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Kinder- und Jugendhilfe- sowie Jugendförderungsrecht


Metadaten

Gericht VG Potsdam 7. Kammer Entscheidungsdatum 15.04.2019
Aktenzeichen 7 K 6101/17 ECLI ECLI:DE:VGPOTSD:2019:0415.7K6101.17.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 35a SGB 8, § 36a SGB 8

Tatbestand

Die am 23. September 2008 geborene Klägerin begehrt von dem Beklagten die Gewährung von Eingliederungshilfe nach § 35a Sozialgesetzbuch Achtes Buch - Kinder- und Jugendhilfe - (SGB VIII).

Die Klägerin, vertreten durch ihre Mutter, beantragte am 26. März 2017 beim Jugendamt des Beklagten, ihr Eingliederungshilfe in Form einer Lerntherapie wegen einer bei ihr bestehenden Dyskalkulie (Rechenschwäche) zu gewähren. Der Beklagte lehnte dies mit Bescheid vom 8. Juni 2017 mit der Begründung ab, dass eine Teilleistungsstörung für sich genommen keinen Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Lerntherapie begründe und darüber hinaus „zusammenfassend eingeschätzt werden“ könne, dass ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft „noch nicht“ beeinträchtigt sei oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten sei. Den Bescheiden lag die Beurteilung der Teilbereiche Familie, Freizeit und Schule anhand der Antragsunterlagen, des Elternfragebogens, des Schulberichts sowie der bislang durchgeführten Diagnostik (Entlassungsbericht der D... vom 27. Juni 2013, Ambulanzbrief d... vom 11. Dezember 2014 und Bescheinigung der Akademie für Psychotherapie und Interventionsforschung an der U... - psychotherapeutische Ambulanz für Kinder und Jugendliche - vom 13. März 2017) zugrunde. Den gegen den Bescheid vom 8. Juni 2017 von den Eltern der Klägerin am 5. und 6. Juli 2017 eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2017, den (gemeinsam sorgeberechtigten, aber getrennt lebenden) Eltern der Klägerin zugestellt am 26. Oktober 2017, zurück. Zuvor waren die Eltern der Klägerin am 22. August 2017 nochmals angehört worden.

 Die Klägerin hat hiergegen am 27. November 2017, einem Montag, Klage erhoben.

Die Klägerin besucht seit dem Schuljahr 2014/15 die Schule am G... in Potsdam. Seit September 2016 erhält sie dort Förderunterricht in Mathematik; seit Februar 2017 hat sie einen Nachteilsausgleich im Fach Mathematik. Seit Januar 2018 besucht sie das Zentrum zur Therapie der Rechenschwäche in Potsdam () und nimmt dort an einem (selbstbeschafften) Lernprogramm teil. Die Eltern der Klägerin unterrichteten den Beklagten hiervon nicht. Rechtsschutz im einstweiligen Anordnungsverfahren wurde nicht in Anspruch genommen.

Im Februar 2017 wurden bei der Klägerin ausweislich einer Bescheinigung der vom 13. März 2017 einen umschriebene Rechenstörung (ICD-10 F81.2) sowie eine einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (ICD-10 F90.0) diagnostiziert. Letztere Diagnose war ausweislich des Ambulanzbriefs des E... vom 11. Dezember 2014 bereits Ende 2014 gestellt worden - darüber hinaus waren bei der Klägerin eine chronische motorische Ticstörung (ICD-10 F95.1) sowie eine Anpassungsstörung mit vorwiegender Beeinträchtigung von anderen Gefühlen (ICD-10 F43.23) diagnostiziert worden.

