Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat | Entscheidungsdatum | 05.02.2018 | |
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Aktenzeichen | OVG 11 M 29.16 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2018:0205.11M29.16.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 32 Abs 1 AufenthG, § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG, Art 6 GG, Art 8 MRK, Art 24 Abs 3 EUGrdRCh |
Die Beschwerde der Klägerinnen gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 13. Juli 2016 wird zurückgewiesen.
Die Klägerinnen tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Die Beschwerde der Klägerinnen gegen die erstinstanzliche Versagung von Prozesskostenhilfe hat keinen Erfolg. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass die Klage keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO biete, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden.
Die Klägerinnen, die Kindernachzugsvisa nach § 32 Abs. 1 AufenthG beanspruchen, stellen nicht in Abrede, dass die Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhalts nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllt ist. Sie machen vielmehr geltend, dass von diesem Erfordernis hier abzusehen sei. Ein atypischer Fall, der eine Ausnahme von dem „in der Regel“ geltenden Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhalts begründen würde, ist hier jedoch nicht gegeben. Er wäre dann anzunehmen, wenn entweder besondere, atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen, oder wenn die Erteilung des Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts, etwa im Hinblick auf Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK geboten ist. Dabei ist zugrunde zu legen, dass der Gesetzgeber in der Unterhaltssicherung eine Erteilungsvoraussetzung von grundlegendem staatlichen Interesse und zugleich die wichtigste Voraussetzung sieht, um die Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu verhindern (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. August 2011 – 1 C 12/10 –, Rn. 15, juris). Ob ein Ausnahmefall vorliegt, unterliegt keinem Einschätzungsspielraum der Behörde, sondern ist gerichtlich in vollem Umfang überprüfbar (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 – 10 C 16/12 –, Rn. 16, juris).
Auf nationaler Ebene genießt die Familie den Schutz des Art. 6 GG. Zwar gewähren weder das in Art. 6 Abs. 1 GG verbürgte Recht auf familiäres Zusammenleben noch die in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleistete Wahrnehmung der Elternverantwortung im Interesse des Kindeswohls einen unmittelbaren Anspruch auf Einreise und Aufenthalt. Allerdings verpflichtet die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, die Ausländerbehörden und die Gerichte, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen. Steht einem Nachzugsbegehren - wie hier - der Schutz der öffentlichen Kassen entgegen, bedarf es im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einer Abwägung dieses öffentlichen Interesses mit den gegenläufigen privaten Belangen der Familie und muss die Entscheidung insbesondere den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots entsprechen. Dabei sind alle relevanten Umstände des Einzelfalls einzustellen. Besteht zwischen Eltern und minderjährigen Kindern eine Eltern-Kind-Beziehung oder ist deren Aufnahme beabsichtigt, ist insbesondere zu ermitteln, welche Folgen die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts für die Ausübung der Elternverantwortung und für das Wohl der minderjährigen Kinder hätte. Bei der Gewichtung der betroffenen Belange ist auch zu berücksichtigen, ob eine familiäre Lebensgemeinschaft nur im Bundesgebiet verwirklicht werden kann. Ist einem Mitglied der aus Eltern und ihren minderjährigen Kindern gebildeten Kernfamilie ein Aufenthalt im Ausland zur Fortführung der Lebensgemeinschaft nicht möglich oder zumutbar, kommt dem Interesse der Familie, die Lebensgemeinschaft gerade im Bundesgebiet zu führen, besonderes Gewicht zu. In diesem Fall bedarf es für aufenthaltsrechtliche Entscheidungen, die dies verhindern, entsprechend gewichtiger gegenläufiger öffentlicher Belange (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 – 10 C 16/12 –, Rn. 21, juris). Auch Art. 8 EMRK garantierte kein Recht eines Ausländers, in einen bestimmten Staat einzureisen und sich dort aufzuhalten, verpflichtet jedoch ebenfalls zu einer Abwägungslösung nach Verhältnismäßigkeitsgrundsätzen (vgl. BVerwG, a.a.O., Rn. 22, juris). Ebenso verpflichten Art. 7 i.V.m. Art. 24 Abs. 2 und 3 GR-Charta beim Kindernachzug in Fällen, in denen - wie hier - die Voraussetzungen für ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht vorliegen und den Mitgliedstaaten ein Handlungsspielraum verbleibt, bei dessen Ausfüllung den Schutz der Familie und das Recht auf Familienleben zu achten und dabei insbesondere das Kindeswohl angemessen zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 – 10 C 16/12 –, Rn. 24, juris). Sie begründen aber für die Mitglieder einer Familie ebenfalls kein subjektives Recht auf Aufnahme im Hoheitsgebiet eines Staates und lassen sich nicht dahin auslegen, dass den Staaten bei der Prüfung von Anträgen auf Familienzusammenführung kein Ermessensspielraum verbliebe (vgl. EuGH, Urteil vom 27. Juni 2006 – C-540/03 –, Rn. 59 f., juris).
