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Beitragszuschlag; soziale Pflegeversicherung; Kinderlosigkeit aus medizinischen Gründen


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 31. Senat Entscheidungsdatum 22.09.2011
Aktenzeichen L 31 R 925/10 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 55 Abs 3 S 1 SGB 11

Leitsatz

Die Erhebung eines Beitragszuschlages für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung begegnet auch dann keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken, wenn die Kinderlosigkeit auf medizinischen Gründen beruht. Dies gilt u. a. deshalb, weil nicht nur leibliche Kinder, sondern auch Stief-, Pflege- und Adoptionskinder die Elterneigenschaft begründen.

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juli 2010 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich im Zugunstenverfahren gegen die Erhebung eines Beitragszuschlages für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung gemäß § 55 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Elftes Buch (SGB XI). Sie rügt die Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung.

Die Klägerin wurde 1943 geboren. Entsprechend der ärztlichen Bescheinigung der Frau Dr. H vom 08. September 1945 litt die Klägerin an einer Lähmung beider Beine nach Hirnhautblutung im Anschluss an einen Keuchhusten. 1947 wurde ein paralytischer Klumpfuß orthopädisch behandelt (Bescheinigung der Dr. W vom 09. Oktober 2005). Nach dem Attest der Fachärztin für Allgemeinmedizin Dr. Svom 18. April 2006 leidet die Klägerin an einem Zustand nach Poliomyelitis mit Spätschäden wie inkompletter Parese beider Beine sowie Blasen- und Darmstörung.

Am 18. Dezember 1969 ehelichte die Klägerin Herrn D K. Trotz Kinderwunsch blieb die Ehe kinderlos. Die erste Vorstellung in einer gynäkologischen Praxis erfolgte im Juli 1976 nach 7 Ehejahren. Der damalige Tastbefund und der Blutungszyklus wurden damals als unauffällig beschrieben. Von September 1977 bis Februar 1978 erfolgte eine Hormonbehandlung (Chlormadinontherapie in allen Zyklen). Eine Schwangerschaft trat jedoch nicht ein. Im Februar 1978 wurde ein Uterus myomatosus beschrieben. Bei einer Operation im August 1979 wegen eines Blasendivertikels wurde eine Lösung von Verwachsungen als Zustand nach Appendizitis an der rechten Adnexe dokumentiert (vgl. zum Krankheitsverlauf die Bescheinigung der Frauenärztin Dr. Wvom 09. Oktober 2005).

Mit Bescheid vom 18. August 2003 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab 01. August 2003 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen.

Mit Bescheid vom 02. März 2005 berechnete die Beklagte die Altersrente der Klägerin ab dem 01. April 2005 neu. Für die soziale Pflegeversicherung erhob sie einen zusätzlichen Beitragszuschlag in Höhe von 0,25 Prozent wegen der Kinderlosigkeit der Klägerin.

Der Bescheid wurde bestandskräftig.

Den Überprüfungsantrag vom 25. Juli 2005 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 25. August 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2005 ab. Zur Begründung führte sie aus, für Rentenbezugszeiten ab dem 01. April 2005 erhöhe sich für Rentnerinnen und Rentner nach Vollendung des 23. Lebensjahres der für die Beitragszahlung aus der Rente maßgebende Beitragssatz zur sozialen Pflegeversicherung um den Beitragszuschlag nach § 55 Abs. 3 SGB XI (Beitragszuschlag für Kinderlose). Von der Zahlung dieses Beitragszuschlages seien nur solche Rentnerinnen und Rentner befreit, die entweder vor dem 01. Januar 1940 geboren seien oder die gegenüber dem Rentenversicherungsträger das Vorliegen der Elterneigenschaft im Sinne des § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 3 Nrn. 2 und 3 Sozialgesetzbuch/Erstes Buch (SGB I) nachgewiesen hätten. Die Einführung des Beitragszuschlages für Kinderlose in der Pflegeversicherung ergebe sich aus dem Gesetz zur Berücksichtigung von Kindererziehungszeiten im Beitragsrecht der sozialen Pflegeversicherung vom 15. Dezember 2004 (BGBl I, S. 3448).