Die Klägerin ist der Auffassung, der Beklagte habe den Sachverhalt nur ungenügend ermittelt und unrichtig bewertet. Sie meint, auch der Bescheid vom 8. Juni 2017 gehe davon aus, dass ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben aufgrund der vorhandenen Teilleistungsstörung beeinträchtigt sei. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb der Beklagte im Bescheid vom 8. Juni 2017 davon ausgehe, dass „die Diagnostik zwei Jahre ihre Gültigkeit“ behalten solle und „eine Beantragung zu einem späteren Zeitpunkt … wiederholt werden (könne), sollte sich die Teilhabe im gesellschaftlichen Leben auf Grund der Teilleistungsstörung wesentlich verschlechtern“. Daraus ergebe sich, dass bereits im Ausgangsbescheid davon ausgegangen werde, dass die Anspruchsvoraussetzungen des § 35a SGB VIII vorliegen, weil sich nur etwas bereits Vorhandenes - hier die (beeinträchtigte) Teilhabe der Klägerin am gesellschaftlichen Leben aufgrund der Teilleistungsstörung - verschlechtern könne. Dies sei inzwischen auch geschehen. So ziehe sie, die Klägerin, sich aus wesentlichen integrativen Teilen des Familienlebens zurück, sobald diese auch nur beiläufig durch ihr Handicap erschwert werden (Abwiegen und Berechnen von Zutaten beim Kuchenbacken), mit dem anderthalb Jahre jüngeren Bruder der Klägerin, der besser und schneller rechnen könne als die Klägerin, komme es immer wieder deswegen zu Streit und zu einem Rückzug der Klägerin vom jüngeren Bruder, die außerschulischen Kontakte mit gleichaltrigen Freunden seien gefährdet, weil sie sich Treffen zum gemeinsamen Hausaufgabenmachen entziehe und sie leide an somatischen Beschwerden (Bauchschmerzen, Übelkeit), wenn sie in die Schule gehen soll. Sie grenze sich nicht nur mit inneren Vorbehalten, sondern mit einer demonstrativen Verweigerungshaltung von ihrem Umfeld ab, sobald es um Hilfestellungen und Übungsmaßnahmen zur Verbesserung ihrer schulischen Leistungen gehe, insbesondere im Fach Mathematik. Im Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2017 werde es als „unumstritten“ dargestellt, dass sie durch die Dyskalkulie beeinträchtigt sei; gleichwohl werde aber davon ausgegangen, dass ihre Teilleistungsstörung für sich betrachtet noch keine Abweichung von der seelischen Gesundheit darstelle. Der Beklagte stelle nur auf die Stellungnahme ihrer, der Klägerin, Klassenlehrerin vom 14. Oktober 2017 ab und ziehe die von ihr, der Klägerin, geschilderten Umstände nicht in die Beurteilung mit ein. Das auf den 14. Oktober 2017 datierte weitere Schreiben ihrer Klassenlehrerin, in dem es heißt, die Klägerin brauche „unbedingt die zusätzliche Förderung durch das “ und „es (sei) unbedingt wichtig, dass (die Klägerin) die Förderung durch das bekommt, um nach drei Jahren ohne Ängste und ständigen Misserfolgen am Mathematikunterricht teilnehmen zu können“, sei gänzlich unbeachtet geblieben. Im Zeitpunkt der Bescheidung des Widerspruchs habe eine Drittklässlerin in Rede gestanden, die in einem der wichtigsten Hauptfächer praktisch von Anfang an auf verlorenem Posten gestanden habe, vom Klassenclown zur Verweigererin avanciert sei und sich zuletzt sogar mit Handgreiflichkeiten gegenüber Lehrern artikuliert habe. Zur Bewältigung ihrer Versagensängste habe sie inzwischen einen Freundeskreis aus zurückliegenden Altersstufen, also quasi im Kleinkindalter. Morgens bereite ihr der Gedanke an den Schulbesuch bereits körperliche Schmerzen.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 8. Juni 2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. Oktober 2017 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin die beantragte Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII zu gewähren.

Der Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Begründung im Widerspruchsbescheidvom 25. Oktober 2017,

die Klage abzuweisen.

Er meint, eine Teilhabebeeinträchtigung liege bei der Klägerin nicht vor. Die Klägerin sei sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich nicht sozial isoliert und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sei weder beeinträchtigt noch seien Beeinträchtigungen zu erwarten. Von der im Bescheid vom 8. Juni 2017 vertretenen Auffassung, dass „die Diagnostik zwei Jahre ihre Gültigkeit“ behalte, rückt der Beklagte ab. Ebenso hält er die im Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2017 geäußerte Auffassung nicht länger aufrecht, dass die bei der Klägerin vorliegende Teilleistungsstörung für sich betrachtet noch keine Abweichung von der seelischen Gesundheit darstelle.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 7. Juni 2018 gemäß § 6 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) auf den Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Die Verwaltungsvorgänge des Beklagten haben vorgelegen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf diese und die Gerichtsakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat keinen Erfolg. Sie ist nur zum Teil zulässig und insgesamt unbegründet.

