Gericht | VG Cottbus 1. Kammer | Entscheidungsdatum | 06.08.2018 | |
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Aktenzeichen | VG 1 K 2482/17.A | ECLI | ECLI:DE:VGCOTTB:2018:0806.1K2482.17.00 | |
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60 Abs 5 AufenthG, § 60 Abs 7 S 1 AufenthG, § 3 AsylG, § 3e AsylVfG 1992, § 4 Abs 1 S 2 Nr 2 AsylVfG 1992, § 4 Abs 3 AsylVfG 1992 |
1. Einer 37-jährigen, erwerbsfähigen, der russischen Sprache mächtigen alleinerziehenden Mutter tschetschenischer Volkszugehörigkeit mit sechs Kindern im Alter zwischen einem und zwölf Jahren ist eine inländische Fluchtalternative innerhalb der Russischen Föderation außerhalb des Nordkaukasus zumutbar.
2. Sie ist neben einer zumutbaren Erwerbstätigkeit in Teilzeit darauf zu verweisen, die Sozialleistungen und die Familienleistungen in Anspruch zu nehmen, die es in der Russischen Föderation besonders für kinderreiche Familien gibt.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Die am 20. Januar 1981 geborene Klägerin zu 1. sowie ihre Kinder, die am 14. Oktober 2005 geborene Klägerin zu 2., die am 2. März 2007 geborene Klägerin zu 3., der nach Aktenlage am 25. August 2008, nach Angaben der Klägerin zu 1. jedoch am 25. März 2008 geborene Kläger zu 4., der am 14. Februar 2012 geborene Kläger zu 5. und der am 24. Mai 2014 geborene Kläger zu 6., sind nach eigenen Angaben Staatsangehörige der Russischen Föderation tschetschenischer Volkszugehörigkeit. Die Kläger verließen nach ihren Angaben am 15. Mai 2016 die Russische Föderation, reisten am 20. Mai 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten hier am 24. Mai 2016 Asylanträge.
Die Klägerin zu 1. hat noch ein weiteres Kind, die am 22. September 2016 in der Bundesrepublik Deutschland geborene A..., deren Asylantrag nach Angabe der Klägerbevollmächtigten mittlerweile bestandskräftig abgelehnt wurde.
Mit Schreiben vom 16. Juni 2016 teilte die Klägerin zu 1. dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) mit, sie habe mit ihrem Mann in Wolgograd einen Bauernhof gehabt. Im Jahr 2006 habe ihre Schwester L... (geb. 1986) nahe dem elterlichen Dorf in einem Wald Schreie gehört und beobachtet, wie drei Männer einem jungen Mann die Kehle durchgeschnitten hätten. Einer der Männer sei hinter ihr hergelaufen. Die Schwester sei dann mit Verwandten nach Österreich ausgereist. Nach diesem Vorfall sei das Unglück über ihre Familie gekommen. Am 20. August 2008 seien bewaffnete Personen in ihr Elternhaus eingedrungen und hätten den Vater durch einen Kopfschuss getötet. Daraufhin seien ihre Mutter und die jüngere Schwester ebenfalls nach Österreich ausgereist. Sie selbst habe nach der Ermordung des Vaters Angst gehabt, nach Tschetschenien zu fahren, obwohl es nur eine Autofahrt von zehn Stunden von Wolgograd bis dorthin sei. Ihre in Tschetschenien lebende Schwester und deren Mann seien mehrfach mit Strom gefoltert, geschlagen und dann wieder entlassen worden. Eine andere Schwester von ihr sei 2004 nach Kasachstan gezogen und dort 2011 gestorben. Sie vermute, dass die Schwester vergiftet worden sei. Am 7. Juni 2014 seien der jüngere Bruder ihres Vaters und der Mann ihrer Tante am Dorfrand von einer Mine zerfetzt worden. Am 2. April 2016 seien maskierte Personen frühmorgens in ihr Haus in Wolgograd eingedrungen. Ihrem Ehemann hätten sie Maschinenpistolen in den Rücken gedrückt. Sie hätten geschrien, dass sie ihnen die Pässe zeigen solle. Ihr Mann und sie selbst seien geschlagen worden. Ihrem Mann hätten sie dann einen Sack über den Kopf gezogen und ihn weggebracht. Beim Weggehen hätten sie noch den laut bellenden Hund erschossen. Einer der Männer habe mit tschetschenischem Akzent gesprochen. Er habe gesagt, sie hätten sich geirrt, wenn sie geglaubt hätten, in Sicherheit zu sein, wenn sie Tschetschenien verließen. Danach seien die Männer auch in das Haus ihrer nicht weit entfernt lebenden Schwester eingedrungen. Danach sei ihr Schwiegervater aus Tschetschenien gekommen und habe ihr vorgeworfen, ihre Familie sei schuld daran, dass sein Sohn mitgenommen worden sei. Falls der Sohn nicht gefunden werde, dann werde er ihr die Kinder wegnehmen, die sie dann nie mehr wiedersehen werde. Sie habe in Tschetschenien kein Recht auf ihre Kinder. Sie könne in Russland von niemandem Hilfe erwarten. Sie habe einen Monat in der Hoffnung gelebt, dass ihr Mann wiederkäme. Dann habe sie sich entschlossen, das Land zu verlassen.
Nachdem die Dublin-Überstellung der Kläger nach Polen gescheitert war, erklärte die Klägerin zu 1. in der persönlichen Anhörung vor dem Bundesamt am 20. März 2017, sie habe einen Reisepass besessen, den sie bei den polnischen Behörden abgegeben habe. Sie könne sich nicht genau erinnern, glaube aber, dass sie den neuen Reisepass Ende 2015 beantragt habe. Bis zur Ausreise habe sie sich in Wolgograd aufgehalten, wo sie auch polizeilich gemeldet gewesen sei. Sie habe mit ihrem Mann und den Kindern auf einem Bauernhof gelebt, der ihrem Schwiegervater gehört habe. Dieser lebe aber in Tschetschenien. Ihr Ehemann gälte als verschollen. Sie habe die 9. Klasse abgeschlossen. Danach sei sie auf das Technikum gegangen und habe dort Jura studiert, was sie aber nicht abgeschlossen habe, da sie Ende 2004 ihren Ehemann geheiratet habe. Vor ihrer Heirat habe sie in Tschetschenien als Erzieherin gearbeitet. Vor der Ausreise hätten sie beide auf dem Bauernhof gearbeitet und äußerst gut verdient. Außerdem hätten sie noch Sozialleistungen für die Kinder erhalten. Sie selbst habe die Zugtickets für ihre Kinder und für die Familie ihrer Schwester gekauft und bezahlt. Da sei aber noch Geld von ihrem Schwager hinzugekommen. Ihr Mann sei mit drei Monaten nach Wolgograd gekommen und habe dort sein ganzes Leben verbracht. Er sei nur hin und wieder zu Besuch in Tschetschenien gewesen. Zunächst seien Leute zu ihrem Ehemann gekommen und hätten sich lautstark mit ihm unterhalten. Hinterher habe ihr Ehemann ihr erzählt, dass er Geld für den Wiederaufbau Tschetscheniens habe geben sollen. Falls er nicht zahle, so würden sie alles daransetzen, dass er nicht mehr arbeiten und sein Geschäft betreiben könne. Sonst hätten sie nie Probleme gehabt und ihr Mann sei nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Am 2. April 2016 seien die Personen wiedergekommen und hätten ihren Mann weggebracht. Vorher hätten sie nie Probleme gehabt, sondern supergut gelebt. Ihr selbst sei vor der Ausreise nichts passiert. Ihr Schwager habe sie aufgefordert, nichts zu unternehmen und keine Anzeige zu erstatten. Drei Tage nach diesem Ereignis im April 2016 sei der Schwiegervater nach Wolgograd gekommen und sie seien zur Polizei gegangen und hätten Anzeige erstattet. Als diese Leute ihren Mann geholt hätten, seien sie beide geschlagen worden und dann sei der Mann weggebracht worden. Dabei sei auch der Hund umgebracht worden. Die Polizisten hätten dann gefragt, warum sie nicht sofort nach dem Verschwinden des Mannes Anzeige erstattet habe. Sie habe erklärt, dass ihr das nicht erlaubt worden sei. Danach sei der Streit in ihrer Familie losgegangen. Der Schwiegervater habe versucht, ihren Ehemann zu finden. Er habe ihr gesagt, wenn er ihn nicht in Tschetschenien fände, werde er sie rausschmeißen. Ihre Mutter habe ihr geraten, sie solle sofort mit den Kindern zu ihr kommen. Sie habe vergeblich auf die Rückkehr ihres Ehemannes gewartet. Sie habe gewartet, bis der Schwiegervater weggewesen sei, habe dann die Tickets besorgt und sei hergekommen. Bis heute habe sie keine Ahnung, wo ihr Ehemann sei. Die Polizei habe auch nichts gemacht, sie habe überhaupt nicht reagiert. Von den Leuten, die sie aufgesucht und ihren Ehemann mitgenommen hätten, sei sie heftig geschubst worden. Sie hätten gesagt, wenn sie sich beschwere oder etwas gegen sie unternähme, würden sie sie und die Kinder erschießen. Wenn ihr Mann zurückkehre oder ihr Schwiegervater sterbe, kehre sie mit dem größten Vergnügen zurück. Wenn sie jetzt zurückkehre, werde der Alte ihr die Kinder wegnehmen. Auf die Nachfrage, dass sie vorher nicht erwähnt habe, dass ihr Schwiegervater ihr die Kinder wegnehmen wolle, erklärte die Klägerin zu 1., er habe ihr nicht gedroht, aber sie wisse, dass das so passiert wäre. Weil sein ältester Sohn in Scheidung gewesen sei, habe er die Kinder der Frau seines Sohnes auch weggenommen. Es sei bei ihnen nämlich so, dass die Kinder dem Mann angehörten. Bei Scheidung oder Trennung passiere das, was der Älteste in der Familie sage, der Vater dann eben. Sie sei in der Heimat nicht vor Gericht und nicht vorbestraft gewesen, habe sich nicht politisch betätigt, sei kein Mitglied einer Partei und habe sonst keine Probleme mit staatlichen Stellen gehabt.
