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Wirtschaftlichkeitsprüfung - Richtgrößenprüfung - Praxisbesonderheiten - Beurteilungsspielraum - sozialgerichtliche Kontrolldichte - Anhörung


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 7. Senat Entscheidungsdatum 06.06.2012
Aktenzeichen L 7 KA 99/09 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 106 SGB 5, § 24 SGB 10

Leitsatz

1. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung (hier: Richtgrößenprüfung) zwingt nur hinreichend substantiiertes Vorbringen des Vertragsarztes zu Praxisbesonderheiten die Prüfeinrichtungen zur Prüfung bzw. Berücksichtigung dieses Vorbringens.

2. Entscheidet der Beschwerdeausschuss indes, dass bestimmte vom Vertragsarzt dargelegte Umstände überhaupt nicht oder nur teilweise als Praxisbesonderheit zu berücksichtigen seien, kann er im Klageverfahren nicht (mehr) damit gehört werden, das Vorbringen des Vertragsarztes sei unsubstantiiert gewesen.

3. Die Entscheidung des Beschwerdeausschusses muss die von ihm angewandten Beurteilungsmaßstäbe erkennen lassen. Für den Fall, dass er bestimmte vom Vertragsarzt dargelegte Umstände überhaupt nicht oder nur teilweise als Praxisbesonderheit berücksichtigt, muss seiner Entscheidung daher nachvollziehbar zu entnehmen sein, warum die geltend gemachten Praxisbesonderheiten insgesamt oder teilweise nicht anerkannt wurden.

4. Im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung hat die dem Beschwerdeausschuss obliegende Anhörungspflicht gem. § 24 SGB X zur Folge, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung von Praxisbesonderheiten dem Vertragsarzt vor Erlass eines Regressbescheides bekannt sein müssen.

Tenor

Auf die Berufung des Klägers werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. Februar 2009 und der Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen einen Regress i.H.v. 36.713,01 Euro im Rahmen der Richtgrößenprüfung für das Jahr 2000.

Der Kläger nimmt als Arzt für Innere Medizin an der vertragsärztlichen Versorgung (hausärztlicher Versorgungsbereich) in B teil. Im Rahmen der Richtgrößenprüfung für das Jahr 1998 setzte der Beklagte ihm gegenüber einen Regress i.H.v. 117.111,34 DM fest, für das Jahr 1999 hob der Beklagte den Regressbescheid des Prüfungsausschusses auf.

Mit Schreiben vom 05. November 2002 wies die Geschäftsstelle der Prüfgremien den Kläger darauf hin, dass er bei der Verordnung von Arznei-, Verband- und Heilmitteln im Jahre 2000 die Richtgrößensumme um 57,32 % überschritten habe. Auf dem beigefügten Dokumentationsbogen könne er Praxisbesonderheiten geltend machen. In seiner Antwort hierauf verwies er auf seine Praxisbesonderheiten im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung der Jahre 1998 und 1999. Aufgrund seiner Qualifikationen lägen Praxisbesonderheiten im Bereich der Herz-Kreislauf-Erkrankungen, der Schmerztherapie sowie der Psychosomatik/-therapie vor. Für folgende jeweils näher aufgeschlüsselte Arzneimittelgruppen mache er Praxisbesonderheiten geltend:

Opioide

 11 262,00 DM

Opiate

 3 144,00 DM

AT 1-Rezeptorenblocker

 56 592,00 DM

CSE-Hemmer

50 071,00 DM

Heparinanaloga

 1 928,00 DM

Thrombozytenaggregationshemmer

 17 543,00 DM

Antiarrhytmica

 41 971,00 DM

Insuline

 11 595,00 DM

orale Kortikoide

 4 651,00 DM

topische (inhalative) Kortikoide

 18 928,00 DM

(Foradil, Oxis)

 5 340,00 DM

Protonenpumpenhemmer (PPI)

 32 092,00 DM

Gesamtsumme

 245 117,00 DM

Ferner erkläre er sich zusätzlich bereit, die Dokumentationsbögen nachzureichen.