Soweit die Klägerin die Gewährung von Eingliederungshilfe ab Antragstellung, also für den zurückliegenden Zeitraum ab dem 26. März 2017 bis zum Januar 2018, begehrt, fehlt es ihr bereits an einem Rechtschutzbedürfnis, was die Klage insoweit unzulässig macht. Der vorbezeichnete streitbefangene Zeitraum ist inzwischen abgelaufen, ohne dass die Klägerin zuvor im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes eine vorläufige Hilfegewährung durchgesetzt oder sich Hilfe entsprechend § 36a Abs. 3 SGB VIII in zulässiger Weise selbst beschafft hätte, so dass vorliegend noch über die Kostentragung für eine entsprechende Maßnahme zu entscheiden gewesen wäre. Mangels Durchführung einer Lerntherapie während dieser Zeit ist eine rückwirkende Hilfegewährung nicht mehr möglich (VG Cottbus, Urteil vom 29. Januar 2016 - 1 K 1193/14 - juris, Rn. 15).

Soweit die Klägerin die Gewährung von Eingliederungshilfe für den zurückliegenden Zeitraum ab Januar 2018 begehrt, ist die Klage zwar zulässig, weil ein Rechtsschutzbedürfnis insoweit in Betracht kommt, als grundsätzlich über die Übernahme der (bislang entstandenen erforderlichen) Aufwendungen für die seit Januar 2018 durchgeführten Hilfemaßnahmen und über künftig noch durchzuführende Hilfemaßnahmen entschieden werden könnte.

Die Klage ist aber nicht begründet.

Aufwendungsersatz für eine selbstbeschaffte Hilfe kann nicht bereits verlangt werden, wenn die Leistungsvoraussetzungen beim Berechtigten gegeben sind, sondern erst dann, wenn der Berechtigte deswegen selbst tätig werden musste, weil die Deckung des Bedarfs keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat, da sonst der Leistungserfolg gefährdet würde oder das weitere Abwarten für den Berechtigten unzumutbar ist. Es muss somit hinsichtlich der Leistungserbringung ein Eilfall gegeben sein, was der Fall ist, wenn wegen Art und Dringlichkeit des Hilfebedarfs nicht zugewartet werden kann, sondern die Leistung sofort und ohne nennenswerten zeitlichen Aufschub erbracht werden muss. Dabei differenziert § 36a Absatz 3 Satz 1 Nr. 3 zwischen der Eilbedürftigkeit der Bedarfsdeckung vor einer Entscheidung des Jugendamtes - Absatz 3 Satz 1 Nr. 3 a) - und der Eilbedürftigkeit nach einer zu Unrecht durch das Jugendamt abgelehnten Leistung - Absatz 3 Satz 1 Nr. 3 b) - (von Koppenfels-Spies in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Auflage, § 36a SGB VIII Rn. 54).

Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Übernahme der bislang entstandenen Aufwendungen für die seit Januar 2018 im Wege der Selbstbeschaffung durchgeführten Hilfemaßnahmen aus § 36a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. § 35a Abs. 1 SGB VIII. Fälle der Selbstbeschaffung können nach § 36a Abs. 3 SGB VIII nur dann zur Kostentragungspflicht des Jugendhilfeträgers führen, wenn der Leistungsberechtigte den Träger vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat (1), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen (2) und die Deckung des Bedarfs bis zu einer abschließenden Entscheidung des Jugendhilfeträgers keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (3). Diese drei Anspruchsvoraussetzungen müssen kumulativ vorliegen, was hier nicht der Fall ist.