Die hiergegen zum Sozialgericht Berlin erhobene Klage wurde mit Urteil vom 15. Juli 2010 abgewiesen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt, den Beitragszuschlag für Kinderlose hätten grundsätzlich die Versicherten, vorliegend die Klägerin, zu tragen (§§ 58 Abs. 1 Satz 3, 59 Abs. 5 SGB XI). Die Klägerin mache auch nicht geltend, dass die Beklagte die Regelung des § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI im Bescheid vom 02. März 2005, um dessen Überprüfung es ginge, unrichtig angewandt habe. Die Voraussetzungen für die Vorlage des Rechtsstreits an das Bundesverfassungsgericht seien zur Überzeugung der Kammer nicht gegeben. Die Kammer halte § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI für nicht verfassungswidrig. Anlass für die vom Bundesgesetzgeber getroffene Neuregelung sei das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 03. April 2001 (1 BvR 1629/94) gewesen. Darin habe das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass es mit Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) nicht zu vereinbaren sei, dass (wie nach der bisherigen Rechtslage) Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung, die Kinder betreuten und erzögen und damit neben dem Geldbeitrag einen generativen Beitrag zur Funktionsfähigkeit eines umlagefinanzierten Sozialversicherungssystems leisteten, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag wie die Mitglieder ohne Kinder belastet würden. Nach dem Urteil sei es dem Gesetzgeber überlassen, wie er die Betreuungs- und Erziehungsleistung bei der Beitragsbemessung von beitragspflichtigen Versicherten mit Kindern berücksichtige. Dabei habe das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber ausdrücklich einen großen Spielraum bei der Ausgestaltung des Beitragsrechts in der sozialen Pflegeversicherung zugestanden. Das Grundgesetz verpflichte ihn lediglich dazu, beitragspflichtige Versicherte mit einem oder mehreren Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern der sozialen Pflegeversicherung bei der Bemessung der Beiträge relativ zu entlasten. Im Hinblick auf die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts an den Gesetzgeber habe die Kammer keinen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG erkennen können. Dem Gesetzgeber sei durch Art. 3 Abs. 1 GG nicht jede Differenzierung verwehrt. Denn der allgemeine Gleichheitssatz gebiete lediglich, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Der Gleichheitssatz sei erst dann verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten oder Normbetroffenen im Vergleich zu einer anderen Gruppe anders behandelt worden sei, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und von solchem Gewicht bestünden, die die unterschiedliche Behandlung rechtfertigen könnten. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei der Gesetzgeber durch das Gleichheitsgebot nicht gehindert, sich gerade in Massenverfahren anstelle eines ausschließlich individuellen Wirklichkeitsmaßstabes aus Gründen der Verfahrensvereinfachung generalisierender, pauschalisierender und typisierender Regelungen zu bedienen. Dies bedeute, dass in Fällen, in denen ein „sachlich einleuchtender“ Grund zu bejahen sei, trotz einer Ungleichbehandlung von an sich gleichen Personengruppen nicht gegen den Gleichheitssatz verstoßen werde. Dabei sei zu berücksichtigen, dass gerade bei Massenverfahren wie etwa in der Sozialversicherung ein ausreichender Differenzierungsgrund auch in der Typisierung und Generalisierung von Sachverhalten liegen könne. Im Übrigen habe das Bundesverfassungsgericht in seinem Nichtannahmebeschluss vom 02. September 2009 (1 BvR 1997/08) nochmals ausdrücklich auf den von ihm in der Entscheidung vom 03. April 2001 „betonten großen Spielraum bei der Ausgestaltung des Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG entsprechenden Beitragsrechts in der sozialen Pflegeversicherung“ hingewiesen. Somit könne der von der Klägerin vorgebrachte Einwand, sie sei behinderungsbedingt kinderlos, eine andere verfassungsrechtliche Beurteilung nicht rechfertigen. Denn auf die Gründe der Kinderlosigkeit stelle das Gesetz ganz bewusst nicht ab. In der Begründung des Gesetzentwurfs (BT-Drucksache 15/3671 S. 5) heiße es, dass die Gründe, warum jemand keine Kinder habe, für die Zuzahlungspflicht keine Rolle spielten. Eine Motivforschung, warum jemand keine Kinder haben könne, solle es nicht geben, es ginge auch nicht darum, Kinderlose zu bestrafen. Dem Bundesverfassungsgericht und – ihm folgend – dem Gesetzgeber sei es darauf angekommen, im Sinne der Gleichbehandlung aller Versicherten den Beitrag zu würdigen, den Eltern im Vergleich zu Kinderlosen aufbringen, indem sie Kinder erziehen (generativer Beitrag). Ob hingegen die von den Eltern erzogenen Kinder tatsächlich später Beitragszahler würden, könne im Rahmen der Berücksichtigung des generativen Beitrags der Eltern nicht gewürdigt werden. Denn in dem Zeitpunkt, in dem der generative Beitrag zu berücksichtigen sei, stehe dies nicht fest. Diese Ungewissheit sei aber hinzunehmen, denn nach der allgemeinen Lebenserfahrung könne unterstellt werden, dass eine überwiegende Vielzahl der Kinder später auch zu Beitragszahlern in den gesetzlichen sozialen Sicherungssystemen würden. Im Übrigen habe das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 03. April 2001 gerade nicht auf die Gründe der Kinderlosigkeit abgestellt. Gerade auch angesichts der relativen Geringfügigkeit der Belastung könne eine verfassungsrechtlich gebotene Verpflichtung der Rentenversicherungsträger dazu, im Fall aller kinderlosen Versicherten und Rentner umfangreiche Ermittlungen zu den jeweiligen Gründen der Kinderlosigkeit anzustellen und ggf. darüber Beweis zu erheben, nicht begründet werden. Auch eine Verletzung des Grundrechts der Klägerin aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden dürfe, liege entgegen der Ansicht der Klägerin nicht vor. Denn die gesetzliche Regelung über den Beitragszuschlag knüpfe nicht an eine Behinderung an, sondern lediglich an den Umstand der bestehenden Kinderlosigkeit der jeweiligen Versicherten, also daran, dass ein Versicherter nicht die Elterneigenschaft erfülle. Eine behinderungsbezogene Ungleichbehandlung bestehe somit nicht. Zwar könne grundsätzlich auch das Anknüpfen an ein anderes Differenzierungskriterium das Benachteiligungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 verletzen (mittelbare Ungleichbehandlung). Diese Konstellation liege aber nur dann vor, wenn eine Regelung sich zwar nicht direkt auf die Behinderteneigenschaft selbst beziehe, es durch ihre Anwendung im Ergebnis im Wesentlichen aber zu einer Benachteiligung behinderter Menschen komme. Dies sei nur dann der Fall, wenn eine Regelung günstige oder nachteilige Rechtsfolgen von Merkmalen abhängig mache, die Angehörige einer geschützten Gruppe signifikant leichter oder schwerer erfüllen könnten, mit der Folge, dass sie von Vor- oder Nachteilen unverhältnismäßig häufiger betroffen seien. Dies sei bei der Anwendung des § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI offensichtlich nicht der Fall. Der gesetzliche Beitragszuschlag für Kinderlose bewirke auch keine mittelbare Diskriminierung der Klägerin wegen der von ihr geltend gemachten Behinderung. Denn Kinderlosigkeit in Deutschland beruhe auf vielfältigen Ursachen und sei nur in einem geringen Umfang behinderungsbedingt.