Mit Bescheid vom 4. Juli 2017 versagte das Bundesamt die Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1.), lehnte die Anträge auf Asylanerkennung ab (Ziffer 2.), versagte den subsidiären Schutzstatus (Ziffer 3.), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes nicht vorlägen (Ziffer 4.), forderte die Kläger unter Androhung ihrer Abschiebung in die Russische Föderation auf, die Bundesrepublik Deutschland binnen 30 Tagen zu verlassen (Ziffer 5.) und befristete das gesetzliche Einreise und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 6). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Kläger hätten keine Gründe vorgetragen, die auf eine individuelle Verfolgungshandlung in Verbindung mit einem flüchtlingsrelevanten Anknüpfungsmerkmal nach § 3 AsylG schließen ließen. Den Erklärungen der Klägerin zu 1. und den mitgeteilten Vorfällen lasse sich vielmehr entnehmen, dass es dort immer um den Ehemann der Klägerin zu 1. und um dessen Zahlung des geforderten Geldes gegangen sei. Handlungen gegen die Person der Klägerin zu 1. und der übrigen Kläger seien nicht ersichtlich. Unklar sei, von wem genau der Ehemann der Klägerin zu 1. mitgenommen worden sei. Zudem hätten private, innerfamiliäre Gründe für ihre Ausreise den Ausschlag gegeben. Weiter bestehe für die Kläger die Möglichkeit internen Schutzes.
Die Kläger haben am 15. Juli 2017 Klage bei dem Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) erhoben. Das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) hat das Verfahren mit Beschluss vom 29. August 2017 wegen örtlicher Unzuständigkeit an das Verwaltungsgericht Cottbus verwiesen.
Zur Begründung ihrer Klage machen die Kläger im Wesentlichen geltend, u.a. habe die Klägerin habe im Jahr 2004 geheiratet und sei 2005 mit ihrem Ehemann nach Wolgograd gezogen, wo der Ehemann bereits zuvor gelebt habe. Ihre Schwiegereltern hätten sich im Sommer in Wolgograd aufgehalten und den Rest des Jahres in Tschetschenien. Die Schwester der Klägerin namens L... bzw. L... habe im Jahr 2006 in der Nähe des Heimatorts der Klägerin beobachtet, wie drei Männer einen Mann mit einem Messer getötet hätten. Die Schwester sei weggelaufen und nach Hause verfolgt worden. Aus Angst um das Leben der Schwester habe die Familie sie an Verwandte übergeben, die sie nach Österreich gebracht hätten. Die Familie der Klägerin sei seitdem in ihrem Heimatort bedroht worden. Der Ehemann der Klägerin, J..., sei seit dem 2. April 2016 vermisst. Die Klägerin zu 1. habe mit ihrem Ehemann in Wolgograd gelebt. Am 2. April 2016 seien sechs maskierte Personen in ihr Haus eingedrungen. Die Klägerin habe ihre Pässe zeigen müssen. Der Ehemann sei mit einer Pistole bedroht und geschlagen worden. Der Ehemann sei mit einem über den Kopf gezogenen Sack weggebracht worden. Eine der maskierten Personen habe mit einem tschetschenischen Akzent gesagt, dass sie alle finden würden, die sie bräuchten. Sie hätten sich geirrt zu glauben, dass sie in Sicherheit seien, nachdem sie Tschetschenien verlassen hätten. Vor diesem Vorfall hätte eine Gruppe von Tschetschenen von dem Ehemann der Klägerin zu 1. Geld für den Wiederaufbau Tschetscheniens hätten eintreiben wollen. Der Ehemann habe sich mit den Männern gestritten. Sie hätten ihnen kein Geld gegeben. Drei Tage später sei die Familie des Ehemannes aus Tschetschenien nach Wolgograd gekommen und sie hätten gemeinsam bei der Polizei Anzeige erstattet. Der Schwiegervater habe der Klägerin zu 1. vorgeworfen, dass ihre Familie schuld daran sei, dass nun auch sein Sohn in das Visier der tschetschenischen Behörden gelangt sei und wegen ihr mitgenommen worden sei. Der Schwiegervater habe der Klägerin zu 1. gesagt, dass er ihre Kinder mit zu sich nach Tschetschenien nehmen werde, wo er ein Haus habe. Die Klägerin habe Angst, dass der Schwiegervater ihre Kinder tatsächlich nach Tschetschenien nehmen werde. Sie befürchte, dass sie in dem Fall keine Möglichkeit haben werde, ihre Kinder zurückzubekommen. Sie befürchte auch, dass sie, selbst wenn sie vor einem russischen Gericht Recht bekäme, sie keine Möglichkeit haben werde, die Kinder aus Tschetschenien zurückzuholen. Die Klägerin zu 1. habe derzeit keinen Kontakt mehr zu ihrem Schwiegervater. Ein Neffe habe ihr nur gesagt, dass ihr Ehemann noch leben würde. Im Mai 2016 habe die Klägerin die Russische Föderation verlassen, und zwar aus Angst vor Übergriffen von tschetschenischen Behörden und davor, dass der Schwiegervater ihr die Kinder wegnähme. Der Klägerin zu 1. drohe im Fall der Rückkehr die Wegnahme ihrer Kinder durch den Schwiegervater, da nach tschetschenischem Gewohnheitsrecht die Kinder traditionell bei dem Mann bzw. dessen Familie verblieben. Ein eigenes Sorge- bzw. Umgangsrecht könne die Klägerin zu 1. in einem solchen Fall nicht durchsetzen.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 4. Juli 2017 zu verpflichten,
1. den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
2. hilfsweise den Klägern subsidiären Schutz zuzuerkennen,
3. hilfsweise festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 Aufenthaltsgesetz vorliegen,
4. hilfsweise das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz auf 0 Monate zu befristen,
5. hilfsweise über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.