Hiernach ist eine Ausnahme von der Regelerteilungsvoraussetzung der Unterhaltssicherung nicht gerechtfertigt. Dabei mag dahinstehen, ob es der im Bundesgebiet lebenden, aus den Eltern der Klägerinnen und ihren vier 2007, 2008, 2010 und 2012 geborenen und jeweils die deutsche Staatsangehörigkeit besitzenden Geschwistern bestehenden Kernfamilie, wie von der Beklagten und ihm folgend dem Verwaltungsgericht angenommen, zugemutet werden kann, die Familieneinheit mit den Klägerinnen in der Türkei herzustellen.
Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - den Vorschriften des § 28 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. Satz 1 Nr. 2 und 3 AufenthG und des § 28 Abs. 1 Satz 3 i.V.m. Satz 1 Nr. 1 AufenthG, wonach das minderjährige ledige Kind eines Deutschen und der ausländische Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen zur Ausübung der Personensorge abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis haben bzw. dem ausländischen Ehegatten eines Deutschen eine Aufenthaltserlaubnis in der Regel abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt werden soll, den allgemeinen Rechtsgedanken entnommen, dass beim Nachzug in eine Familie, der ein deutscher Staatsangehöriger angehört, dem fiskalischen Interesse ein geringeres Gewicht zukommt als beim Nachzug in eine rein ausländische Familie (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - juris Rn. 30). Auch danach rechtfertigt aber allein die Tatsache, dass einer Kernfamilie ein oder mehrere minderjährige deutsche Kinder angehören, nicht schon ein Absehen vom Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung, sondern müssen weitere Umstände hinzutreten, die bei einer wertenden Gesamtschau das ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung in § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beseitigen. Derartige Umstände hat das Bundesverwaltungsgericht für einen Fall bejaht, in dem der Nachzug in eine Kernfamilie erfolgen sollte, die bei einer qualitativen Betrachtung aller für die Bestimmung des Lebensmittelpunkts maßgeblichen Umstände ihren Schwerpunkt in Deutschland hatte und in dem der Kläger im Zeitpunkt der mündlichen Tatsachenverhandlung erst zwölf Jahre alt war, ein Lebensalter, bis zu dem ein gesteigerter Schutz- und Betreuungsbedarf bestehe und Kinder in besonderem Maße auf ein Aufwachsen in der Kernfamilie angewiesen seien, und gegen die Eltern des Klägers keine Sanktionen wegen Verletzung ihrer sozialrechtlichen Verpflichtung nach §§ 31 ff. SGB II verhängt worden waren (vgl. BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 - 10 C 16.12 - Rn. 30 ff., juris; Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 09. November 2016 – OVG 3 B 3.15 –, Rn. 29, juris).