Gegen das ihr am 10. September 2010 zugegangene Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung vom 08. Oktober 2010. Sie macht geltend, sie fühle sich trotz Anknüpfung an die Kinderlosigkeit ohne Rücksicht auf deren Gründe als Behinderte diskriminiert. Sie habe unter ihrer Kinderlosigkeit stets gelitten. Der Gesetzgeber habe daher die Pflicht gehabt, krankheitsbedingte Kinderlose mit den Versicherten mit Kindern gleichzustellen und hätte insbesondere einen Ausnahmetatbestand für nachweislich medizinisch bedingte Kinderlosigkeit schaffen müssen. In ihrem Fall beruhe die ungewollte Kinderlosigkeit nachweislich auf einer Hirnhautentzündung im Kindesalter mit Spätschäden wie kompletter Parese beider Beine und Blasen- und Darmstörungen. Ferner sei bei ihr im Februar 1978, also im Alter von 34 Jahren ein Uterus myomatosus festgestellt worden. Dieser stelle eine klassische Ursache für Sterilität dar. In ihrem Falle käme erschwerend hinzu, dass sie im Alter von 36 Jahren an einem Unterbauchtumor in der Blasenregion mit Verwachsungen am rechten Eierstock operiert worden sei. Auch wenn das Bundesverfassungsgericht in einem Nichtannahmebeschluss vom 02. September 2009 (1 BvR 1997/08) darauf hingewiesen habe, dass der Tatbestand des § 55 Abs. 3 SGB XI nicht an die Behinderung, sondern an das Merkmal der Kinderlosigkeit ohne Rücksicht auf deren Gründe anknüpfe, unterfalle sie anders als der Kläger im damaligen Verfahren dem personellen Schutzbereich des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG. In einer neueren Entscheidung vom 05. Mai 2010 habe das Bundessozialgericht (BSG) Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG und das daraus folgende Diskriminierungsverbot auf den erhöhten Beitrag nach § 55 Abs. 3 SGB XI für anwendbar gehalten. Eine Diskriminierung sei nur deshalb verneint worden, weil nicht behinderte Geringverdiener einen insgesamt höheren Sozialversicherungsbeitrag zu leisten hätten als behinderte Geringverdiener. Eine derartige Kompensation bestehe im vorliegenden Fall nicht, so dass eine Verletzung des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG gegeben sei.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juli 2010 und den Bescheid der Beklagten vom 25. August 2005 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 16. November 2005 aufzuheben und den Bescheid vom 02. März 2005 insoweit aufzuheben, als ab dem 01. April 2005 ein Beitragszuschlag für Kinderlose in der Pflegeversicherung festgesetzt worden sei.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie macht geltend, dass nicht einmal feststehe, dass die Klägerin aus medizinischen Gründen kein Kind habe bekommen können. Dies ergebe sich aus der Stellungnahme ihres beratungsärztlichen Dienstes. Dieser habe ausgeführt, aus den vorliegenden medizinischen Unterlagen lasse sich insgesamt ersehen, dass bei der Versicherten nach der Eheschließung Ende der 60er Jahre bis Ende der 70er Jahre ein Kinderwunsch bestanden habe. Aus dem Umstand, dass eine hormonelle Therapie versucht worden sei, lasse sich schließen, dass die Versicherte durch die Folgen der Gehirnblutung sowie der Teillähmung der Beine nicht am Geschlechtsverkehr gehindert gewesen sei. In diesem Zusammenhang sei darauf hinzuweisen, dass durchaus auch Frauen, die wegen einer kompletten Lähmung der Beine im Rollstuhl säßen, in der Lage seien, schwanger zu werden. Insofern könne aus den noch vorhandenen medizinischen Unterlagen nicht zwingend darauf geschlossen werden, dass die Kinderlosigkeit der Versicherten ausschließlich medizinische Ursachen gehabt habe. Durch die geltende Regelung sei weder Art. 3 Abs. 1 noch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt. Zur Vermeidung von Wiederholungen könne auf das BSG-Urteil vom 27. Februar 2008 (B 12 P 2/07 R) und auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 03. April 2001 (1 BvR 1629/94) und 02. September 2009 (1 BvR 1997/08) Bezug genommen werden. Auch im Urteil vom 05. Mai 2010 (B 12 KR 14/09 R) habe das BSG die Verfassungsmäßigkeit des Beitragszuschlages für Kinderlose bestätigt.