Die Beklagte beantragt schriftlich,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist die Beklagte zunächst auf den angefochtenen Bescheid. Ergänzend führt sie aus, es sei nach wie vor unklar, welcher Gruppierung und welcher Motivation die Personen zuzuordnen seien, die die Klägerin und ihren Ehemann in Wolgograd aufgesucht hätten. In Wolgograd, wo das tschetschenische Gewohnheitsrecht nicht überwiege, sei nicht anzunehmen, dass das russisch-föderale Familienrecht nicht durchsetzbar sei. Auch sei der Schwiegervater der Klägerin kein staatlicher Akteur und müsse eine nicht unerhebliche Entfernung mit den Kindern überwinden. Es sei daher wenig wahrscheinlich, dass dem Schwiegervater im Fall einer Kindesentziehung keine erheblichen Konsequenzen drohen würden. Im Übrigen sei die Klägerin zu 1. auch nicht von ihrem Ehemann geschieden, sondern dieser sei entführt worden und gälte als verschollen. Die russische Verfassung schütze die Gleichstellung von Mann und Frau und es gäbe dort keine systematische Diskriminierung von Frauen. Widersprüchlich seien die Angaben der Klägerin zu 1. zu den Gründen für die Entführung ihres Ehemannes. Einerseits habe die Klägerin zu 1. vor dem Bundesamt angegeben, es sei um Geld für den Wideraufbau Tschetscheniens gegangen. Andererseits habe die Klägerin in ihrer schriftlichen Antwort auf die Aufforderung zur Stellungnahme vom 27. Mai 2016 erklärt, das Verschwinden des Ehemannes stehe im Zusammenhang mit den Beobachtungen der Schwester L... im Jahr 2006. Dasselbe habe auch die Schwester der Klägerin zu 1. M... in ihrer persönlichen Anhörung erklärt.
Ergänzend zur Klagebegründung haben die Kläger für die Klägerin zu 2. ein Attest des Dr. med. Rigas, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, vom 27. Dezember 2017 übersandt. Wegen der Einzelheiten wird auf Blatt 71 der Gerichtsakte Bezug genommen.
Die Kammer hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten mit Beschluss vom 11. Mai 2018 der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen.
Die Klägerbevollmächtigte hat mit Schriftsatz vom 10. Juli 2018 ein Memorandum der Gesellschaft für bedrohte Völker „Gewaltopfer: Frauen aus dem Nordkaukasus brauchen auch in Deutschland besonderen Schutz“, erstellt von S..., vom Oktober 2016 übersandt.
Das Gericht hat die Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung am 30. Juli 2018 informatorisch angehört. Wegen der Einzelheiten wird auf das Protokoll in der Gerichtsakte Bezug genommen.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte, die beigezogene Gerichtsakte VG 1 K 2597/17.A (Verfahren der M... u.a.), den Aktenausdruck des Bundesamtes und die Beiakten der zuständigen Ausländerbehörde sowie auf die Erkenntnisse laut Liste für die Russische Föderation Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung des Gerichts.
Das Gericht entscheidet durch die zuständige Einzelrichterin, der die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 6 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mit Beschluss vom 11. Mai 2018 übertragen hat.
Das Gericht kann zudem gemäß § 102 Abs. 2 VwGO trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten zur mündlichen Verhandlung in der Sache entscheiden, weil die Beteiligten in der ordnungsgemäß erfolgten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden sind.
Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Kläger haben in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage nach § 77 Abs. 1 S. 1 des Asylgesetzes (AsylG) maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG noch von subsidiärem Schutz bzw. auf Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Juli 2017 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten.
Der auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Hauptantrag der Kläger bleibt ohne Erfolg. Nach § 3 Abs. 4 1. Hs. AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 der Vorschrift ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist nach § 3 Abs. 1 AsylG ein Ausländer, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 gelten nach § 3a AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist. Gleiches gilt nach § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG für eine Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist.
Zwischen den nach § 3a AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (sog. Verfolgungshandlungen) und den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmalen muss nach § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen. Die Verfolgung muss stattfinden, weil der Verfolger dem Ausländer das in Rede stehende Merkmal, z.B. eine bestimmte politische Überzeugung, zuschreibt. Ist dies der Fall, kommt es weder darauf an, ob der Betroffene die ihm zugeschriebene Überzeugung tatsächlich aufweist (§ 3b Abs. 2 AsylG) noch ob er aufgrund dieser tatsächlich tätig geworden ist (§ 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Ob eine Verfolgungshandlung in diesem Sinne „wegen“ eines flüchtlingsrelevanten Merkmals erfolgt, ist nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung anhand des inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den – ohnehin kaum feststellbaren – subjektiven Vorstellungen und Motiven, die den Verfolgenden oder die für ihn handelnden Personen leiten (vgl. Bundesverfassungsgericht, Kammerbeschluss vom 3. Juli 1996 – 2 BvR 1957/94 –, juris Rn. 18). Entscheidend ist mithin, wie sich die Verfolgungshandlung nach dem „objektiven Empfängerhorizont“ darstellt.
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung solcher Art liegt schließlich vor, wenn dem Antragsteller politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dies ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anhand einer Verfolgungsprognose zu beurteilen, die die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat. Beachtlich wahrscheinlich ist eine Verfolgung danach, wenn bei der im Rahmen dieser Prognose vorzunehmenden „zusammenfassenden Bewertung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts“ die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Insofern ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung geboten, bei der letztlich der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit maßgebend ist. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Ausländers Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann. Eine in diesem Sinne wohlbegründete Furcht vor einem Ereignis kann auch dann vorliegen, wenn aufgrund einer quantitativen oder mathematischen Betrachtungsweise weniger als 50 % Wahrscheinlichkeit für dessen Eintritt besteht. In einem solchen Fall reicht zwar die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ein vernünftig denkender Mensch wird sie außer Betracht lassen. Ergeben allerdings die Gesamtumstände des Einzelfalls die „tatsächliche Gefahr“ („real risk“) einer politischen Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Er wird bei der Abwägung aller Umstände zudem auch immer die Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in die Betrachtung mit einstellen. Wenn nämlich bei quantitativer Betrachtungsweise nur eine geringe mathematische Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung besteht, macht es aus Sicht eines besonnenen und vernünftig denkenden Menschen bei der Überlegung, ob er in seinen Heimatstaat zurückkehren kann, einen erheblichen Unterschied, ob er z.B. lediglich eine Gefängnisstrafe von einem Monat oder aber schwere Misshandlungen bzw. Folter oder gar die Todesstrafe riskiert (vgl. zu alledem Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 5. November 1991 – 9 C 118/90 –, juris Rn. 17; EuGH-Vorlage v. 7. Februar 2008 – 10 C 33/07 –, juris Rn. 37).
Die begründete Furcht vor Verfolgung kann dabei sowohl auf tatsächlich erlittener oder unmittelbar drohender Verfolgung bereits vor der Ausreise im Herkunftsstaat (sog. Vorverfolgung) als auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Für Vorverfolgte gilt innerhalb des auch insoweit anzuwenden Maßstabes der beachtlichen Wahrscheinlichkeit eine Beweiserleichterung. Denn nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie) ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder unmittelbar von Verfolgung bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. In diesen Fällen streitet also die tatsächliche Vermutung dafür, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden. Diese Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit der Verfolgung entkräften (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 27. April 2010 – 10 C 5/09 –, juris Rn. 22 ff.).
Das Gericht ist auf der Grundlage des Akteninhalts, der Erklärungen der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung sowie der vorliegenden Erkenntnisquellen nicht davon überzeugt, dass die Kläger ihr Herkunftsland als Flüchtlinge im Sinne des § 3 AsylG verlassen hätten.
Das Gericht vermochte sich keine Überzeugung von einer beachtlichen Vorverfolgung der Kläger bis zu deren Ausreise aus der Russischen Föderation zu bilden. Das Vorbringen der Kläger hierzu ist insgesamt widersprüchlich und darüber hinaus in zahlreichen Einzelheiten unschlüssig.