Zunächst hat der Leistungsberechtigte den Jugendhilfeträger über den Hilfebedarf in Kenntnis zu setzen („angemeldeter Bedarf“) und zwar noch vor der Selbstbeschaffung (§ 36a Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII). Dies kann auch formlos oder konkludent geschehen, ein Antrag ist aber stets vonnöten (BVerwG, Beschluss vom 17. Februar 2011 - 5 B 43/10 -, juris). Entstehen - wie hier - die Aufwendungen für die Bedarfsdeckung nach Zeitabschnitten, was bei Maßnahmen, die an den Schulbesuch anknüpfen, eine Zeitabschnittsbildung nach Schuljahren nahelegt (Bayerischer VGH, Urteil vom 18. Februar 2008 - 12 B 06.1846 -, juris, Rn. 36), genügt es für die Übernahme der Aufwendungen für den folgenden Zeitabschnitt, wenn der Antrag vor einem neuen Zeitabschnitte gestellt wird. Ausgehend davon, dass der im März 2017 gestellte Antrag auf Eingliederungshilfe im Juni 2017 (Ausgangsbescheid), mithin zum ablaufenden Schuljahr 2016/17, beschieden wurde, wäre ein die Eingliederungshilfe gewährender Bescheid (längstens) für das Schuljahr 2017/18 ergangen. Damit scheitert ein Anspruch auf Übernahme der bislang entstandenen Aufwendungen nicht daran, dass der Leistungsträger nicht vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt wurde. Die vom Beklagten zu Recht aufgegebene Rechtsauffassung, dass „die Diagnostik zwei Jahre ihre Gültigkeit“ behalte und erst nach Ablauf dieser Zeitspanne ein neuer Antrag gestellt werden könne, verkennt, dass die Frage, ob die Voraussetzungen für die Bewilligung von Jugendhilfe nach §35a SGB VIII erfüllt sind, nach dem jeweils aktuellen Hilfebedarf zu beurteilen ist, der für folgende Zeitabschnitte jeweils gesondert festzustellen ist. Es sind Zeitabschnitte zu bilden, in denen der zuständige Jugendhilfeträger von sich aus oder aufgrund äußeren Anlasses gehalten ist, erneut über die Ablehnung, den Fortbestand oder Änderungen zu entscheiden. Zeiträume von zwei Jahren sind für die Beurteilung von Hilfemaßnahmen wie die in Streit stehende viel zu lange, weil schulische Leistungen in Halbjahres-, längstens aber in Jahresabständen bewertet werden.

Jedenfalls fehlt es an der kumulativ zu erfüllenden zweiten Voraussetzung des Kostenübernahmeanspruchs, nämlich den zu belegenden Anforderungen an eine seelische Behinderung mit einer Teilhabebeeinträchtigung als kausaler Folge.

Die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII lagen auf der Basis der den angefochtenen Entscheidungen zugrundeliegenden Umstände nicht vor. Nach § 35a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht (Nr. 1) und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist (Nr. 2). Von einer seelischen Behinderung bedroht sind Kinder oder Jugendliche, bei denen eine Beeinträchtigung ihrer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (§ 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII).

Daraus ergibt sich, dass eine Teilleistungsstörung in Bezug auf schulische Fertigkeiten, die als solche eine Beeinträchtigung der Gesundheit darstellt, für sich genommen weder eine seelische Behinderung im Sinne von § 35a SGB VIII begründet, noch eine solche indiziert. Vielmehr müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein (OVG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 7. März 2011 - OVG 6 M 21.11 - und vom 17. Juni 2008 - 6 S 2.08 -; OVG NRW, Beschluss vom 13. Juli 2011 - 12 A 1169/11 -, juris; Bayerischer VGH, Urteil vom 20. Oktober 2010 - 12 B 09.2956 -, juris; Hessischer VGH, Urteil vom 20. August 2009 - 10 A 1874.08 -, juris; Sächsisches OVG, Beschluss vom 9. Juni 2009 - 1 B 288/09 -, juris; offen lassend, ob entgegen der herrschenden Rechtsprechung schon Dyskalkulie selbst als seelische Störung i.S.d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII einzustufen ist: OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Urteil Beschluss vom 22. Januar 2013 - 4 L 1/13 -, juris).