Auch unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte ist vorliegend nicht davon auszugehen, dass die Ende Mai 2000 geborenen Klägerinnen in einem gesteigerten Maße darauf angewiesen sind, in der im Bundesgebiet befindlichen Kernfamilie aufzuwachsen. Das folgt zum einen daraus, dass sie bereits bei Stellung der Visumanträge über 14 Jahre alt waren. Unabhängig davon, dass die Klägerinnen im laufenden Kalenderjahr volljährig werden, befanden sie sich schon damals, und erst recht zum Zeitpunkt der Klageerhebung in einem Alter, das den vorliegenden Fall von dem durch das Bundesverwaltungsgericht gewürdigten Sachverhalt deutlich unterscheidet. Es kommt hinzu, dass die Klägerinnen in der Türkei ganz überwiegend nicht in der Kernfamilie aufgewachsen sind, zu der sie ihren Nachzug nunmehr begehren. Mit ihrem bereits seit den neunziger Jahren im Bundesgebiet lebenden Vater haben die Klägerinnen nie in familiärer Gemeinschaft zusammengelebt. Gleichermaßen trifft dies in Bezug auf ihre vier Geschwister zu. Ihre Mutter ist unter Zurücklassung der Klägerinnen in der Türkei zu deren Vater in das Bundesgebiet nachgezogen, als die Klägerinnen fünf Jahre alt waren. Aus Anlass der Befragung für den Kindernachzug ist im Visumsvorgang der Klägerin zu 1. vermerkt, dass beide Eltern alle 2-3 Jahre einmal in die Türkei reisen würden, um die Klägerinnen zu besuchen. Auch wenn dort gleichwohl vermerkt ist, dass täglich telefonischer Kontakt zu ihren Eltern bestünde, ist in der Gesamtbetrachtung davon auszugehen, dass die Klägerinnen in der Türkei bislang ganz überwiegend ohne ihre Eltern und Geschwister aufgewachsen sind.
Auch sonst sind keine Umstände ersichtlich, die die Annahme rechtfertigen würden, die Klägerinnen seien in besonderem Maße auf den von ihnen begehrten Zuzug angewiesen. Nach ihrem eigenen Vortrag sind ihre Großeltern, die zunächst ihre Betreuung in der Türkei übernommen hätten, bereits in den Jahren 2007 und 2012 verstorben. Soweit die Klägerinnen vorbringen, danach habe zeitweilig ein Onkel „gezwungenermaßen“ ihre Beaufsichtigung übernommen, dieser sei aufgrund erheblicher Spannungen jedoch nicht mehr bereit, die Klägerinnen zu betreuen, wird dieser Vortrag nicht näher substantiiert und erst Recht nicht glaubhaft gemacht. Auch widerspricht er den Angaben der Eltern der Klägerinnen in ihrer gegenüber dem Beigeladenen abgegebenen schriftlichen Erklärung vom 19. Februar 2015, die Klägerinnen seien in der Türkei auf sich allein gestellt. Sie würden ab und zu von den Nachbarn versorgt. Alle Verwandten seien in Deutschland, so dass eine Betreuung in der Heimat nicht stattfinden könne. Hiervon abgesehen befinden sich die Klägerinnen nunmehr in einem Alter, in dem allenfalls noch ein geringer ergänzender Betreuungsbedarf bestehen könnte. Mit Erreichen ihrer Volljährigkeit in etwa vier Monaten wird auch davon nicht mehr auszugehen sein.
Schließlich kommt hinzu, dass der nicht aus dem Einkommen des Vaters der Klägerinnen zu deckende Unterhaltsbedarf nach den nicht angegriffenen Berechnungen des Verwaltungsgerichts nicht unerheblich wäre, die Familie der Klägerinnen auch ohne deren Nachzug bereits auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen ist und Bemühungen der Mutter der Klägerinnen, ebenfalls zum Erwerbseinkommen der Familie beizutragen, nicht erkennbar sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 127 Abs. 4 ZPO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es wegen der gesetzlich bestimmten Festgebühr nicht.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).