Insbesondere ist für das Gericht auch nach der mündlichen Verhandlung weiterhin nicht ersichtlich, welchen Hintergrund die Ereignisse vom 2. April 2016 und das Verschwinden des Ehemannes der Klägerin zu 1. hatten. Während die Klägerin zu 1. im Schreiben vom 16. Juni 2916 an das Bundesamt suggeriert, dieses Geschehen sei darauf zurückzuführen, dass auch schon zahlreiche andere Familienmitglieder von ihr eines unnatürlichen Todes gestorben seien, und es stelle gewissermaßen die Fortsetzung eines Verfolgungsgeschehens gegen ihre Herkunftsfamilie dar, die schon im Jahr 2006 in Tschetschenien begonnen habe, gab sie dagegen in der Anhörung vor dem Bundesamt am 20. März 2017 an, bereits vor diesem Ereignis seien Männer zu ihrem Ehemann nach Wolgograd gekommen und hätten von ihm Geld für den Wiederaufbau Tschetscheniens verlangt. Nachdem der Ehemann ihnen kein Geld gezahlt habe, seien sie am 2. April 2016 wiedergekommen und hätten den Ehemann weggebracht. In der Anhörung stellte die Klägerin zu 1. das Geschehen vom 2. April 2016 außerdem so dar, dass das Verschwinden des Ehemannes wenigstens ihrer Meinung nach mit den Ereignissen um ihre eigene Herkunftsfamilie im Zusammenhang stand. So erklärte sie in der Anhörung, die Männer hätten gesagt, sie hätten sich geirrt, wenn sie geglaubt hätten, in Sicherheit zu sein, wenn sie Tschetschenien verließen. Dies kann sich logischerweise nur auf die Klägerin zu 1. und deren Herkunftsfamilie bezogen haben, weil der Ehemann der Klägerin zu 1. Tschetschenien bereits als Kind und nicht wegen Sicherheitsbedenken verlassen hatte. Auch schilderte die Klägerin zu 1. in der Anhörung gleich im Anschluss an diese Aussage, dass es kurz darauf einen ähnlichen Vorfall im Haus ihrer in der Nähe lebenden Schwester gegeben habe. In der mündlichen Verhandlung machte die Klägerin zu 1. jedoch keinerlei Angaben zu einem Verfolgungsgeschehen um ihre Herkunftsfamilie mehr, sondern gab lediglich an, Hintergrund des Verschwindens des Ehemannes sei die Erpressung ihres Ehemannes um Geld für den Wiederaufbau Tschetscheniens durch mit tschetschenischem Akzent Russisch sprechende Männer gewesen. Hierbei handelt es sich um einen völlig anderen, mit der ersten schriftlichen Schilderung inhaltlich unvereinbaren Lebenssachverhalt. Auf diesen deutlichen Widerspruch sprach das Gericht die Klägerin zu 1. zweimal ausdrücklich an und gab ihr Gelegenheit zur Auflösung. Die Klägerin zu 1. gab jedoch keine inhaltlich aussagefähige Antwort, sondern redete sich letztlich mit Floskeln heraus. Dieser unaufgelöste Widerspruch geht zu Lasten der Kläger.
Unabhängig davon bestehen im Vorbringen der Klägerin zu 1. weitere Widersprüche und Ungereimtheiten. Soweit es um das Verfolgungsgeschehen geht, bleibt dessen Hintergrund für das Gericht im Dunkeln. Abgesehen davon, dass die Klägerin zu 1. bei dem Tod der in Kasachstan verstorbenen Schwester eine unnatürliche Ursache lediglich vermutet und dass es sich bei dem Tod zweier Verwandter durch eine Mine im Heimatdorf um einen Unglücksfall handeln könnte, ist völlig unklar, warum der Vater der Klägerin zu 1. durch einen Kopfschuss im elterlichen Wohnhaus getötet wurde und was daraus folgte, dass die Schwester L... offenbar im Jahr 2006 im Wald nahe dem elterlichen Dorf die Liquidierung eines Mannes beobachtet hat. Hierzu fehlt es an jeglichen näheren Angaben für eine etwaige Verfolgung.
Schließlich spricht auch gegen ein Verfolgungsgeschehen, dass die Klägerin zu 1. in der persönlichen Anhörung erklärt hat, sie kehre „mit dem größten Vergnügen“ in die Russische Föderation zurück, wenn ihr Ehemann zurückkehre oder ihr Schwiegervater stürbe. In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin zu 1. auf Nachfrage des Gerichts ausdrücklich bestätigt, dass dies auch weiterhin so ist. Diese Erklärung ist unvereinbar mit der Annahme eines Verfolgungsgeschehens, das die gesamte Familie der Klägerin zu 1. und damit auch diese selbst umfasst, wie es die Klägerin zu 1. aber zugleich behauptet.
Bei der behaupteten Erpressung von Geld für den Wiederaufbau Tschetscheniens ist bei diesem Vortrag unklar, ob es sich dabei um eine systematische, dem russischen Staat insgesamt zuzuordnende Verfolgung oder lediglich um kriminelles Unrecht z.B. in Form einer Schutzgelderpressung gehandelt hat. Nach den Erkenntnissen des Gerichts werden in Tschetschenien manche öffentliche Bedienstete gezwungen, einen Teil ihres Gehalts an den Kadyrov-Fond abzuliefern, der als eine der intransparentesten NGO in Russland gilt und das gespendete Geld u.a. für Moscheen und Charity-Projekte verwendet, aber laut Kritikern auch der persönlichen Bereicherung Kadyrovs dienen soll (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 21. Juli 2017, letzte Kurzinformation vom 7. Mai 2018, S. 101). Es liegen dem Gericht jedoch keine Erkenntnisse darüber vor, dass solche Zwangsabgaben für den Kadyrov-Fond auch außerhalb Tschetscheniens erhoben werden. Zudem ist nicht klar, ob der Verwendungszweck des erpressten Geldes – laut Klägerin zu 1. ging es bei dem Geld, das der Ehemann zahlen sollte, um den „Wiederaufbau Tschetscheniens“, bei dem Kadyrov-Fond geht es eher um religiöse und karitative Zwecke – identisch ist. Die Klägerin zu 1. hat in der mündlichen Verhandlung erklärt, sie wisse nicht, ob es bei dem Geld um den Kadyrov-Fond ging.
Unklar sind schließlich auch der Verbleib des Ehemannes der Klägerin zu 1. und der Hintergrund seines Verschwindens. Der Ehemann ist bislang weder offiziell für verschollen noch für tot erklärt worden. Eine Verschollenheitserklärung wäre in diesem Fall wenig wahrscheinlich, weil das Verschwinden erst zwei Jahre her ist und offensichtlich nicht im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen wie z.B. den Tschetschenienkriegen stand. Dem Gericht ist aus anderen Verfahren bekannt, dass es im Zusammenhang mit in diesen Kriegen Verschwundenen offizielle Verschollenheitserklärungen gibt. Hier ist jedoch keine solche Urkunde vorgelegt oder auch nur erwähnt worden. Außerdem bestehen Anzeichen dafür, dass der Ehemann der Klägerin zu 1. noch am Leben ist, wie die letzte Information ihres Neffen besagt. Demnach bestehen Kontakte zwischen dem Ehemann und dessen Familie. Denkbar wäre z.B., dass der Ehemann in anderen Teilen der Russischen Föderation Arbeit gesucht hat, wie es offenbar nach den Schilderungen der Klägerin zu 1. auch dessen ältester leiblicher Bruder getan hat, der nach der Scheidung von der Ehefrau nach Sibirien gegangen ist.