Mit Schreiben vom 24. November und 30. November 2010 haben sich die Beteiligten mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Wegen der weiteren Einzelheiten der Sachdarstellung und der Rechtsausführungen wird auf den Inhalt der Verwaltungsakten der Beklagten und auf die Gerichtsakten Bezug genommen. Diese haben bei der Entscheidung des Gerichts vorgelegen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig. Ein Anspruch auf die teilweise Aufhebung des Bescheides vom 2. März 2005 nach § 44 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X) besteht nicht. Es nicht zu beanstanden, dass ein Beitragszuschlag für Kinderlose in der sozialen Pflegeversicherung nach § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI festgesetzt wurde.

Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist der Senat zunächst auf die ausführlichen Entscheidungsgründe des Sozialgerichts Berlin (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Auch der Senat ist der Auffassung, dass eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 GG nicht in Betracht kommt, da die vorliegend angegriffene Regelung des § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI verfassungsgemäß ist.

Der Senat hat sich nicht gedrängt gesehen aufzuklären, ob die Klägerin tatsächlich aus rein medizinischen Gründen kinderlos geblieben ist. Denn selbst wenn dies so sein sollte, hat der Senat keine Bedenken, dass die Erhebung eines Beitragszuschlages von Kinderlosen in der sozialen Pflegeversicherung verfassungsgemäß ist.