Mit Bescheid vom 20. November 2003 setzte der Prüfungsausschuss gegenüber dem Kläger einen Regress i.H.v. 42.062,52 Euro (82.267,14 DM) fest und berücksichtigte hierbei folgende Verordnungskosten als Praxisbesonderheiten:

- Verordnungskosten für Insulintherapie (Insuline und Teststreifen) bei insulinpflichtigem Diabetes mellitus i.H.v. 18.653,56 DM

- Verordnungskosten für BtM-pflichtige Präparate zur Behandlung starker Schmerzzustände i.H.v. 3.692,28 DM

- Verordnungskosten für Thrombozytenaggregationshemmer (Plavix, Iscover) i.H.v. 21.282,90 DM

- Verordnungskosten für Antiarrhythmica i.H.v. 4.168,07 DM

- Verordnungskosten für Heparine i.H.v. 1.653,56 DM

- 50 % der Verordnungskosten für die Behandlung von Patienten mit chronischer Refluxerkrankung i.H.v. 16.046,10 DM

Der Kläger erhob Widerspruch und brachte vor, dass der Prüfungsausschuss seine erheblich über dem Durchschnitt liegenden Patientenzahlen bei koronaren Herzkrankheiten, arterieller Hypertonie und pulmonalen Krankheiten nicht berücksichtigt habe. Ferner seien kompensatorische Einsparungen sowie der Nachweis eines überdurchschnittlichen Generikaanteils unbeachtet geblieben. Im Übrigen habe der Prüfungsausschuss Verordnungskosten i.H.v. 184.602.- DM nicht als Praxisbesonderheiten berücksichtigt.

Mit Beschluss vom 27. Oktober 2005 reduzierte der Beklagte die festgesetzte Ersatzverpflichtung auf 36.713,01 Euro und wies im Übrigen den Widerspruch des Klägers zurück. Zur Begründung führte der Beklagte u.a. aus, dass der Prüfungsausschuss die beim Kläger vorhandenen Praxisbesonderheiten nicht bzw. nicht in vollem Umfang berücksichtigt habe. Er – der Beklagte – erkenne daher „folgende Verordnungskosten als Praxisbesonderheiten gemäß vereinbarter Indikationsgebiete an“:

- Verordnungskosten zur Insulin-Therapie bei insulinpflichtigem Diabetes mellitus und der im Rahmen der intensivierten Insulin-Therapie des Diabetes mellitus notwendigen Blutzuckerteststreifen gemäß I.a. Nr. 3 der Indikationsgebiete i.H.v. 18.653,56 DM

- Verordnungskosten für Betäubungsmittel zur Behandlung starker Schmerzzustände (BtM-Rezepte) gemäß I.a. Nr. 11 der Indikationsgebiete i.H.v. 3.837,67 DM

- Verordnungskosten für die basistherapeutische, immunsuppressive Behandlung von Erkrankungen des rheumatischen Formenkreises gemäß I.b. Nr. 12 der Indikationsgebiete i.H.v. 465,40 DM

- Verordnungskosten für Heparine und Verbandstoffe im Zusammenhang mit ambulanten Operationen und der Versorgung Unfallverletzter gemäß I.b. Nr. 16 der Indikationsgebiete i.H.v. 3.311,17 DM

Darüber hinaus wurden folgende Verordnungskosten als Praxisbesonderheiten anerkannt:

- 50 % der Verordnungskosten für die Ulcus- und Refluxtherapie i.H.v. 19.074,63 DM

- Verordnungskosten für die Thrombozytenaggregationshemmer i.H.v. 22.281,54 DM

- Verordnungskosten für die Antiarrhythmica Amiohexal und Cordarex i.H.v. 9.725,07 DM

Weitere anrechenbare Praxisbesonderheiten gemäß den vereinbarten Indikationsgebieten habe er – der Beklagte – nicht quantifizieren können. Die vom Kläger geltend gemachten kompensatorischen Einsparungen bei den Heilmittelverordnungen seien bereits in die Arznei- und Heilmittel beinhaltende Richtgröße eingeflossen. Die darüber hinaus geltend gemachte Behandlung besonders alter und im Hinblick auf die medikamentöse kardiale Therapie besonders kostenintensiver Patenten sei anhand der vorliegenden Unterlagen nicht ersichtlich und vom Kläger nicht nachgewiesen worden.

Mit Beschluss vom 31. Januar 2006 gab der Beklagte dem Antrag des Klägers auf Aussetzung der sofortigen Vollziehung seines Beschlusses vom 27. Oktober 2005 insoweit statt, als die Umsetzung der Ersatzverpflichtung zu gleichen Teilen auf die acht folgenden Quartale aufgeteilt werde.

