächtigt.
Der Senat hat den Schuldner im Termin am 15. Oktober 2008 (Bl. 117) persönlich gehört und sodann gemäß Beschluss vom 14. Januar 2009 (Bl. 129) Beweis erhoben durch Vernehmung des Zeugen W… B…. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll des Amtsgerichts in Wałbrzych (Polen) verwiesen (Bl. 188 / 190).
II.
1. Das Verfahren unterliegt dem Lugano-Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen vom 16. September 1988 (LGVÜ), welchem die Republik Polen am 1. Februar 2000 beigetreten ist, sowie den Vorschriften des Anerkennungs- und Vollstreckungsausführungsgesetzes (AVAG).
Die Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates („Brüssel I – Verordnung“) ist dagegen nicht anwendbar. Die Brüssel I – Verordnung ist in der Republik Polen erst mit deren Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft am 1. Mai 2004 in Kraft getreten. Die Zivilklage wurde ersichtlich schon vorher, nämlich im Jahre 2000, erhoben, so dass die Verordnung nach ihrem Artikel 66 Abs. 1 nicht anwendbar ist. Die Sache fällt auch nicht in den erweiterten temporalen Anwendungsbereich einer der in Artikel 66 Abs. 2 angeführten Alternativen, weil die Entscheidungen der polnischen Gerichte schon vor dem Inkrafttreten der Brüssel I – Verordnung in Polen erlassen wurden, nämlich in den Jahren 2001 und 2002.
2. Die Beschwerde des Schuldners ist nach § 11 AVAG zulässig, insbesondere wurde sie fristgerecht eingelegt. Sie hat auch Erfolg.
3. Das Landgericht Neuruppin war örtlich zuständig. Gemäß Artikel 32 Abs. 2 LGVÜ wird die örtliche Zuständigkeit durch den Wohnsitz des Schuldners bestimmt, wenn er überhaupt ein solchen im Hoheitsgebiet des Vollstreckungsstaates hat. In § 3 Abs. 2 AVAG wird die örtliche Zuständigkeit als eine ausschließliche bezeichnet. Ihr Vorliegen ist von Amts wegen zu prüfen, auch in der Beschwerdeinstanz (vgl. Senat, Beschluss vom 18. Februar 2008, 7 W 86/07). Maßgebend sind insoweit die Verhältnisse bei Antragstellung (OLG Zweibrücken NJW-RR 2001, 144).
Zweifel ergaben sich hier deshalb, weil schon die erste Zustellung, die des angefochtenen Beschlusses nämlich, nicht in N… erfolgen konnte (Bl. 12), sondern erst am neuen Wohnsitz des Schuldners in Berlin (Bl. 17). Der Schuldner persönlich hat aber auf Nachfrage des Senats angegeben, dass er im März 2006 tatsächlich noch in N… gewohnt habe und erst später umgezogen sei.
4. Die Beschwerde ist begründet, weil die Anerkennung der beiden in Polen ergangenen Urteile der öffentlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland widersprechen würde (Artikel 27 Nr. 1 LGVÜ), weshalb die Vollstreckbarerklärung abzulehnen ist (Artikel 34 LGVÜ).
a) Die Vollstreckbarerklärung darf gemäß Artikel 34 LGVÜ nur aus einem der dort in den Artikeln 27 und 28 angeführten Gründe abgelehnt werden. Die ausländische Entscheidung darf keinesfalls in der Sache selbst nachgeprüft werden.
Der Fall, dass der – angebliche – Kläger des Ausgangsverfahrens, der dort zur Tragung der Prozesskosten verurteilt wurde, geltend macht, jenes Verfahren sei völlig ohne sein Wissen und Wollen in seinem Namen geführt worden, kann nur nach Artikel 27 Nr. 1 LGVÜ beurteilt werden.