Schließlich ist eine Vorverfolgung der Kläger auch nicht in dem von der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlungen geschilderten Verhalten des Schwiegervaters zu sehen. Der Schwiegervater könnte nur dann als nichtstaatlicher Verfolger gelten, wenn der russische Staat nicht willens oder in der Lage wäre, die Kläger vor ihm zu schützen. Dies ist hier nicht der Fall. Hinsichtlich des erstmals in der mündlichen Verhandlung erfolgten Vortrags der Klägerin zu 1. zum Schulbesuch ihrer ältesten Tochter in Tschetschenien fehlt es bereits an einer Verfolgungshandlung des Schwiegervaters. Denn es war nach dem Vortrag der Klägerin zu 1. nicht der Schwiegervater, der die Tochter nach Tschetschenien brachte, sondern ihr eigener Ehemann. Demnach muss hier von einer einvernehmlichen Regelung zwischen den Eltern und dem Schwiegervater ausgegangen werden. Jedenfalls kann von einer gewaltsamen Kindesentziehung durch den Schwiegervater nicht die Rede sein, wenn der Ehemann der Klägerin zu 1. seine Tochter selbst mit dem Auto nach Tschetschenien zu den Großeltern bringt. Auch hat der Ehemann die Tochter von dort offenbar ohne Weiteres wieder nach Wolgograd zu seiner eigenen Familie zurückgebracht, ohne dass hier die Hilfe des Staates erforderlich gewesen wäre. Davon abgesehen stellt sich die grundsätzliche Frage, warum die Klägerin zu 1. dieses Geschehen erst ganz zum Schluss der mündlichen Verhandlung und nicht bereits in ihrer ersten schriftlichen Äußerung und in der persönlichen Anhörung beim Bundesamt vorgebracht hat, was ihre Glaubhaftigkeit in Frage stellt.
Auch das von der Klägerin zu 1. erstmals in dieser Ausführlichkeit in der mündlichen Verhandlung geschilderte Geschehen um die Familie ihres Schwagers, des ältesten Bruders ihres Ehemannes, führt nicht dazu, dass der Schwiegervater als nichtstaatlicher Verfolger der Klägerin zu 1. anzusehen wäre. Der Fall des Schwagers ist nicht mit dem der Klägerin zu 1. vergleichbar. Denn dieser hat sich nach Angaben der Klägerin zu 1. offiziell von seiner Ehefrau scheiden lassen, wobei die Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung nicht zu sagen wusste, wie das Sorgerecht bzw. Aufenthaltsbestimmungsrecht bei der Scheidung geregelt worden ist. Auch ist ihre frühere Schwägerin mittlerweile mit einem anderen Mann verheiratet, während sich ihr Schwager zur Arbeit in Sibirien aufhält. Selbst wenn die Kinder des Schwagers also bei den Schwiegereltern in Tschetschenien verblieben sein mögen, mag dies entweder dem Willen der Eltern oder dem Kindeswohl entsprochen haben. Jedenfalls ist daraus nichts für den Fall der Klägerin zu 1. abzuleiten, weil diese gar nicht geschieden, sondern nach wie vor mit ihrem Ehemann sowohl nach muslimischem als auch nach russischem Recht verheiratet ist.
Auch ist nicht ersichtlich, dass der Schwiegervater rechtliche Schritte nach deren Ausreise gegen die Klägerin zu 1. eingeleitet hätte, um die Kinder zu erlangen. Soweit die Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, der Schwiegervater habe sich bei Verwandten nach ihrem Verbleib erkundigt, ist dies irrelevant, weil es keine Verfolgungshandlung darstellt.
Dass die Klägerin zu 1. dem Schwiegervater im Fall ihrer Rückkehr nach Tschetschenien zutraut, ihr die Kinder wegzunehmen, ist ebenfalls unbeachtlich. Denn die Klägerin zu 1. muss überhaupt nicht nach Tschetschenien zurückkehren, wo sie auch vor ihrer Ausreise bereits seit mehr als zehn Jahren nicht mehr gelebt hat. Die Abschiebung der Klägerin zu 1. würde realistischerweise per Flugzeug nach Moskau erfolgen und sie wäre nicht gezwungen, jemals nach Tschetschenien zurückzukehren. Auch ist nicht ersichtlich, wie der Schwiegervater als Privatperson von ihrer Rückkehr erfahren und ihren Aufenthaltsort in Erfahrung bringen könnte, wenn sie sich in der Russischen Föderation irgendwo außerhalb Tschetscheniens aufhält.
Ein Anspruch auf subsidiären Schutz besteht ebenfalls nicht. Gemäß § 4 AsylG ist ein Antragsteller subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt: 1. die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe, 2. Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung oder 3. eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Das Gericht ist auf der Grundlage des Akteninhalts sowie der vorliegenden Erkenntnisquellen nicht davon überzeugt, dass die Kläger ihr Herkunftsland wegen eines ihnen drohenden ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 AsylG verlassen hätten. Den von der Klägerin zu 1. in der Anhörung vor dem Bundesamt und im gerichtlichen Verfahren geschilderten Ereignissen vermag das Gericht einen den Klägern mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden ernsthaften Schaden ebenfalls nicht zu entnehmen.
Im Fall der Kläger kommen die Verhängung bzw. Vollstreckung der Todesstrafe (dazu näher vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation vom 21. Mai 2018, Seite 17) oder willkürliche Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ersichtlich nicht in Betracht. Die Kläger haben auch keine stichhaltigen Gründe dafür vorgebracht, dass ihnen bei einer Rückkehr in die Russische Föderation eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohen würde.
Offen bleiben kann an dieser Stelle, ob es den Tatbestand einer unmenschlichen Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG erfüllt, wenn Familienmitglieder bei einer Rückkehr nach Tschetschenien gegen ihren Willen voneinander getrennt werden (vgl. Verwaltungsgericht Hamburg, Urteil v. 4. Mai 2017 – 17 A 7520/16 – juris, Orientierungssatz Nr. 3 sowie Rn. 26 ff). Gegen eine derart allgemeine Aussage spricht, dass es im Fall einer Scheidung, wenn über das Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht für minderjährige Kinder eine Entscheidung zu treffen ist, durchaus zu einer Trennung der Kinder von dem einen Elternteil gegen dessen Willen kommen kann, wenn z.B. das Kindeswohl dies erfordert. Vergleichbares gilt für Inobhutnahmen nach dem Rechtsgedanken der Kind- und Jugendhilfe. Dies bedarf hier jedoch keiner Entscheidung. Denn zum einen ist die Klägerin zu 1. nicht geschieden, sondern der Ehemann ist nach wie vor mit der Klägerin zu 1. verheiratet und lediglich unbekannten Aufenthalts. Zum anderen ist die Angst der Kläger, dass der Schwiegervater der Klägerin zu 1. und Vater ihres Ehemannes ihr die Kinder wegnehmen und an seinen Wohnsitz in Tschetschenien verbringen werde und dass sie dagegen rechtlich und praktisch machtlos wären, nach den Erkenntnissen des Gerichts unbegründet.
In der Russischen Föderation entscheidet das Gericht bei Scheidungen, falls sich die Eltern nicht einigen können, bei welchem Elternteil die minderjährigen Kinder nach der Scheidung leben werden. Die Regulierung erfolgt orientiert am prioritären Schutz der Rechte und Interessen der minderjährigen Familienmitglieder. Grundsätzlich sind in der Russischen Föderation beide Elternteile im Hinblick auf das Sorgerecht für minderjährige Kinder gleichberechtigt. Im russischen Obsorgeverfahren (Sorgerechtsverfahren) werden die Prinzipen der Rechtsstaatlichkeit grundsätzlich eingehalten, mit Ausnahme des Nordkaukasus, wo nicht von einer Rechtsstaatlichkeit im Obsorgeverfahren auszugehen ist (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 21. Juli 2017, letzte Kurzinformation vom 7. Mai 2018, Seite 80-81).