Nachdem der Kläger im Klageverfahren sein bisheriges Vorbringen wiederholt und ergänzt sowie umfangreiches weiteres von ihm erstelltes Datenmaterial eingereicht hatte, hat das Sozialgericht mit Urteil vom 11. Februar 2009 die Klage abgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Es sei nicht zu beanstanden, dass der Beklagte keine weiteren Praxisbesonderheiten anerkannt habe, da sich diese aufgrund der vom Kläger eingereichten Unterlagen nicht erkennen ließen. Der Beklagte habe sich ausführlich mit dem ihm vorgelegten Material befasst, so dass nicht erkennbar sei, dass das mit Fachwissen besetzte Gremium seinen Beurteilungsspielraum nicht richtig ausgeschöpft bzw. gar nicht wahrgenommen habe.

Gegen dieses ihm am 29. Mai 2009 zugestellte Urteil richtet sich die Berufung des Klägers vom 3. Juni 2009, die er wie folgt begründet: Entgegen der Auffassung des Beklagten komme eine Anwendung der für das Jahr 2000 unstreitig zu spät vereinbaren Richtgrößen auch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Sinne einer „Günstigkeitsprüfung“ nicht in Betracht, da es an einer wirksamen Richtgrößenvereinbarung für das Jahr 1999 fehle. Die Richtgröße der hausärztlichen Internisten für die im Rentnerstatus Versicherten sei nicht im KV-Blatt, sondern nur im „Budget-Bulletin“ und damit nicht ordnungsgemäß bekannt gemacht worden. Wegen der hohen Bedeutung der Veröffentlichung einer Rechtsnorm für ihr In-Kraft-Treten könne es schlechterdings nicht gleichgültig sein, in welchem Veröffentlichungsorgan die Verkündung der Norm erfolge. Dem Normunterworfenen müsse es jederzeit möglich sein, das oder die insoweit in Betracht kommende Publikationsorgan(e) zu identifizieren und einzusehen. Andere Verlautbarungen der Beigeladenen zu 1) müsse er von vornherein nicht auf die eventuelle Verkündung von Rechtsnormen durchsuchen. Diesen Anforderungen genüge eine Bekanntmachung im „Budget-Bulletin“ nicht. Zwar habe die Beigeladene zu 1) den Text der Richtgrößenvereinbarung im KV-Blatt 10/99 bekannt gemacht, nicht jedoch die Richtgrößen. Insoweit verweise der Veröffentlichungstext auf den Abdruck der Richtgrößentabelle im KV-Blatt 07/99 sowie auf die Berichtigung im „Berliner Budget-Bulletin“, das dem KV-Blatt 08/99 beigegeben gewesen sei. Im KV-Blatt 07/99 sei die Arzneimittelrichtgröße für die hausärztlichen Internisten für die Versichertengruppen der Rentner mit „07,17 DM“ angegeben worden. Im „Berliner Budget-Bulletin“, welchem dem KV-Blatt 08/99 beigegeben gewesen sei, heiße es auf Seite 4, dass der in der Richtgrößentabelle angegebene Wert von „07,17 DM“ falsch sei, sondern tatsächlich 207,17 DM betrage. Da es sich bei dem KV-Blatt und dem „Berliner Budget-Bulletin um zwei selbständige, voneinander zu unterscheidende Druckwerke handele, sei eine Veröffentlichung in letzterem nicht ausreichend.

Fehlerhaft sei auch, dass eine Regressierung auf die sog. untere Interventionsgrenze (15 %) erfolgt sei. Richtig sei, dass die Regressierung auf die untere Interventionsgrenze der vertraglichen Regelung zur Richtgrößenprüfung 2000 (§ 7 Abs. 3 Prüfvereinbarung) entspreche. Diese Regelung könne jedoch wegen des vom Beklagten in Anspruch genommenen „Günstigkeitsprinzips“ keine Anwendung finden, da die Richtgrößenvereinbarung 1999 in § 4 eine obere Interventionsgrenze i.H.v. 25 % festlege.