Er bildet gewissermaßen das Spiegelbild zu dem in Artikel 27 Nr. 2 LGVÜ geregelten Fall des Beklagten, der sich auf das Verfahren nicht eingelassen hat. Nach dem Hendrikman und Feyen – Urteil des Europäischen Gerichtshofes muss diese Vorschrift, die denselben Wortlaut hat wie Artikel 27 Nr. 2 des (früheren) Brüsseler Übereinkommens (EuGVÜ), auch auf solche Entscheidungen angewendet werden, die gegen einen Beklagten ergangen sind, dem das verfahrenseinleitende Schriftstück nicht ordnungsgemäß und nicht rechtzeitig zugestellt worden ist, und der im Verfahren nicht wirksam vertreten war, die aber wegen des Erscheinens eines angeblichen Vertreters des Beklagten vor dem Gericht des Urteilsstaates nicht als Versäumnisentscheidungen ergangen sind (EuGH, Urteil vom 10. Oktober 1996, Rechtssache C-78/95, Slg. 1996 I – 4943). Wenn es dort heißt:
„Ein Beklagter, der von dem gegen ihn eingeleiteten Verfahren keine Kenntnis hat und für den vor dem Gericht des Urteilsstaates ein Rechtsanwalt erscheint, den er nicht beauftragt hat, ist völlig außerstande, sich zu verteidigen.“,
dann gilt das nicht weniger für einen Kläger, der – wie hier – keinen Auftrag zu einer Klage und Appellation gegeben haben will. Der in Artikel 27 Nr. 2 LGVÜ ausdrücklich geregelte Fall ist nichts anderes als ein Unterfall des Verstoßes gegen den „verfahrensrechtlichen“ ordre public, welcher in der Praxis so häufig vorkommt, dass die Vertragsstaaten ihn eben deswegen gesondert geregelt haben. Widerfährt dem Kläger vergleichbares, ist ebenfalls ein Verstoß gegen den ordre public anzunehmen. Denn seine Verurteilung zur Zahlung von Prozesskosten wäre ohne rechtliches Gehör erfolgt. Darin liegt der Verstoß gegen ein grundlegendes Verfahrensgrundrecht (vgl. EuGH, Urteil vom 28. März 2000, Rechtssache C-7/98, Slg. 2000 I – 1956).
b) Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Zivilprozess in Polen, in welchem die in Rede stehenden Urteile ergingen, ohne Wissen und Wollen des Schuldners stattfand.
Die vermeintliche Vollmacht, welche sich in der polnischen Gerichtsakte befand (Kopie derselben in polnischer Sprache nebst Übersetzung – in Hülle nach Bl. 118), trägt augenscheinlich zwei Unterschriften, nämlich unten links die des so bevollmächtigten J…, und unten rechts den gut lesbaren Namenszug „G… D…“.
Der den Kläger bezeichnende Namenszug weicht ganz offensichtlich und gravierend von der damals – und erst recht heute – üblichen Unterschrift des Schuldners ab. Der Schuldner hat bei seiner Anhörung mehrere Unterschriftsbeispiele auf älteren Urkunden vorgelegt (Hülle nach Bl. 118), die allesamt keine Ähnlichkeit mit dem Schriftzug unter der Vollmacht aufweisen: Ein Lehrgangszeugnis der Nachschubschule des Heeres vom Juni 1999 und Kopien zweier weiterer Unterlagen aus seiner Bundeswehrzeit 1998/99, Durchschriften mehrerer Bankunterlagen aus 1998/99 und weiteres. Schließlich liegt der Reisepass vom 2. Juli 1999 vor. Auch dort findet sich ein völlig anderer Schriftzug als unter der Vollmacht. Außerdem stimmt die Passnummer nicht mit derjenigen überein, die auf der Vollmacht vermerkt ist.
Die Angaben des Zeugen B… waren wenig aufschlussreich. Eine anwaltliche Handakte konnte er nicht mehr auffinden. Der Vorname „D…“ kam ihm zwar bekannt vor. Nach seiner Erinnerung hat er die Mandate deutscher Staatsbürger in Verkehrsunfallangelegenheiten aber nur über den – verstorbenen – Herrn J… erhalten. Zwar sei einmal jemand mitgekommen, der ihm, dem Zeugen, als der Fahrzeugbesitzer D… G… vorgestellt worden sei. Dessen Personalien hat der Zeuge aber nicht überprüft. Außerdem hat er sich keine Prozessvollmacht der ihm durch J… vorgestellten Person geben lassen, obwohl dies nahegelegen hätte.
Angesichts der auffällig abweichenden „Unterschrift“ unter dem Vollmachtstext und angesichts der falschen Passnummer kann der Senat somit nur anhand der Angaben des Zeugen B… nicht feststellen, dass der Schuldner von dem Zivilprozess wusste.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 8 Abs. 2 AVAG.
Für die Berechnung des Beschwerdewertes war gemäß § 40 GKG auf den Zeitpunkt der Beschwerdeeinlegung abzustellen. Am 6. Juli 2006 belief sich der Umrechnungskurs auf 0,248 € für 1 zł. Die titulierten 16.709,20 zł entsprechen dann 4.135,84 €.