Im Urteil vom 27. Februar 2008 hat der 12. Senat des Bundessozialgerichts ausgeführt:

„Der Gesetzgeber hat mit diesen Regelungen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 03. April 2001 (1 BvR 1629/94, BVerfGE 103, 242 = SozR 3-3300 § 54 Nr. 2) umgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht hatte in dieser Entscheidung die beitragsrechtlichen Vorschriften der § 54 Abs. 1 und 2, § 55 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 sowie § 57 SGB XI für unvereinbar mit Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG erklärt, soweit Mitglieder der sozialen Pflegeversicherung mit Kindern mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag belastet werden wie Mitglieder ohne Kinder. Es hat zur Begründung ausgeführt, Art. 3 Abs. 1 i. V. m. Art. 6 Abs. 1 GG sei dadurch verletzt, dass die Betreuung und Erziehung von Kindern als konstitutive Leistung bei der Bemessung von Beiträgen beitragspflichtiger Versicherter keine Berücksichtigung finde. Dadurch werde die Gruppe der Versicherten mit Kindern gegenüber kinderlosen Mitgliedern der sozialen Pflegeversicherung, die aus dieser Betreuungs- und Erziehungsleistung im Falle ihrer Pflegebedürftigkeit Nutzen ziehen würden, in verfassungswidriger Weise benachteiligt. Da auf die Wertschöpfung durch heranwachsende Generationen jede staatliche Gemeinschaft angewiesen sei und an der Betreuungs- und Erziehungsleistung von Familien ein Interesse der Allgemeinheit bestehe, seien Erziehungsleistungen zugunsten der Familie in einem bestimmten sozialen Leistungssystem zu berücksichtigen. Werde dieser generative Beitrag nicht mehr in der Regel von allen Versicherten erbracht, führe dies zu einer spezifischen Belastung kindererziehender Versicherter im Pflegeversicherungssystem, deren benachteiligende Wirkung auch innerhalb dieses Systems auszugleichen sei. Das Bundesverfassungsgericht hat damit verbindlich entschieden, dass der Vorteil kinderloser Versicherter in der sozialen Pflegeversicherung systemspezifisch beitragsrechtlich zu kompensieren ist. Für die vom Bundesverfassungsgericht geforderte beitragsrechtliche Kompensation des Vorteils kinderloser Versicherter in der sozialen Pflegeversicherung hat der Gesetzgeber allerdings nicht die Beiträge der Versicherten mit Kindern reduziert, sondern die Beiträge für Kinderlose um 0,25 Prozent erhöht.“

Diese Ausführungen belegen überdeutlich, dass es dem Verfassungsgericht und dem Gesetzgeber darum gegangen ist, eine Massenerscheinung typisierend und generalisierend zu regeln. Dabei kann an der generellen Richtigkeit der These nicht gezweifelt werden, dass Versicherte mit Kindern neben ihrem Beitragsaufkommen einen weiteren Beitrag zum Funktionieren des Sozialleistungssystems „soziale Pflegeversicherung“ leisten. Genauso richtig ist der Befund, dass dieser Beitrag der Geburt, Erziehung und Betreuung von Kindern sich nicht immer in jedem Einzelfall auch auswirkt. Ohne Zweifel werden nicht alle geborenen Kinder Beitragszahler in den gesetzlichen Sozialversicherungssystemen. Ebenso erbringt derjenige, der mehrere Kinder erzieht, einen höheren generativen Beitrag als derjenige, der nur ein Kind erzieht. Auf der anderen Seite profitiert auch nicht jeder Versicherte von den geleisteten Beiträgen in die soziale Pflegeversicherung, sei vom generativen oder vom finanziellen Beitrag. Denn längst nicht alle Versicherten werden tatsächlich pflegebedürftig. Die Klägerin verkennt, dass diese Fragen der Einzelfallgerechtigkeit bei der generalisierenden Regelung einer typischen Massenerscheinung nicht von rechtlich ausschlaggebender Bedeutung sind. Darauf hat bereits das Sozialgericht Berlin ausführlich hingewiesen.

Entgegen der Auffassung der Klägerin ist nicht ersichtlich, aus welchem verfassungsrechtlichen Grund der Gesetzgeber verpflichtet gewesen sein sollte, diejenigen Kinderlosen vom Beitragszuschlag auszunehmen, die ungewollt oder aus medizinischen Gründen kinderlos geblieben sind.