Das Vorliegen einer seelischen Behinderung ist in drei Schritten festzustellen. Es muss eine Teilleistungsstörung vorliegen, die Hauptursache für eine - weitergehende - seelische Störung ist und außerdem zu einer Beeinträchtigung bei der Eingliederung in die Gesellschaft führt oder dies erwarten lässt. Ob die erstgenannte Voraussetzung - eine Teilleistungsstörung, die ein Abweichen von der seelischen Gesundheit i.S.d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII darstellt - vorliegt, ist anhand einer Stellungnahme einer in § 35a Abs. 1a Satz 1 SGB VIII genannten Person auf der Grundlage der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD) zu beurteilen (§ 35a Abs. 1a Satz 2 SGB VIII). Zusätzlich sind die Sekundärfolgen zu prüfen. Die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft muss bereits beeinträchtigt sein oder es muss eine solche Beeinträchtigung nach fachlicher Erkenntnis mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Nicht erforderlich ist allerdings, dass bereits der Eintritt einer völligen Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung oder ein Rückzug aus jedem sozialen Kontakt oder die Vereinzelung in der Schule festzustellen ist, um eine drohende Behinderung zu begründen.

In Anwendung vorstehender Maßstäbe gehört die Klägerin nicht zum anspruchsberechtigten Personenkreis. Vorliegend ist zwar unstreitig, dass sie u.a. unter einer umschriebenen Rechenstörung (ICD-10 F81.2) leidet (Bescheinigung der vom 13. März 2017). Jedoch lässt sich den vorliegenden Unterlagen nicht entnehmen, dass als Folge der Dyskalkulie eine weitergehende seelische Störung mit Behinderungsrelevanz vorliegt.

Zwar ergibt sich aus der Bescheinigung der vom 13. März 2017, dass die Klägerin „aufgrund ihrer Leistungsdefizite im Rechnen und der eingeschränkten Aufmerksamkeitsleistung in ihrer gesamten Entwicklung so stark gefährdet (ist), dass … eine seelische Behinderung gemäß § 35a SGB VIII droht. Sie zeigt eine deutliche Misserfolgsorientierung in den Bereichen, die mit Rechnen verbunden sind, ein herabgesetztes Selbstwertgefühl hinsichtlich der schulischen Leistungsfähigkeit sowie Vermeidungsverhalten bei schulischen Aufgaben (in der Schule und zu Hause)“. Aus diesem Grund wird - dringend - eine außerschulische integrative lerntherapeutische Förderung empfohlen, um den Leistungsdefiziten im Rechnen möglichst wirksam begegnen zu können.

Während die Beurteilung, ob die seelische Gesundheit im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht, regelmäßig Aufgabe von Ärzten oder Psychotherapeuten ist, fällt die Einschätzung, ob die Teilhabe des jungen Menschen am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung droht, in die Kompetenz sozialpädagogischer Fachlichkeit und somit in den Aufgabenbereich des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Januar 2015 - OVG 6 N 32.14 -; OVG NRW, Beschluss vom 5. April 2013 – 1 A 346/11 -, juris, Rn. 11; Sächsisches OVG, Beschluss vom 5. April 2013 – 1 A 346/11, juris, Rn. 11). Die endgültige Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen liegt allein in der Kompetenz des Jugendamts (Stähr in Hauck/Noftz, SGB VIII, 05/15, § 35a Rn. 36b, juris).

Dasselbe gilt für die Einschätzung der Klassenlehrerin der Klägerin im Schreiben vom 14. Oktober 2017, in dem der Sache nach gesagt wird, dass der Dyskalkulie der Klägerin mit einer Lerntherapie zu begegnen sei, um ihre Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft nicht zu beeinträchtigen oder eine drohende Beeinträchtigung abzuwenden (die Klägerin brauche „unbedingt die zusätzliche Förderung durch das “ und „es (sei) unbedingt wichtig, dass (die Klägerin) die Förderung durch das bekommt, um nach drei Jahren ohne Ängste und ständigen Misserfolgen am Mathematikunterricht teilnehmen zu können“).

Durch die Dyskalkulie ist die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft aber weder beeinträchtigt noch droht eine solche Beeinträchtigung.