Darüber hinaus habe sich der Beklagte mit den von ihm – dem Kläger – vorgetragenen Praxisbesonderheiten nur unzureichend auseinandergesetzt. Der Entscheidung des Beklagten sei nicht zu entnehmen, warum die geltend gemachte Verordnungskosten für AT 1-Rezeptorenblocker und CSE-Hemmer überhaupt nicht und die für Antiarrhythmica, Heparine und die Behandlung von Patienten mit chronischer Refluxerkrankung nur teilweise als Praxisbesonderheiten anerkannt worden seien. Der Beklagte habe auch nicht begründet, warum er die Verordnungskosten für die Ulcus- und Refluxtherapie nur zu 50 % anerkannt habe. Eine Praxisbesonderheit im Bereich der Versorgung von Patienten mit kardialen Problemen hätte der Beklagte im Übrigen bereits seinen – des Klägers – Abrechnungsdaten (erweiterte Anzahlstatistik) entnehmen können. Im Übrigen habe es bei dieser Patientengruppe im Jahre 2000 massive Hinweise auf eine Unterversorgung gegeben.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 11. Februar 2009 sowie den Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und trägt ergänzend vor: Die Verordnung von Arzneimitteln sei abhängig von der vom Arzt zu behandelnden Erkrankung der Versicherten. Hierzu habe der Kläger bereits mit dem das Prüfverfahren einleitenden Schreiben vom 05. November 2002 Dokumentationsbögen zur Geltendmachung von Praxisbesonderheiten erhalten, denen er habe entnehmen können und müssen, dass zu den – gleich in welcher Form – vorgebrachten Praxisbesonderheiten die Diagnosen der Versicherten zählten. Es sei im Verwaltungsverfahren aber nur eine Auflistung der Verordnungen und deren Kosten vorgelegt worden. Die Verordnungskosten für Sartane und ACE-Hemmer könnten nicht als Praxisbesonderheit berücksichtigt werden, weil aus der vom Kläger genannten Patientenzahl nicht auf einen kardiologischen Schwerpunkt der Praxis geschlossen werden könne. Von den im Datensatz ausgewiesenen Kosten für die Antiarrhythmica Amiohexal und Cordarex (einschließlich der kardiologischen Therapie) i.H.v. 51.696,08 DM hätten über die bislang als Praxisbesonderheiten anerkannten 13.893,14 DM hinaus keine weiteren Kosten berücksichtigt werden können, weil der Kläger nicht nachgewiesen habe, dass es sich im Vergleich zu seiner Fachgruppe um Kosten handele, die auf Besonderheiten seiner Praxis zurückzuführen seien. Die Arzneimittel Tilidin und Valoron habe der Kläger 24 seiner Patienten verschrieben, wodurch Gesamtverordnungskosten i.H.v. 4.510,24 DM (2.306,05 Euro) bzw. Verordnungskosten pro Patient i.H.v. 187,93 DM (96,09 Euro) entstanden seien. Die Namen der Versicherten seien den Prüfungsgremien jedoch nicht bekannt. Nach der GamSi-Auswertung 2006 (GamSi = ArzneimittelSchnellinformation für Vertragsärzte nach § 84 Abs. 4 SGB VI) liege Tilidin auf der Liste der verordnungsstärksten Arzneimittel beim Kläger auf Rang 20, in der Fachgruppe jedoch auf Rang 415. Daraus könne abgeleitet werden, dass der Kläger Tilidin im Vergleich zur Fachgruppe um ein Vielfaches mehr verordnet habe. Die vom Kläger geltend gemachte Behandlung besonders alter und – im Hinblick auf die medikamentöse kardiale Therapie – besonders kostenintensiver Patienten könne aus den vorliegenden Unterlagen nicht bestätigt werden. Weil er – der Beklagte – nunmehr bereit sei, 100 % der Verordnungskosten für Antiarrhythmica sowie für die Ulkus- und Refluxtherapie als Praxisbesonderheiten anzuerkennen, reduziere sich der Regressbetrag auf nunmehr 31.799,92 Euro.

Die Beigeladenen stellen keine Anträge.

Die Beigeladene zu 1) trägt vor, das Budget-Bulletin sei ein Teil des KV-Blattes und liege diesem nicht nur bei, sondern sei in das KV-Blatt fest eingebunden. Es enthalte lediglich optisch hervorgehoben besondere Information für die wirtschaftliche Verordnungsweise. Die Herausnahme des Budget-Bulletins könne nur dadurch erfolgen, dass die Heftung des KV-Blattes aufgelöst werde.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung war, verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung ist begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Denn der Bescheid des Beklagten vom 27. Oktober 2005 ist rechtswidrig, weil er an einem Beurteilungs- und an einem Anhörungsmangel leidet.

