Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 11. Senat | Entscheidungsdatum | 15.10.2013 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | L 11 SB 207/13 B PKH | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 73a Abs 1 S 1 SGG, Abschn 2 Nr 1 StVOVwV, § 46 Abs 1 Nr 11 StVO |
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. Juli 2013 wird zurückgewiesen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts vom 29. Juli 2013 ist zulässig, aber nicht begründet. Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das erstinstanzliche Klageverfahren, in dem die Klägerin die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) und „T“ (Telebus) begehrt, liegen nicht vor.
Nach § 73a Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 114 Satz 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Prozessbeteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann und die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg verspricht und nicht mutwillig erscheint. Bei der Abwägung, ob einer Klage hinreichende Aussicht auf Erfolg zukommt, gebietet Artikel 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) i. V. m. dem in Artikel 20 Abs. 3 GG allgemein niedergelegten Rechtsstaatsgrundsatz und der in Artikel 19 Abs. 4 GG verankerten Rechtsschutzgarantie gegen Akte der öffentlichen Gewalt eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. In der Folge dürfen die Anforderungen an die Erfolgsaussicht nicht überzogen werden, weil das Prozesskostenhilfeverfahren den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nicht selbst bietet, sondern ihn erst zugänglich macht (ständige Rechtsprechung, vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 6. Mai 2009 – 1 BvR 439/08 – zitiert nach juris -; vom 14. März 2003 – 1 BvR 1998/02 – in NJW 2003, 2976; vom 7. April 2000 – 1 BvR 81/00 – in NJW 2000, 1936). Damit muss der Erfolg des Rechtsschutzbegehrens nicht gewiss sein; hinreichende Aussicht auf Erfolg ist nur dann zu verneinen, wenn diese nur entfernt oder schlechthin ausgeschlossen ist. Die hinreichende Erfolgsaussicht ist daher gegeben, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Klägers zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist. Ist eine Rechtsfrage aufgeworfen, die in der Rechtsprechung noch nicht geklärt, aber klärungsbedürftig ist, muss ebenfalls Prozesskostenhilfe bewilligt werden (vgl. Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 73a, Rn. 7a, b, m. w. N.).
Nach Maßgabe dieser Vorgaben sind hinreichende Erfolgsaussichten hier im Hinblick auf die begehrten Merkzeichen zu verneinen. Im Kern ist dabei für die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ auf Abschnitt II Nr. 1 der Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO) zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO zurückzugreifen, wonach als schwerbehinderte Menschen mit außergewöhnlicher Gehbehinderung solche Personen anzusehen sind, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Dazu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 erster Halbsatz VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (vgl. Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 29. März 2007 - B 9a SB 5/05 R - juris). Dabei ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf abstellen, über welche Wegstrecken ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist, nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzungen – praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an – erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 - B 9 SB 7/01 R - juris).
Dass die Klägerin nicht zum Kreis der Querschnittsgelähmten, Doppeloberschenkelamputierten, Doppelunterschenkelamputierten, Hüftexartikulierten und einseitig Oberschenkelamputierten, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, gehört, ist unstreitig. Sie dürfte aber auch kein schwerbehinderter Mensch sein, der dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen ist.
Das Gangbild der Klägerin, zu deren Gunsten wegen Organschäden, zentraler und peripherer Nervenstörungen mit Gangstörungen bei Abhängigkeitserkrankung und Medikamentenmissbrauch ein Grad der Behinderung von 80 sowie die Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und „B“ (Notwendigkeit einer Begleitperson) anerkannt sind, wird in dem von dem Beklagten eingeholten Gutachten der Ärztin für Neurologie und Psychiatrie F vom 3. März 2013, das von der Klägerin in medizinischer Hinsicht nicht substantiiert angegriffen worden ist, als ataktisch beschrieben. Die Klägerin gehe in der Wohnung frei und kurzschrittig und mit leichter Führung an einer Hand auch relativ zügig. Allerdings suche die Klägerin alle paar Schritte Halt an Möbeln oder der Wand. Selbst hat die Klägerin ausweislich des Gutachtens erklärt, auch ohne Rollator gehen zu können, wenn sie an einer Hand von einer Hilfsperson geführt werde. Die Beschreibung des Gangbildes wird bestätigt in dem aktenkundigen Pflegegutachten von Dr. N vom 27. Februar 2009. Auch hier wird bei erheblich ataktischem Gangbild beschrieben, dass die Klägerin mit kurzen Schritten meist frei gehen könne, sich aber wiederholt an Mobiliar, Tür- oder Haltegriffen festhalten müsse. Auch die Klägerin selbst hat in ihrer Klagebegründung vom 16. Mai 2013 in erster Linie darauf abgestellt, dass sie extrem gangunsicher sei und sich daher nur mit fremder Hilfe am Straßenverkehr beteiligen könne.