In Tschetschenien ist es laut Vertretern verschiedener NGOs traditionell üblich, dass Kinder im Fall einer Scheidung beim Vater bzw. der Familie des Vaters bleiben. Die Realität wird von den NGO-Vertretern unterschiedlich beschrieben. Von manchen wird konstatiert, dass es für die Familie des Vaters eine Schande sei, wenn das Kind nicht bei ihm bzw. seiner Familie bleibe und es sich um Einzelfälle handele, wenn die Kinder nach der Scheidung bei der Mutter blieben. Von einer anderen NGO-Vertreterin wiederum heißt es, dass es in Tschetschenien maximal fünf Prozent der Männer kümmere, was Nachbarn und Verwandte dächten, vielmehr ständen materielle Fragen für die meisten im Vordergrund. Es gäbe durchaus Fälle, in denen die Kinder nach einer Scheidung bei der Mutter blieben, vorausgesetzt, dass diese das überhaupt wolle. Dabei sei zu beachten, dass geschiedene Frauen, die gemeinsam mit ihren Kindern lebten, in der Regel nicht wieder heiraten könnten, da traditionell die Frau zum neuen Mann ziehe und es hier Animositäten gegen die Kinder des Vorgängers geben könne. Der Rechtsweg werde von tschetschenischen Frauen als letzter Ausweg betrachtet und selten beschritten. Tschetschenische Gerichte würden ihre Entscheidungen in Obsorgefragen häufig mit den materiellen Verhältnissen der Eltern begründen, wobei eine tschetschenische Frau in der Regel leer ausgehe. Es hätten insgesamt vier Gerichtsentscheidungen aus den Jahren 2010-2011 tschetschenischer Gerichte zum Thema Scheidung und Aufenthaltsbestimmungsrecht der minderjährigen Kinder gefunden werden können. Bei diesen vier Entscheidungen sei bei fehlender Übereinkunft der Eltern in drei Fällen das Aufenthaltsbestimmungsrecht der Mutter zugesprochen worden und in einem Fall dem Vater. Die Entscheidungen seien von den Gerichten u.a. auch mit dem Gutachten der Jugendwohlfahrtsbehörde zu den materiellen Umständen und Lebensverhältnissen der Elternteile begründet worden. Bei Rücksprache der österreichischen Botschaft mit einer Vertreterin einer tschetschenischen NGO sei berichtet worden, dass die Aufteilung des Besitzes im Fall einer Scheidung von den gemeinsamen Ehejahren abhängig sei und davon, wo die Kinder nach der Scheidung leben würden. Dies sei einer der materiellen Gründe, warum Eltern ein Interesse daran haben würden, dass die Kinder nach der Scheidung bei ihnen lebten. Die österreichische Botschaft in Moskau teilte mit, dass im Falle des Todes des Ehemannes die Kinder in der Regel bei der Mutter blieben (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Gesamtaktualisierung am 21. Juli 2017, letzte Kurzinformation vom 7. Mai 2018, Seite 81-82).
Demnach kann nicht einmal für Tschetschenien sicher angenommen werden, dass Kinder im Fall einer Scheidung immer bei dem Vater und nicht bei der Mutter bleiben. Hier ist aber zu beachten, dass die Klägerin zu 1. sich von ihrem Ehemann nicht hat scheiden lassen. Sie gab in der mündlichen Verhandlung an, ein gutes Verhältnis zu ihm gehabt zu haben und dass er auch ein guter Vater sei. Demnach ist nicht zu erwarten, dass der Ehemann eine Scheidung betreiben werden wird. Das Schicksal des Ehemannes der Klägerin zu 1. ist vielmehr unklar. Nach der letzten Information, die die Klägerin zu 1. über ihn erhalten und in der mündlichen Verhandlung mitgeteilt hat, ist er wahrscheinlich noch am Leben und lediglich unbekannten Aufenthalts. Dies spricht dagegen, dass er als verschollen anzusehen ist. Eine amtliche Verschollenheitserklärung russischer bzw. tschetschenischer Behörden ist nicht erfolgt und ist auch angesichts der Umstände seines Verschwindens und der Tatsache, dass es Anzeichen dafür gibt, dass er am Leben ist, nicht wahrscheinlich. Demnach gelten beide sowohl nach muslimischem als auch nach russischem Recht weiterhin als verheiratet. Der Schwiegervater kann sich demnach gegenüber föderalen Gerichten und nicht einmal nach tschetschenischem Gewohnheitsrecht auf die Rechte eines Vaters bzw. auf traditionelle Rechte als Oberhaupt der väterlichen Familie berufen. Aus diesem Grund war dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag nicht nachzugehen.
Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass die Kinder, die Kläger zu 2.-6., nie in Tschetschenien, sondern immer in der Nähe von Wolgograd gelebt haben und auch die Klägerin zu 1. schon seit ihrer Heirat mehr als zehn Jahre außerhalb Tschetscheniens, nämlich bei Wolgograd, gelebt hat. Im Fall der Abschiebung würden die Kläger zunächst in Moskau ankommen und könnten dann an jedem Ort außerhalb Tschetscheniens ihren Wohnsitz nehmen. Es ist deshalb trotz der ethnischen Zugehörigkeit der Kläger zum Volk der Tschetschenen nicht ohne weiteres davon auszugehen, dass das tschetschenische Gewohnheitsrecht auf sie Anwendung fände bzw. dass ein familienrechtliches Verfahren ausgerechnet vor einem tschetschenischen Gericht stattfände. Auch ist davon auszugehen, dass der russische Staat ihnen Schutz gewähren wird, falls der Schwiegervater einen Versuch unternähme, die Kinder gegen den Willen der Klägerin zu 1. in seine Gewalt und nach Tschetschenien zu verbringen. Allein schon aufgrund der beträchtlichen Entfernung von mehr als 800 Kilometern zwischen Tschetschenien und z.B. dem bisherigen Wohnort der Kläger in Wolgograd ist auch nicht davon auszugehen, dass dem Schwiegervater eine solche zwangsweise bzw. gewaltsame „Kindesentführung“ zumal von insgesamt fünf bzw. sogar sechs Kindern praktisch ohne weiteres möglich wäre.
Jedenfalls sind die Kläger diesbezüglich auf internen Schutz innerhalb der Russischen Föderation zu verweisen, wo diese Erwägungen erst recht gelten. Eine interne Schultzalternative besteht, wenn der Ausländer in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. „interner Schutz“, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG). Diese Grundsätze sind entsprechend auch auf den Anspruch auf subsidiären Schutz übertragbar, der ebenso bei einer internen Schutzalternative im Land entfällt.
Politisch unverdächtigen und erwerbsfähigen Tschetschenen steht in den meisten Teilen der Russischen Föderation eine inländische Fluchtalternative bzw. interner Schutz im Sinne von § 60 Abs. 1 Sätze 1 und 4 AufenthG i.V.m. Art. 8 QRL zur Verfügung (Verwaltungsgericht Potsdam, Urteil v. 10. Mai 2017 – 6 K 4904/16.A – juris, Rn. 22 ff.; Verwaltungsgericht Cottbus, Urteil v. 16. Dezember 2016 – 1 K 156/13.A – juris, Rn. 22 ff.; Verwaltungsgericht Berlin, Urteil v. 24. März 2015 – 33 K 229.13 A – juris, Orientierungssatz; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil v. 15. Februar 2012 – A 3 S 1876/09 – juris, Leitsatz Nr. 1; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil v. 26. November 2010 – 3 A 1627/10.A – juris, Orientierungssatz Nr. 3; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Urteil v. 21. Juni 2010 – 11 B 08.30103 – juris, Rn. 27; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil v. 3. März 2009 – OVG 3 B 16.08 –, Seiten 11 ff. UA). Bei der Russischen Föderation handelt es sich um den größten Territorialstaat der Erde mit knapp 143 Millionen Einwohnern, der aus 83 Föderationssubjekten besteht. Es kann nicht davon ausgegangen werden kann, dass die tschetschenischen Behörden Unterstützer und Familienmitglieder einzelner Kämpfer auf dem gesamten Territorium der Russischen Föderation suchen und/oder finden würden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand 21. Juli 2017, Seite 96). Ein Eintreiben von Geldern für den „Wiederaufbau Tschetscheniens“ auf dem gesamten Gebiet der Russischen Föderation ist ebenfalls nicht vorstellbar. Ebenso wenig ist beachtlich wahrscheinlich, dass der Schwiegervater der Klägerin zu 1. diese und ihre Kinder in der gesamten Russischen Föderation ausfindig machen und ihr die Kinder gegen ihren Willen entziehen könnte.