I)

Rechtsgrundlage für die Richtgrößenprüfung bezüglich des Jahres 2000 ist § 106 SGB V in der vom 1. Januar 2000 bis zum 30. Dezember 2001 geltenden Fassung (alte Fassung - aF). Danach wird die Wirtschaftlichkeit der Versorgung durch arztbezogene Prüfungen ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten oder bei Überschreitung der Richtgrößen nach § 84 SGB V (Auffälligkeitsprüfung) geprüft (§ 106 Abs. 2 Satz 1 SGB V aF). Nach § 106 Abs. 5a Sätze 1 und 2 i.V.m. Abs. 5 SGB V aF werden durch die Prüfgremien (Prüfungs- und Beschwerdeausschuss) Prüfungen bei Überschreitung der Richtgrößen durchgeführt, wenn die Richtgrößen um mehr als fünf vom Hundert überschritten werden und auf Grund der vorliegenden Daten nicht davon auszugehen ist, dass die Überschreitung durch Praxisbesonderheiten begründet ist. Bei einer Überschreitung der Richtgrößen um mehr als 15 vom Hundert hat der Vertragsarzt den sich aus der Überschreitung der Richtgrößen ergebenden Mehraufwand zu erstatten, soweit dieser nicht durch Praxisbesonderheiten begründet ist.

II)

Diesen Vorgaben wird der angefochtene Beschluss des Beklagten nur teilweise gerecht.

1) Es ist nicht zu beanstanden, dass der Beklagte der Berechnung der Richtgrößensumme im vorliegenden Fall die Richtgrößen zugrunde legte, die am 1. Juli 2002 zwischen den Beigeladenen für das Jahr 2000 vereinbart wurden. Zwar sind Richtgrößen wegen ihrer verhaltenssteuernden Zielsetzung grundsätzlich vor dem Jahr zu vereinbaren, für das sie Geltung beanspruchen, mit der Folge, dass erst im Laufe des Geltungsjahres vereinbarte Richtgrößen einer entsprechenden Prüfung für dieses Jahr nur anteilig zugrunde gelegt werden können. Eine jahresbezogene Richtgrößenprüfung darf aber u.a. dann ausschließlich auf verspätet vereinbarten Richtgrößen basieren, wenn diese im Vergleich zu den bislang geltenden Richtgrößen für den Vertragsarzt keinen Nachteil darstellen (BSG, Urteile vom 2. November 2005, Az.: B 6 KA 63/04 R, und vom 23. März 2011, Az.: B 6 KA 9/10 R, beide veröffentlicht in Juris). Im vorliegenden Fall ist bei der Fachgruppe der hausärztlichen Internisten die für das Jahr 2000 nachträglich vereinbarte Richtgröße für die Gruppe „M/F“ (Mitglieder und Familienversicherte) im Bereich Arzneimittel mit 103,34 DM günstiger als die für 1999 geltende entsprechende Richtgröße (97,51 DM). Die übrigen Richtgrößen bestanden unverändert fort.

Zutreffend hat der Beklagte die das Jahr 2000 betreffende Richtgrößensumme des Klägers auf der Grundlage von 1.375 Behandlungsfällen M/F, 1.246 Behandlungsfällen R (Rentner) sowie den weiteren Richtgrößen i.H.v. 207,17 DM (Arzneimittel R), 20,77 DM (Heilmittel R) und 7,21 DM (Heilmittel M/F) mit 436.019,49 DM berechnet.

2) Angesichts dessen kommt es nicht darauf an, ob die für das Jahr 1999 maßgebliche Richtgröße im Bereich Arzneimittel R ordnungsgemäß bekannt gemacht wurde.

Ebenso wie Vereinbarungen nach § 84 Abs 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) bedürfen die Richtgrößenvereinbarungen der Veröffentlichung. Das folgt aus ihrer Eigenschaft als Normsetzungsverträge und entspricht ihrer Funktion, das Verordnungsverhalten der Vertragsärzte zu steuern. Eine besondere Form der Bekanntmachung ist nicht gesetzlich vorgeschrieben. Aus dem Rechtsstaatsprinzip folgt, dass die Betroffenen sich verlässlich Kenntnis von Rechtsnormen verschaffen können müssen (BSG, Urteil vom 23. März 2011, Az.: B 6 KA 9/10 R, veröffentlicht in Juris). Ob insoweit Vorschriften der Satzung der Beigeladenen zu 1) Anwendung finden, kann offen bleiben. Denn die von der Beigeladenen zu 1) gewählte Publikationsform genügt den o.g. Anforderungen. Insbesondere durch die feste Verbindung des Budget-Bulletins mit dem KV-Blatt, dem satzungsgemäßen Veröffentlichungsorgan der Beigeladenen zu 1), ist gewährleistet, dass jeder Berliner Vertragsarzt auch vom Inhalt des Budget Bulletins Kenntnis nehmen kann. Hinzu kommt, dass dem Abdruck der Richtgrößenvereinbarung im KV-Blatt 10/99 ein durch Fettdruck hervorgehobener redaktioneller Hinweis angefügt ist, wonach die Tabelle der Richtgrößen für 1999 im KV-Blatt 7/99 und eine Berichtigung zur Tabelle im KV-Blatt 8/99 (Berliner Budget-Bulletin) zu finden sei.