Damit dürften aber die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ nicht vorliegen. Denn entscheidend ist, dass der Leidenszustand wegen einer außergewöhnlichen Behinderung beim Gehen die Fortbewegung auf das schwerste einschränken muss (vgl. hierzu und zum Folgenden Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 13. Dezember 1994 - 9 RVs 3/94 – juris). Daran dürfte es bei der Klägerin aber fehlen. Es mag sein, dass sie nicht oder allenfalls nur wenige Schritte selbständig gehen kann, ohne sich und andere Verkehrsteilnehmer an Leib und Leben zu gefährden. Die gewünschte Parkerleichterung wäre ihr aber keine Hilfe, ihr Ziel ungefährdet zu erreichen. Auch auf dem verkürzten Weg müsste sie begleitet werden. Dass die durch den Nachteilsausgleich „aG“ vermittelten Parkvergünstigungen der Begleitperson ihre Aufgabe erleichtern würden, weil sie der Klägerin nur auf einem verkürzten Weg zu überwachen und zu leiten hätte, ist nach dem zitierten Urteil des BSG nicht Sinn dieses Nachteilsausgleichs. An anderer Stelle hat das BSG ausgeführt, auch ständig aufsichtsbedürftige Personen könnten dem in der VwV-StVO zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO im einzelnen angesprochenen Personenkreis erst dann gleichgestellt werden, wenn sie im innerstädtischen Fußgängerverkehr durch eine Begleitperson nicht mehr sicher geführt werden können (BSG, Urteil vom 22. April 1998 - B 9 SB 7/97 R – juris). Ein solcher Zustand sei allerdings noch nicht erreicht, wenn ein Behinderter wegen der Beeinträchtigung seines Orientierungsvermögens und seines unkontrollierbaren Bewegungsdranges ständig der Führung durch eine Begleitperson bedürfe. Hinzukommen müsse eine so starke Selbstgefährdung oder Gefährdung Dritter, dass eine verantwortungsbewusste Begleitperson den Behinderten im innerstädtischen Fußgängerverkehr nicht mehr führen, sondern regelmäßig nur noch im Rollstuhl befördern würde. Auch ein solcher Fall dürfte hier aber nicht vorliegen, weil die Klägerin offenbar mit Hilfe einer Begleitperson auch ohne Rollstuhl im Straßen- und Fußgängerverkehr gehen kann.
Die Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ dürften auch nicht unter dem Blickwinkel der großen körperlichen Anstrengung vorliegen. Hier kommt es darauf an, dass die Wegstreckenlimitierung darauf beruht, dass der Betroffene bereits nach kurzer Wegstrecke – wohl nach 30 Metern - erschöpft ist und Kräfte sammeln muss, bevor er weitergehen kann (vgl. nur Urteil des Senats vom 14. August 2013 – L 11 SB 267/12 – juris). Auch wenn die Klägerin im Schriftsatz vom 22. Juli 2013 erklärt hat, nur noch kurze Wegstrecken zurücklegen zu können, wobei eine Meterzahl nicht benannt werden könne, bestehen aber derzeit keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Voraussetzungen hier vorliegen. Im Vordergrund dürfte bei der Klägerin ganz offensichtlich deren erhebliche und unstreitige Gangunsicherheit stehen, die aber aus den dargelegten Gründen die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ nicht rechtfertigen dürfte.
Bei der Klägerin dürften danach auch die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „T“ nicht erfüllt sein. Voraussetzung für das Merkzeichen „T“ ist nach § 1 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung über die Vorhaltung eines besonderen Fahrdienstes vom 31. Juli 2001 (GVBl. Seite 322), zuletzt geändert mit Verordnung vom 22. Juni 2005 (GVBl. Seite 342) (BerlFahrdienstVO), unter anderem, dass das Merkzeichen aG nachgewiesen wird, was nach dem Gesagten nicht gelingen dürfte.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO).
Der Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).