Die Kläger können auch sicher und legal in den sicheren Landesteil reisen, werden dort aufgenommen und es kann von ihnen vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich dort niederlassen. Bei der Prüfung, ob ein Teil des Herkunftslandes die Voraussetzungen nach § 3d Abs. 1 AsylG erfüllt, sind die dortigen allgemeinen Gegebenheiten und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Richtlinie 2011/95/EU zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag zu berücksichtigen (Art. 3d Abs. 2 Satz 1 AsylG). Erforderlich ist, dass der Ausländer am Zufluchtsort unter persönlich zumutbaren Bemühungen jedenfalls sein wirtschaftliches Existenzminimum, sei es durch eigene Arbeit, sei es durch staatliche oder sonstige Hilfen, sichern kann und nicht der Obdachlosigkeit ausgesetzt ist. Dabei sind einem jungen, gesunden und arbeitsfähigen Kaukasier mit Hauptschulabschluss und grundlegenden Russischkenntnissen außer kriminellen Tätigkeiten alle Arbeiten zumutbar, auch solche, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen, etwa weil sie keinerlei besondere Fähigkeiten erfordern, und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise in der Landwirtschaft oder auf dem Bausektor, ausgeübt werden können (Bundesverwaltungsgericht, Beschluss v. 13. Juli 2017 – 1 VR 3/17 – juris, Rn. 119). Der Verweis auf eine entwürdigende oder eine entgeltliche Erwerbstätigkeit für eine kriminelle Organisation, die in der fortgesetzten Begehung von oder Teilnahme an Verbrechen besteht, ist dagegen nicht zumutbar (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 1. Februar 2007 – 1 C 24/06 – juris, Rn. 11).
Gemessen an diesen Grundsätzen ist es den Klägern zumutbar und kann von ihnen daher auch vernünftigerweise erwartet werden, dass sie ihren Aufenthalt in einem anderen Landesteil der Russischen Föderation nehmen, weil dort ihr soziales und wirtschaftliches Existenzminimum gesichert ist:
Tschetschenen steht wie allen russischen Staatsbürgern das in der Verfassung verankerte Recht der freien Wahl des Wohnsitzes und des Aufenthalts in der Russischen Föderation zu (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 22). Für eine legale Aufenthaltnahme bedarf es einer Registrierung, wozu der Inlandspass und ein Wohnraumnachweis vorgelegt werden müssen. Zwar wird in vereinzelten Städten – wie z.B. in Moskau oder St. Petersburg – der Zuzug von Personen aus den südlichen Republiken der Russischen Föderation durch Verwaltungsvorschriften erschwert bzw. verhindert. Dies beschränkt zwar die Möglichkeit zurückgeführter Tschetschenen, sich dort zu registrieren. Dennoch leben allein in Moskau ca. 200.000 Tschetschenen von ca. 1,5 Millionen Tschetschenen (Auswärtiges Amt, a.a.O., S. 15). Laut UNHCR gibt es in der gesamten Russischen Föderation tschetschenische Communities. Die größten befinden sich in Moskau, der Region Moskau und in St. Petersburg. In der Region Wolgograd leben ca. 20.000 Tschetschenen. Laut Memorial Wolgograd gibt es keine Beschwerden von Tschetschenen in der Region aufgrund von Rassismus oder Diskriminierung. Tschetschenen haben denselben Zugang zum Gesundheits- und Bildungssystem wie alle russischen Bürger. Beträchtliche tschetschenische Gemeinschaften gibt es auch in den Städten und Regionen im südlichen Russland, darunter in Wolgograd, Saratov, Samara und Astrachan (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Russische Föderation, Stand 17.11.2016, Seite 74-75).
Allein dies stellt ein Faktum dar, nach welchem es möglich sein muss, sich selbst bei Zuzugsbeschränkungen in Städten wie Moskau oder St. Petersburg niederzulassen. Stichhaltige Anhaltspunkte für eine generelle Verweigerung der Registrierung innerhalb der gesamten Russischen Föderation liegen zudem nicht vor. Zwar ergibt sich aus den vorliegenden Erkenntnismitteln, dass sich Tschetschenen wegen ihrer Volkszugehörigkeit in der Russischen Föderation Übergriffen und Diskriminierungen seitens der Behörden, aber auch durch gesellschaftliche Kräfte ausgesetzt sehen können. Gleichwohl kann aufgrund dieser Situation nur dann von fehlender Verfolgungssicherheit ausgegangen werden, wenn es sich bei den zu gewärtigenden Maßnahmen um Verfolgungshandlungen im Rechtssinne handelt und diese eine Dichte haben, die zur Annahme einer Gruppenverfolgung ausreicht. Das Vorliegen einer Verfolgungshandlung beurteilt sich nach § 3a AsylG. Wenngleich festzustellen ist, dass Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens in gesteigertem Maße Anfeindungen und Misstrauen begegnen, so ist damit die Schwelle für die Annahme einer Gruppenverfolgung nicht überschritten. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die Regelvermutung eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in asylrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr um nur vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 1. Februar 2007 – 1 C 24.06 – juris, Rn. 7). Objektive Anhaltspunkte, die eine derartige Behandlung ethnischer Tschetschenen in der Russischen Föderation als nicht nur ganz entfernte und damit durchaus reale und nicht nur theoretische Möglichkeit erscheinen lassen (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 8. September 1992 – 9 C 8/91 – juris, Rn. 14), sind indes nicht ersichtlich. Angesichts der eingangs genannten Vielzahl von in der Russischen Föderation sowohl als Binnenflüchtlinge als auch als Migranten lebenden Tschetschenen bieten die nicht mit näherer Quantifizierung verbundenen Angaben zu gegen sie gerichteten Maßnahmen keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme einer auch nur geringen Wahrscheinlichkeit einer eigenen Verfolgungsbetroffenheit.
Ohne Belang ist auch, ob die Kläger noch über einen gültigen Inlandspass verfügen. Die Verordnung der Regierung der Russischen Föderation Nr. 779 vom 20. Dezember 2006 erweitert die Möglichkeit zur Beantragung des Inlandspasses in räumlicher Hinsicht. Dieser kann nunmehr am Wohnort, Aufenthaltsort oder dem Ort der Antragstellung ausgestellt werden, sodass die Kläger nicht gezwungen sind, zur Beantragung eines neuen Inlandspasses nach Tschetschenien zu fahren oder nach Wolgograd zurückzukehren (zuletzt Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Russischen Föderation vom 4. April 2010, S. 33).
Die 37-jährige und erwerbsfähige Klägerin zu 1., die der russischen Sprache mächtig ist, hat in der Russischen Föderation die Schule mit der 11. Klasse abgeschlossen. Sie hat zwar keine abgeschlossene Berufsausbildung, verfügt jedoch über eine dreijährige Berufserfahrung als Kindergärtnerin bzw. Erzieherin und hat außerdem selbständig in der Landwirtschaft auf dem Bauernhof der Familie mitgearbeitet. Es ist für das Gericht kein Grund ersichtlich, warum die Klägerin derartige Tätigkeiten nicht wieder in der gesamten Russischen Föderation ausführen und dadurch den Lebensunterhalt für sich und ihre Kinder sichern könnte, zumal sie in der mündlichen Verhandlung ausdrücklich erklärt hat, sie sei zu jeglichen Berufstätigkeiten bereit, auch z.B. zur Arbeit als Reinigungskraft, sobald ihre kleinste Tochter ab Herbst in den Kindergarten gehe.
Dies gilt auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Klägerin zu 1. insgesamt sechs Kinder hat und diese eventuell allein erziehen muss, sofern ihr Ehemann nicht zu der Familie zurückkehrt und sie auch nicht finanziell unterstützt. Vier der sechs Kinder sind bereits im schulpflichtigen Alter, während das zweitjüngste Kind, der am 24. Mai 2014 geborene Kläger zu 6., im Kindergartenalter ist und die jüngste, 2016 geborene Tochter ab diesem Herbst den Kindergarten besuchen wird. Die Klägerin zu 1. kann demnach zumindest ab Herbst 2018 eine Teilzeittätigkeit ausführen. Die Klägerin zu 1. ist außerdem darauf zu verweisen, die Sozialleistungen und die Familienleistungen in Anspruch zu nehmen, die es in der Russischen Föderation besonders für kinderreiche Familien gibt.