3) Fehler des Beklagten bei der Bestimmung des Verordnungsvolumens des Klägers sind weder von der Klägerseite geltend gemacht worden noch anderweitig ersichtlich.

4) Allerdings hat der Beklagte bei der Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten von seinem Beurteilungsspielraum fehlerhaft Gebrauch gemacht.

a) Praxisbesonderheiten kommt gerade im Bereich der Richtgrößenprüfung besondere Bedeutung zu. Nur sie können nach dem Wortlaut von § 106 Abs. 5a Satz 2 SGB V aF verhindern, dass ein Vertragsarzt den (vollen) Mehraufwand in Form der Differenz zwischen seinem Verordnungsvolumen und der für ihn geltenden Richtgröße (bzw. in der Formulierung des angegriffenen Bescheides: „Richtgrößensumme“) zu erstatten hat. Der Begriff „Praxisbesonderheiten“, der im Bereich der Richtgrößenprüfung nicht anders zu verstehen ist als im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten (BSG, Urteil vom 23. März 2011, Az.: B 6 KA 9/10 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.), umreißt Besonderheiten der Patientenversorgung, die vom Durchschnitt der Arztgruppe signifikant abweichen und die sich aus einem spezifischen Zuschnitt der Patienten des geprüften Vertragsarztes ergeben, der im Regelfall in Wechselbeziehung zu einer besonderen Qualifikation des Arztes steht. Hinsichtlich der hierfür erforderlichen Wertungen als fachlich-medizinisch und wirtschaftlich vertretbar haben die Prüfungseinrichtungen einen Beurteilungsspielraum, sodass deren Einschätzungen von den Sozialgerichten nur in begrenztem Umfang überprüft und beanstandet werden können (BSG, Urteil vom 06.05.2009, Az.: B 6 KA 17/08 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.). Soweit eine wertende Entscheidung unter Heranziehung der besonderen Fachkunde der Mitglieder der Prüfungseinrichtungen erforderlich ist, beschränkt sich die Kontrolle der Sozialgerichte auf die Prüfung, ob das Verwaltungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden ist, ob der Verwaltungsentscheidung ein richtig und vollständig ermittelter Sachverhalt zugrunde liegt, ob die Prüfungseinrichtungen die Grenzen eingehalten haben, die sich bei Auslegung unbestimmter Rechtsbe-griffe ergeben, und ob die Prüfungseinrichtungen ihre Erwägungen so verdeutlicht und begründet haben, dass im Rahmen des Möglichen die zutreffende Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe nachvollziehbar ist (BSG, Urteil vom 27.06.2007, Az.: B 6 KA 27/06 R, veröffentlicht in Juris, m.w.N.).

b) Hieran gemessen ist der Bescheid vom 27. Oktober 2005 hinsichtlich nahezu sämtlicher Entscheidungen über die Ablehnung von Praxisbesonderheiten rechtswidrig.

aa) Dabei kann dahin stehen, ob das Vorbringen des Klägers im Verwaltungsverfahren hinreichend substantiiert gewesen ist. Allerdings ist nicht jedes Vorbringen geeignet, den Beklagten zu einer Entscheidung über das Vorliegen von Praxisbesonderheiten in der Sache anzuhalten. Nur hinreichend substantiiertes Vorbringen verlangt überhaupt eine Prüfung respektive Berücksichtigung durch die Prüfgremien.

Entscheidet der Beschwerdeausschuss indes wie im vorliegenden Fall auf der Grundlage des klägerischen Vorbringens, dass bestimmte vom Kläger dargelegte Umstände überhaupt nicht oder nur teilweise als Praxisbesonderheit zu berücksichtigen seien, kann er im Klageverfahren nicht (mehr) damit gehört werden, das Vorbringen des Klägers sei unsubstantiiert gewesen. Wenn der Beschwerdeausschuss in eine Sachprüfung einsteigt, muss diese ebenso wie deren Ergebnis den allgemeinen o.g. Anforderungen genügen (SG Hannover, Urteil vom 16. Dezember 2010, Az.: S 61 KA 37/08, unveröffentlicht, Berufung anhängig beim LSG Niedersachsen-Bremen unter dem Az.: L 3 KA 7/11). Dass eine solche Sachprüfung stattgefunden hat, ergibt sich aus der recht differenzierten Begründung des o.g. Bescheides, in welchem Umfang vom Kläger behauptete Praxisbesonderheiten anzuerkennen seien. Der am 27. Oktober 2005 tagende Beschwerdeausschuss hat das Vorbringen des Klägers demnach für hinreichend substantiiert gehalten.

