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Merkzeichen G - Nachteilsausgleich - GdB - Wirbelsäule


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat Entscheidungsdatum 14.10.2010
Aktenzeichen L 13 SB 88/08 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 69 SGB 9

Tenor

Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) geändert. Soweit der Rechtsstreit nicht durch das angenommene Teilanerkenntnis des Beklagten vom 14. Oktober 2010 erledigt ist, wird die Klage abgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits zu 1/8 zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei dem Kläger festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) sowie die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).

Mit Bescheid vom 5. April 2005 hatte der Beklagte bei dem 1957 geborenen Kläger wegen Funktionsbehinderung der Wirbelsäule einen GdB von 20 festgestellt. Den Verschlimmerungsantrag des Klägers vom 21. Juli 2005, wiederholt am 13. September 2005, lehnte der Beklagte zunächst mit Bescheid vom 5. Dezember 2005 ab. Auf den Widerspruch des Klägers setzte der Beklagte nach versorgungsärztlicher Auswertung der ärztlichen Unterlagen mit Widerspruchsbescheid vom 13. September 2006 mit Rücksicht auf die außergewöhnliche Schmerzreaktion den GdB ab 13. September 2005 auf 30 herauf.

Mit seiner Klage bei dem Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat der Kläger die Feststellung eines GdB von wenigstens 50 und der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen „G“ begehrt.

Das Sozialgericht hat neben Befundberichten der den Kläger behandelnden Ärzte das Gutachten des Arztes für Neurologie und spezielle Schmerztherapie Dr. B vom 26. Oktober 2007 eingeholt, der die Zuerkennung eines Gesamt-GdB von 50 seit Februar 2005 vorgeschlagen hat. Dem hat er folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde gelegt:

a) chronifizierter Kreuz- und Ischiasschmerz bei Postdiskotomiesyndrom nach zweimaliger Bandscheibenoperation in Segmenthöhe L5/S1 rechts (06/2003, 10/2004) mit neurologischen Ausfallerscheinungen und MR-tomographischem Nachweis einer ausgeprägten postoperativer Narbenbildung (30),

b) chronisches Zervikalsyndrom ohne neurologisches Defizit bei Zustand nach Operation eines links mediolateralen Bandscheibenvorfalls C5/6 (1998) und degenerativen Veränderungen im Bereich zwischen HWK 4 und 7 (20),

c) depressive Anpassungsstörung (30).

Das chronische Wirbelsäulenleiden werde im Sinne einer Schmerzkrankheit mitgeprägt und verstärkt durch die begleitende seelische Störung. Die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ lägen vor.

Der Beklagte hat daraufhin mit Schriftsatz vom 14. Dezember 2007 erklärt, er werde über den Antrag des Klägers neu entscheiden und hierbei davon ausgehen, dass ab 12. September 2007 der GdB 40 betrage. Der Kläger leide unter folgenden Funktionsbeeinträchtigungen:

a) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, operierte Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen der Wirbelsäule, außergewöhnliche Schmerzreaktion (30),

c) depressive Anpassungsstörung (20).

Der Kläger hat sich außerstande gesehen, auf das Teilanerkenntnis eine Erledigung zu erklären, da der GdB seit Februar 2005 mit 50 zu bemessen sei.

Mit Urteil vom 31. Januar 2008 hat das Sozialgericht den Beklagten verurteilt, bei dem Kläger ab 21. Juli 2005 einen GdB von 50 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ festzustellen. Der Kläger leide an einem schweren Wirbelsäulenschaden in zwei Wirbelsäulenabschnitten, der mit einem Einzel-GdB von 40 zu bewerten sei. Da die bei dem Kläger vorliegende depressive Anpassungsstörung eine stärker behindernde Störung darstelle, sei ein Einzel-GdB von 30 angemessen. Hieraus sei ein Gesamt-GdB von 50 zu bilden. Daneben lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ vor. Zwar bedingten die pathologischen Befunde im Bereich der unteren Wirbelsäule für sich keinen GdB von 50, jedoch sei es dem Kläger nach Aussage des Gutachters Dr. B gegenwärtig nicht möglich, mehr als 1000 bis 1500 m zu gehen.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung des Beklagten. Ein Gesamt-GdB von 50 werde nicht erreicht. Ein Einzel-GdB von 40 für die Wirbelsäulenschäden entspräche schweren Funktionsstörungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten, die anhand der Untersuchungsbefunde nicht nachvollziehbar seien. Auch die depressive Anpassungsstörung könne nicht mit einem Einzel-GdB von 30 bewertet werden, da sie sich zu einem Großteil aus dem bereits bei den Wirbelsäulenschäden berücksichtigten Schmerzsyndrom begründe. Ebensowenig erfülle der Kläger die Voraussetzungen des Merkzeichens „G“.

In der mündlichen Verhandlung hat der Beklagte über sein bisheriges Teilanerkenntnis hinaus einen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB von 40 bereits ab 1. September 2006 anerkannt. Der Kläger hat das Teilanerkenntnis angenommen.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 31. Januar 2008 zu ändern und die Klage über das Teilanerkenntnis vom 14. Dezember 2007 hinaus abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist,

hilfsweise,

Schriftsatzfrist im Hinblick auf das Merkzeichen „G“ einzuräumen.

Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Beklagten hat Erfolg, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Das Sozialgericht hat den Beklagten zu Unrecht verurteilt, bei dem Kläger ab 21. Juli 2005 einen GdB von 50 festzustellen. Denn der Kläger hat lediglich einen Anspruch auf Feststellung eines GdB von 40 ab 1. September 2006.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz und der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) zu bewerten, die als antizipierte Sachverständigengutachten gelten. Heranzuziehen sind entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum die Fassungen der AHP von 2005 und 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP - ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre - abgelöst haben.

Der Kläger leidet an Funktionsbehinderungen der - operierten - Wirbelsäule mit Nervenwurzelreizerscheinungen und einer außergewöhnlichen Schmerzreaktion. Die Einschätzung des Sachverständigen Dr. Bin dessen Gutachten vom 26. Oktober 2007, es lägen schwere Wirbelsäulenschäden in zwei Abschnitten vor, für die nach Nr. 18.9 (Bl. 90) der Anlage zur VersMedV ein Einzel-GdB von 30 bis 40 vorgesehen ist, lässt sich durch dessen eigene Feststellungen nicht begründen. Schwere funktionelle Auswirkungen bestehen lediglich in einem Wirbelsäulenabschnitt, der Lendenwirbelsäule. Die Schäden im Bereich der Halswirbelsäule zeitigen nur geringe funktionelle Auswirkungen. Insbesondere war ein manifestes neurologisches Defizit im Bereich der zervikalen Nervenwurzeln nicht nachweisbar. Die - auch von dem Sozialgericht vorgenommene - Bewertung der Wirbelsäulenschäden mit einem (für diese Funktionseinheit zusammengefassten) Einzel-GdB von 40 ist nur durch das chronische Schmerzsyndrom zu rechtfertigen, da das Wirbelsäulenleiden, wie sich aus den nachvollziehbaren und überzeugenden Darlegungen des Gutachters ergibt, durch die begleitende seelische Störung im Sinne einer Schmerzkrankheit mitgeprägt und in der Auswirkung auf die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit und auf die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verstärkt wird.

Die depressive Anpassungsstörung ist nicht geeignet, diesen Einzel-GdB auf 50 zu erhöhen. Nach den - auch insoweit überzeugenden - Ausführungen des Gutachters handelt es sich bei der depressiven Störung nicht um eine unabhängige psychiatrische Krankheitsentwicklung im Sinne einer Komorbidität, sondern um einen Teilaspekt innerhalb der chronischen Schmerzerkrankung.

Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte in der mündlichen Verhandlung vom 14. Oktober 2010 einen Anspruch des Klägers auf Feststellung eines GdB von 40 nicht bereits ab Antragstellung, sondern erst ab 1. September 2006 anerkannt hat. Dies entspricht den Feststellungen des Sachverständigen auf der Grundlage der Untersuchung des Klägers vom 12. September 2007, der ausdrücklich darauf hingewiesen hat, dass die Schmerzen und Missempfindungen des Klägers, die sich nach der Operation eines Bandscheibenvorfalls zunächst auf ein tolerables Maß reduziert hatten, im letzten Jahr wieder zugenommen haben.

Hinsichtlich der Feststellungen der medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ hätte das Sozialgericht keine Verurteilung des Beklagten aussprechen dürfen, da die Klage unzulässig gewesen ist. Denn das Merkzeichen „G“ war weder Gegenstand der Anträge des Klägers vom 21. Juli und 13. September 2005 noch des Ablehnungsbescheides vom 5. Dezember 2005. Auch im Widerspruchsbescheid findet der Nachteilsausgleich keine Erwähnung.

Dem Kläger ist die von ihm beantragte Schriftsatzfrist nicht einzuräumen. Denn ihm ist zu der Unzulässigkeit seiner auf Zuerkennung des Merkzeichens „G“ gerichteten Klage in der mündlichen Verhandlung rechtliches Gehör gewährt worden. Der Umstand, dass bei der Behörde kein diesbezüglicher Antrag gestellt wurde, stammt aus der Sphäre des Klägers.

Dies kann jedoch dahin stehen. Denn der Klägerin hat auch keinen Anspruch auf Gewährung des Merkzeichens "G", da die medizinischen Voraussetzungen hierfür nicht erfüllt sind.

Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.

Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein - d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen - noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann.

Denn Teil D Nr. 1 (Bl. 114) der Anlage zu § 2 VersMedV gibt an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um annehmen zu können, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also dem Körperbau und etwaigen Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die Anhaltspunkte diejenigen heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Es werden dabei Regelfälle beschrieben, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).

Die in Teil D Nr. 1d der Anlage zu § 2 VersMedV aufgeführten Fallgruppen liegen hier nicht vor. Die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr lässt sich nicht auf eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens gründen, da bei dem Kläger - wie gezeigt - keine sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen (Teil D Nr. 1d Satz 1 der Anlage zu § 2 VersMedV). Bei dem Kläger sind auch keine Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arterielle Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 (vgl. Teil D Nr. 1d Satz 2 der Anlage zu § 2 VersMedV).

Die nach § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG zu treffende Kostenentscheidung berücksichtigt, dass die Berufung keinen Erfolg hat.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.