Die materiellen Lebensumstände für die Mehrheit der tschetschenischen Bevölkerung haben sich seit dem Ende des Tschetschenienkriegs dank großer Zuschüsse aus dem russischen föderalen Budget deutlich verbessert. Problematisch sind allerdings weiterhin die Arbeitslosigkeit und die daraus resultierende Armut und Perspektivlosigkeit von Teilen der Bevölkerung. Im 1. Quartal 2016 lebten 15,7 Prozent der Bevölkerung mit einem Einkommen unterhalb des Existenzminimums, wobei vor allem die Situation der Rentner als problematisch angesehen wird. Die Arbeitslosenquote betrug im Juni 2016 5,9 Prozent (Auswärtiges Amt, a.a.O., Seite 14 und Seite 19). In der Russischen Föderation gibt es keine systematische Diskriminierung von Frauen. Die Gleichberechtigung ist in der Verfassung garantiert. In Tschetschenien verlautete aus NGO-Kreisen, dass sich die Situation von alleinstehenden Frauen bzw. Frauen mit Kindern bei ihrer Rückkehr nach und nach verbessert. Mütter können Mutterschaftskapital ab dem zweiten Kind (nicht bar auslösbare Zertifikate, umgerechnet rund 7.500 EUR), monatliches Kindergeld, Geburtsprämien und Elterngeld erhalten. Familien mit drei oder mehr Kindern erhalten verschiedene Begünstigungen im Rahmen der Familienhilfe, u.a. Rabatte für Betriebskosten in Höhe von maximal 30 Prozent, Kredite und steuerliche Vorzüge sowie die Möglichkeit, eine kostenlose Unterkunft zu beantragen, Kompensationszahlungen im Zusammenhang mit Erziehungskosten, sowie bei 3-4 Kindern Zahlungen von 600 RUB für jedes Kind unter 16 Jahren oder unter 18 Jahren bei in Bildungseinrichtungen eingeschriebenen Kindern. Auch besteht eine Arbeitslosenversicherung mit monatlichen Minimal- und Maximalzahlungen (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, a.a.O., Seite 62-68 und Seite 83-85).
Weiter ist auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Die Norm berücksichtigt nicht nur Gefahren, die seitens des Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen. Soweit diesbezüglich aber vorliegend einzig Art. 3 EMRK in Betracht kommt, scheidet angesichts der Verneinung der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG aus denselben tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen auch ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG aus, da der sachliche Schutzbereich identisch ist (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 – juris, Rn. 36; Verwaltungsgericht Cottbus, a.a.O., Rn. 30).
Schließlich ist auch kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG festzustellen.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufentG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Erforderlich ist, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers auf Grund zielstaatsbezogener Umstände in einer Weise verschlimmert, die zu einer erheblichen und konkreten Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung alsbald nach der Rückkehr des Ausländers droht (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 17. Oktober 2006 – 1 C 18/05 – juris, Rn. 15). Dies kann der Fall sein, wenn eine notwendige ärztliche Behandlung oder Medikation für die betreffende Krankheit in dem Herkunftsstaat wegen des geringeren Versorgungsstandards generell nicht verfügbar ist, sich aber auch daraus ergeben, dass der erkrankte Ausländer eine an sich im Zielstaat verfügbare medizinische Behandlung – etwa aus finanziellen Gründen – tatsächlich nicht erlangen kann (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 29. Oktober 2002 – 1 C 1/02 – juris, Leitsatz). Für die Bestimmung der Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d.h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Die Gefahr ist erheblich, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland eintreten wird (vgl. Oberverwaltungsgericht Niedersachsen, Urteil v. 8. November 2011 – 8 LB 108/10 – juris, Rn. 27). Es ist nicht erforderlich, dass die Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist, § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG.
Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 3 AufenthG, die nicht nur ihn persönlich, sondern zugleich die gesamte Bevölkerung oder seine Bevölkerungsgruppe allgemein treffen, wird der Abschiebungsschutz grundsätzlich nur durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt. Beim Fehlen einer solchen Regelung kommt die Feststellung eines Abschiebungsverbots nur bei Vorliegen eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung zur Vermeidung einer verfassungswidrigen Schutzlücke (Art. 1, Art. 2 Abs. 2 GG) in Betracht, d.h. nur zur Vermeidung einer extremen konkreten Gefahrenlage in dem Sinne, dass dem Ausländer sehenden Auges der sichere Tod droht oder er schwerste Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten hätte. Nur dann gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren (Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil v. 15. Februar 2012 – A 3 S 1876/09 – juris, Rn. 77-78).
Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaates gewährleistet ist, § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG. Krankheitsbedingte Gefahren, die sich allein als Folge des Abschiebungsvorgangs bzw. wegen des Verlassens des Bundesgebietes, nicht aber wegen der spezifischen Verhältnisse im Zielstaat der Abschiebung ergeben können, begründen hingegen kein Abschiebungshindernis i.S.d. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG und sind deshalb nicht vom Bundesamt im Asylverfahren, sondern als inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse von der zuständigen Ausländerbehörde zu prüfen (vgl. Verwaltungsgericht Magdeburg, a.a.O., juris Rn. 33).
Nach § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Der Ausländer muss eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigt, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen (§ 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG). Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten (§ 60a Abs. 2c Satz 3 AufenthG).
Die Regelung in § 60a Abs. 2c und 2d AufenthG umfasst nach ihrem Wortlaut, ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Sinn und Zweck auch die Feststellung zielstaatsbezogener Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 7 AufenthG (Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss v. 28. September 2017 – 2 L 85/17 – juris, Leitsatz und Rn. 13).
Für eine solche erhebliche und konkrete Gefahr für Leib oder Leben bietet das Vorbringen der Kläger keine Anhaltspunkte. Das Attest des Dr. med. R..., Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie, vom 27. Dezember 2017 für die Klägerin zu 2. genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung. Denn Dr. R... hat offensichtlich bei der Klägerin zu 2. keine eigene Anamnese erhoben, sondern bezüglich des traumatisierenden Ereignisses lediglich die Angaben der Klägerin zu 1. übernommen, ohne diese auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu prüfen. Auch fehlt es an näheren Angaben über die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Äußerst bedenklich erscheint die Angabe, die Klägerin zu 2. befände sich seit ca. einem Jahr in B.... Denn nach Aktenlage lebt die Klägerin zu 2. in F... Angesichts der übrigen äußerst pauschalen und oberflächlichen Ausführungen in dem Attest ist hier schon grundsätzlich zu bezweifeln, dass sich der Aussteller überhaupt medizinisch vertieft mit dem Fall der Klägerin zu 2. auseinandergesetzt hat. Schließlich empfahl Dr. Rigas in dem Attest die Fortsetzung der Therapie „für das nächste halbe Jahr“, das mittlerweile verstrichen ist. Soweit die Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, die Klägerin zu 2. habe gedroht, sich im Fall der Abschiebung das Leben nehmen zu wollen, ist dies in dieser pauschalen Form unbeachtlich. Das ärztliche Attest enthält keinerlei Hinweise auf Suizidalität. Auch fehlt es in dem Attest an jeglichen Angaben dazu, dass der neunmonatige Aufenthalt der Klägerin zu 2. bei ihren Großeltern in Tschetschenien traumatische Folgen gehabt haben könnte, wie es die Klägerin zu 1. jedoch in der mündlichen Verhandlung behauptet hat. Vielmehr wird im Attest als traumatisches Ereignis ein Angriff von Unbekannten auf ihren Vater genannt, ohne dass dies näher erläutert würde. Weitere Atteste für die Klägerin zu 2. wurden nicht eingereicht. Für die übrigen Kläger liegen überhaupt keine ärztlichen Atteste gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2, 60a Abs. 2c Satz 2 AufenthG vor.
Die Abschiebungsandrohung findet ihre Rechtsgrundlage in § 34 AsylG, § 59 AufenthG. Die Ausreisefrist von 30 Tagen ergibt sich aus § 38 Abs. 1 AsylG.
Gegen die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes nach § 11 Abs. 1 AufenthG wurde weder seitens der Kläger vorgetragen noch sind für das Gericht nach eigener Prüfung Gründe dafür ersichtlich, dass die Befristung auf 30 Monate ermessensfehlerhaft sein könnte.
Die Kostenentscheidung einschließlich der Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 Abs. 2 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.