Der Senat sieht Veranlassung darauf hinzuweisen, dass der Grund der Kinderlosigkeit vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG gerade kein zwingendes Differenzierungskriterium ist. Denn es kann nicht bestritten werden, dass der ungewollt Kinderlose ebenso wenig einen generativen Beitrag zum Funktionieren der sozialen Pflegeversicherung leistet wie derjenige, der freiwillig kinderlos geblieben ist. So hat das Bundessozialgericht im Urteil vom 27. Februar 2008 (B 12 P 2/07 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 16) ausgeführt:

„Sollte im Übrigen auch die unfreiwillige Kinderlosigkeit aus medizinischen Gründen zu einem niedrigeren Beitragssatz führen, wie vom Kläger gefordert, wäre nicht zu erkennen, weshalb nicht auch aus anderen Gründen kinderlose Versicherte, z. B. Versicherte ohne Partner, von der Beitragsbelastung ausgenommen werden müssten.“

Dem schließt sich der erkennende Senat ausdrücklich an. So ist kein Grund ersichtlich, warum der aus medizinischen Gründen unfreiwillig Kinderlose anders behandelt werden sollte als der unfreiwillig Kinderlose, dessen Kinderlosigkeit allein darauf beruht, dass er keinen geeigneten Partner für die Zeugung eines Kindes gefunden hat. Es erscheint dem Senat schlichtweg unmöglich, auch vor dem Hintergrund der aufgezeigten höchstpersönlichen Entscheidung der Versicherten zu einem Partner oder einer Partnerin, eine Reihenfolge von mehr oder weniger anerkennenswerten Gründen der Kinderlosigkeit zu erstellen. Deshalb hat der Gesetzgeber ganz bewusst und auch aus der Sicht des Senats völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass eine Motivforschung zur Kinderlosigkeit gerade nicht erfolgen solle. Außerdem ist auch die unfreiwillige Kinderlosigkeit aus medizinischen Gründen kein so eindeutig greifbares Kriterium wie die Klägerin meint. Denn medizinisch ließe sich durchaus die Frage stellen, wie vieler fehlgeschlagener Hormonbehandlungen oder künstlicher Befruchtungsversuche es denn bedürfe, bevor die medizinische Kinderlosigkeit festgestellt werden könnte.

Weiter sieht der Senat Veranlassung darauf hinzuweisen, dass nicht nur leibliche Kinder bei der Prüfung der Frage der Kinderlosigkeit berücksichtigt werden, sondern auch Stief-, Pflege- und Adoptivkinder. Schon deshalb erscheint es aus dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit heraus nicht zwingend, die „medizinische Kinderlosigkeit“ gegenüber Kinderlosigkeit aus anderen Gründen zu privilegieren. Denn auch derjenige Versicherte, der aus medizinischen Gründen nicht in der Lage ist, ein Kind zu zeugen, ist nicht gehindert, ein solches zu adoptieren oder sich um Pflegekinder zu kümmern.

Auch ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG liegt nicht vor. Zwar besteht Anlass, das Diskriminierungsverbot Behinderter im vorliegenden Zusammenhang zu prüfen. Dies hat das Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 05. Mai 2010 (B 12 KR 14/09 R) auch getan. Aber auch in dieser Entscheidung, ergangen zur Pflicht eines kinderlosen behinderten Beschäftigten in einer Behindertenwerkstatt zur Tragung des Beitragszuschlags für Kinderlose und deren Verfassungsmäßigkeit, hat das BSG keinen Anlass gesehen, es grundsätzlich für verfassungswidrig zu halten, dass auch Behinderte zu dem Zuschlag nach § 55 Abs. 3 Satz 1 SGB XI herangezogen werden können. Wie in diesem Zusammenhang bereits das Sozialgericht zu Recht ausgeführt hat, ist nicht ersichtlich, dass Behinderte signifikant häufiger kinderlos bleiben als übrige Versicherte. Vorliegend ist darauf hinzuweisen, dass auch die der Schwerbehinderung zugrunde liegenden Erkrankungen der Klägerin in ihrer Kindheit vorliegend nicht dazu geführt haben, dass sie kinderlos geblieben ist. Denn trotz der Lähmung der Beine in der Kindheit aufgrund einer Hirnblutung nach Keuchhusten war sie in der Lage, zu heiraten, den Geschlechtsverkehr zur Zeugung eines Kindes auszuüben und wurde auch durch den in den 70er Jahren behandelnden Gynäkologen für geeignet gehalten, eine Hormonbehandlung zur Beseitigung der Kinderlosigkeit durchzuführen.

Nach alledem war die Berufung zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 und 2 SGG liegen nicht vor.