bb) Soweit der Beklagte im angefochtenen Bescheid Praxisbesonderheiten entweder überhaupt nicht oder nur teilweise berücksichtigt hat, ist seine Entscheidung nicht nachvollziehbar. Der Beklagte hat seine Erwägungen nicht so verdeutlicht und begründet, dass die Anwendung der Beurteilungsmaßstäbe nachvollziehbar wäre. Er muss sich bereits vorhalten lassen, dass seine Beurteilungsmaßstäbe insgesamt unklar bleiben. Der Beklagte hätte detailliert darlegen müssen, aus welchen Gründen im Einzelnen die vom Kläger vorgetragenen Umstände überhaupt nicht oder nur teilweise als Praxisbesonderheiten anerkannt wurden.

Die Beurteilungsmaßstäbe offen zu legen, ist dabei nicht nur mit Blick auf die Nachvollziehbarkeit und Transparenz der einzelnen Entscheidung zu verlangen, sondern insbesondere auch wegen der Gewährleistung einer gleichmäßigen Rechtsanwendung. Wenn der Beschwerdeausschuss mit wechselnden Mitgliedern tagt und entscheidet, stellt erst das schriftliche Festhalten der Rahmenbedingungen eine prüfbare Gleichbehandlung sicher. Sollten in anderen Bescheiden des Beklagten die Rahmenbedingungen gleichfalls nicht transparent gemacht worden sein, wäre auf dieser Ebene kaum nachzuvollziehen, ob innerhalb der Fachgruppen des Klägers mit denselben Maßstäben gemessen wurde. Denn in einem Entscheidungssystem, das ersichtlich auf Vergleichen als Methode ausgerichtet ist, gibt es keine Einzelfallentscheidungen. Es gibt lediglich jeweils einzelne Ergebnisse, aber jedes dieser Ergebnisse muss sich widerspruchsfrei in das System einfügen lassen (SG Hannover a.a.O.).

cc) Im Einzelnen gilt folgendes:

(1) Von den vom Kläger als Praxisbesonderheiten bezeichneten Arzneimittelgruppen hat der Beklagte in den Bereichen Heparinanaloga/Heparine, Thrombozytenaggregationshemmer und Insuline/Insulintherapie höhere als die geltend gemachten Verordnungskosten anerkannt. Dies ist nicht zu beanstanden.

(2) Zu den vom Kläger geltend gemachten Arzneimittelgruppen AT 1-Rezeptorenblocker, CSE-Hemmer, orale Kortikoide und topische (inhalative) Kortikoide sowie zu den Arzneimitteln Foradil und Oxis (Sympathomimetika zur Behandlung von Asthma und COPD) finden sich im Bescheid vom 27. Oktober 2005 keinerlei hierauf konkret bezogene Ausführungen. Der pauschale Hinweis im Bescheid, weitere Praxisbesonderheiten hätten nicht quantifiziert werden können, lässt – auch für den Senat – völlig offen, welche Art von Daten der Kläger beizubringen hätte, um dem Beklagten diese „Quantifizierung“ zu ermöglichen. Dies ist umso mehr zu beanstanden, als der Kläger schon bis zum Erlass des angegriffenen Bescheids umfangreiche Unterlagen vorgelegt und darüber hinaus ausdrücklich angeboten hatte, die ausgefüllten Vordrucke (Anlage 3) nachzureichen.

(3) Soweit der Kläger die Verordnung von Opioiden, Opiaten, Antiarrhythmica und Protonenpumpenhemmern (PPI) als Praxisbesonderheiten geltend gemacht hat, ist dem angefochtenen Bescheid nicht zu entnehmen, aus welchen Gründen der Beklagte insoweit nur teilweise eine Praxisbesonderheit „quantifizieren“ konnte. Weder ist dem Bescheid zu entnehmen, warum nur die den Wirkstoff Amiodaron beinhaltenden Antiarrhythmica Amiohexal und Cordarex, nicht aber weitere Arzneimittel dieser Gruppe berücksichtigt wurden, noch ist erkennbar, warum für das Indikationsgebiet Ulkus- und Refluxtherapie pauschal nur 50 % der gesamten Verordnungskosten und warum nicht wenigstens alle vom Kläger geltend gemachten Kosten für PPI-Verordnungen anerkannt wurden. Entsprechendes gilt für die vom Beklagten berücksichtigten BtM-Verordnungen: hier bleibt unklar, welche dieser Kosten den vom Kläger getrennt geltend gemachten Gruppen der Opioide und der Opiate zuzuordnen sein soll.

(3) Erweist sich der Bescheid schon aufgrund dieser Beurteilungsfehler als rechtswidrig, muss der Senat nicht entscheiden, inwiefern das erstmalige Vorbringen des Beklagten im Berufungsverfahren zu den Bereichen ACE-Hemmern und Sartanen bzw. zu den Opioiden Tilidin und Valoron als (un)zulässiges Nachschieben von Gründen zu qualifizieren ist. Inhaltlich wäre aber zumindest das Vorbringen zu den o.g. Opioiden ebenfalls nicht geeignet, dem o.g. Prüfungsmaßstab zu genügen: denn der Beklagte hat nicht dargelegt, aus welchen Gründen er meint, eine Arzneimittelstatistik für die Fachgruppe des Klägers aus dem Jahre 2006 könne der Rangliste der verordnungsstärksten Arzneimittel des Klägers im Jahre 2000 gegenüber gestellt werden.

III)

Der Bescheid vom 27. Oktober 2005 ist außerdem in formeller Hinsicht rechtswidrig, weil der Beklagte das Anhörungsverfahren nach § 24 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X) nicht ordnungsgemäß durchgeführt hat. Er hat es dem Kläger nicht ermöglicht, adäquat zum Vorliegen von Praxisbesonderheiten vorzutragen.

Aus § 24 Absatz 1 SGB X folgt die Pflicht der Verwaltungsträger, vor Erlass eines Verwaltungsaktes dem Adressaten Gelegenheit zu geben, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Welche Tatsachen erheblich sind, ist aus Sicht der Behörde zu bestimmen. Hierzu zählen sämtliche Tatsachen, die zum Ergebnis der Verwaltungsentscheidung beigetragen haben (von Wulffen, SGB X, 7.A., § 24 Rd. 9 m.w.N.). Für den Bereich der Richtgrößenprüfung bedeutet dies u.a., dass die Annahmen der Prüfgremien zu den Voraussetzungen des materiellen Rechts, hier konkret zu den Voraussetzungen für die Anerkennung von Praxisbesonderheiten, dem betroffenen Vertragsarzt vor Erlass des Regressbescheides bekannt sein müssen. Erst ihre Kenntnis ermöglicht es ihm, seinerseits sachgerecht vortragen zu können.

An der Mitteilung der für die Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten aus Sicht des Beklagten maßgeblichen Tatsachen fehlt es im vorliegenden Fall schon deshalb, weil bis heute nicht erkennbar ist, nach welchen Kriterien im einzelnen der Beklagte bestimmte Umstände als Praxisbesonderheit anerkennt. Vielmehr führt die bisherige, nicht zu billigende Verwaltungspraxis dazu, dass die betroffenen Vertragsärzte im Verwaltungsverfahren teilweise sehr umfangreiche Anlagen vorlegen, um dann in der Entscheidung des Beschwerdeausschusses zu erfahren, dass ihr Vorbringen nicht geeignet gewesen sei, das Vorliegen einer Praxisbesonderheit zu bejahen.

IV)

Infolge der Aufhebung des o.g. Bescheides ist der Beklagten verpflichtet, über den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid des Prüfungsausschusses erneut zu entscheiden. Er hat hierbei die unter II) und III) dargelegte Rechtsauffassung des Senats zugrunde zu legen. Um seinen Pflichten zu genügen, wird er hierbei zumindest einmal den Kläger darauf hinweisen müssen, welche Daten im einzelnen von ihm noch beizubringen sind und anhand welcher Maßstäbe und Kriterien er die zwischen den Beigeladenen vereinbarten bzw. von ihm darüber hinaus entwickelten Praxisbesonderheiten prüft. Antwortet der Kläger hierauf innerhalb einer angemessenen Frist nicht oder nur offensichtlich unzureichend, wäre es dem Beklagten nicht verwehrt, die weitere Anerkennung von Praxisbesonderheiten unter Hinweis auf ungenügendes oder gänzlich fehlendes Vorbringen des Klägers abzulehnen.

V)

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Absatz 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 und 2 Verwaltungsgerichtsordnung.

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Absatz 2 SGG nicht vorliegen.