Unter Teilhabe am Leben in der Gesellschaft i.S.d. § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII ist die Ausübung sozialer Funktionen und Rollen zu verstehen. Entscheidend ist, ob die seelischen Störungen nach Breite, Tiefe und Dauer so intensiv sind, dass sie die Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigen. Das kann beispielsweise angenommen werden, bei auf Versagensängsten beruhender Schulphobie, totaler Schul- und Lernverweigerung, dem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und der Vereinzelung in der Schule. Demgegenüber genügen bloße Schulprobleme und auch Schulängste, die andere Kinder teilen, nicht, um die Annahme einer Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu rechtfertigen (BVerwG, Urteil vom 26. November 1998 - 5 C 38/97 -, juris, Rn. 15; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 28. Januar 2015 - OVG 6 N 32.14 -).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann - wovon der Beklagte im Verwaltungsverfahren zutreffend ausgegangen ist - jedenfalls weder von einer durch die Dyskalkulie verursachte Beeinträchtigung der Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft ausgegangen werden noch davon, dass eine solche Beeinträchtigung droht im Sinne des § 35a Abs. 1 Satz 2 SGB VIII, weil sie mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist.

So wird das Verhalten der Klägerin in der vorstehend bereits erwähnten Einschätzung ihrer Klassenlehrerin vom 14. Oktober 2017 - die insoweit als Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Frage, ob die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung droht, geeignet ist - auch wie folgt beschrieben: Die Klägerin sei keine Einzelgängerin, sie habe einige Mitschüler, mit denen sie sich unterhalte und spiele. Im Sportunterricht sei sie ein beliebter Spielpartner. Ein „Klassenkasper“ sei sie in der ersten Klasse gewesen, dieses Verhalten zeige sie nicht mehr. Ihr Sozialverhalten gegenüber Erwachsenen sei nicht auffällig. Sie habe einen guten Kontakt zu den Lehrern. Sie störe nicht im Unterricht, allerdings lenke sie sich selbst ab, sei häufig unaufmerksam und träume oft. Auch im Elternfragebogen wird ihr Freizeitverhalten als altersgemäß beschrieben, sie spiele mit Freunden und sei viel draußen. Sie habe etwa fünf Freunde, mit denen sie ein bis zweimal in der Woche regelmäßige persönliche oder telefonische Kontakte pflege. Dabei wird nicht verkannt, dass sowohl im Elternfragebogen als auch in der Stellungnahme der Klassenlehrerin auch die mit ihren Rechenproblemen im Zusammenhang stehenden Frustrationserlebnisse, Schulängste, Minderwertigkeitsgefühle, Vermeidungsstrategien der Klägerin und dadurch verursachte Konflikte im häuslichen und schulischen Umfeld beschrieben werden. Gleichwohl ergibt sich bei einer Gesamtschau nicht, dass die angefochtene Entscheidung des Beklagten die Klägerin für den in Rede stehenden Bewilligungszeitraum (Schuljahr 2017/18) in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 und 5 VwGO). In diesem Bewilligungszeitraum bestand ein Bedarf, den der Beklagte als Leistungsträger hätte übernehmen müssen (§ 36 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB VIII) nicht vor.

Der Bescheid des Beklagten vom 8. Juni 2017 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 25. Oktober 2017 ist auch insoweit rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, als es um die Nichtgewährung künftiger Hilfemaßnahmen geht, die durch die bislang selbst beschafften noch nicht abgedeckt sind. Über künftig noch durchzuführende Hilfemaßnahmen ist zunächst vom Beklagten auf Antrag der Klägerin erneut zu entscheiden, ob die Entwicklungen im Schuljahr 2018/2019 hierzu Veranlassung geben. Insoweit fehlt es an einer verwaltungsgerichtlich überprüfbaren behördlichen Entscheidung. Es ist nicht Aufgabe des Gerichts, selbst erstmals einen Hilfeanspruch zu prüfen. Dieser kann vielmehr auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe grundsätzlich nur in dem zeitlichen Umfang in zulässiger Weise zum Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle gemacht werden, in dem der Träger der Jugendhilfe den Hilfefall geregelt hat. Da es sich bei der Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII um eine zeitabschnittsweise Hilfegewährung handelt, deren Voraussetzungen vom Träger der Jugendhilfe stets neu zu prüfen sind, kommt eine Dauerbewilligung nicht in Betracht. Dementsprechend kann dies auch nicht für alle Zukunft in einem Rechtsstreit erstritten werden (VG Cottbus, Urteil vom 29. Januar 2016 - 1 K 1193/14 -juris, Rn. 16 m.w.N.).

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO.