Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 03.04.2014 | |
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Aktenzeichen | OVG 3 S 4.14 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 123 VwGO, § 81 Abs 4 S 2 AufenthG |
Das verfassungsrechtliche Verbot einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen ("echte Rückwirkung") steht der Anwendung der ab dem 6. September 2013 geltenden Fassung des § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG auf Altfälle entgegen.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 20. Dezember 2013 geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig eine Bescheinigung darüber auszustellen, dass das ihr am 6. Oktober 2011 erteilte Schengen-Visum bis zur Entscheidung über den im Dezember 2011 gestellten Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis als fortbestehend gilt.
Die Kosten der Beschwerde trägt der Antragsgegner.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
Die nach § 146 Abs. 4 VwGO eingelegte Beschwerde hat Erfolg. Das Beschwerdevorbringen, das nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO den Umfang der Überprüfung durch das Oberverwaltungsgericht bestimmt, führt zur Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses in dem tenorierten Umfang.
Das Verwaltungsgericht hat den auf Erteilung einer Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG gerichteten Hauptantrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO unter Bezugnahme auf den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg vom 12. November 2013 - 13 ME 190/13 - (juris) abgelehnt und ergänzend ausgeführt, dass der vorliegende Fall die typischen Merkmale einer illegalen Einreise unter Umgehung der Visavorschriften für den Ehegattennachzug aufweise. Das hiergegen gerichtete Vorbringen der Antragstellerin, die Ablehnung der Fiktionsbescheinigung sei mit „allgemeinen Vertrauensgrundsätzen“ unvereinbar, hat Erfolg.
Die mit Gesetz vom 29. August 2013 zur Verbesserung der Rechte von international Schutzberechtigten und ausländischen Arbeitnehmern (BGBl. I S. 3484) eingeführte Neuregelung des § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, derzufolge nach § 6 Abs. 1 AufenthG erteilte Schengen-Visa keine Fiktionswirkung auslösen können, ist vorliegend nicht anwendbar. Zwar enthält das Gesetz vom 29. August 2013 keine Übergangsregelung und ist im Aufenthaltsrecht grundsätzlich der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung in der Tatsacheninstanz für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgebend. Jedoch steht hier das aus den rechtsstaatlichen Grundsätzen des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit abzuleitende verfassungsrechtliche Verbot einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen („echte Rückwirkung“) der Anwendung der ab dem 6. September 2013 geltenden Fassung des § 81 AufenthG (s. hierzu Art. 7 des Gesetzes vom 29. August 2013) entgegen. Der Senat teilt nicht die Ansicht des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg in dem von dem Verwaltungsgericht angeführten Beschluss, das von einer tatbestandlichen Rückanknüpfung („unechte Rückwirkung“) ausgeht, so dass es auf die von dem Verwaltungsgericht hierzu angeführten Vertrauensschutzerwägungen nicht ankommt.
Eine grundsätzlich unzulässige „echte Rückwirkung“ liegt vor, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingreift. Dies ist der Fall, wenn für einen solchen Sachverhalt nachträglich andere - nachteiligere - Rechtsfolgen gelten als nach dem zuvor geltenden Recht, etwa wenn ein bereits entstandenes Aufenthaltsrecht nachträglich wegfiele, so dass der betroffene Zeitraum als Zeit eines nicht rechtmäßigen Aufenthalts zu behandeln wäre (BVerwG, Urteil vom 10. Dezember 2013 - 1 C 1.13 -, juris Rn. 15 m.w.N.).
Die Antragstellerin hatte spätestens mit Anwaltsschreiben vom 15. Dezember 2011 einen Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug gestellt. Zu diesem Zeitpunkt war das ihr nach § 6 Abs. 1 AufenthG zum Besuch ihrer Schwester erteilte und bis zum 12. Januar 2012 gültige Visum noch nicht abgelaufen. Dies hatte zur Folge, dass das Visum ab dem 13. Januar 2012 als fortbestehend galt und den Aufenthalt der Antragstellerin (weiterhin) legalisierte. Entgegen der Bezeichnung in der amtlichen Begründung (BT Drs. 17/13536) ist die mit Gesetz vom 29. August 2013 eingeführte Fassung des § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG keine bloße Klarstellung. Denn nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck des § 81 Abs. 4 AufenthG a.F. gehörte zu den Aufenthaltstiteln auch ein nach § 6 Abs. 1 AufenthG erteiltes Visum (ebenso: Oberverwaltungsgericht Lüneburg, Beschluss vom 31. Oktober 2011 - 11 ME 315.11 - juris Rn. 5 m.w.N.; Verwaltungsgerichtshof München, Beschluss vom 21. Februar 2013 - 10 CS 12.2679 - juris Rn. 8 ff). Dies wird insbesondere vor dem Hintergrund deutlich, dass nach Art. 33 Verordnung (EG) Nr. 810/2009 - Visakodex - auch ein von einem anderen Schengen-Staat erteiltes Visum durch den Mitgliedstaat verlängert werden kann, in dessen Hoheitsgebiet sich der Drittstaatsangehörige zum Zeitpunkt der Beantragung der Verlängerung aufhält, und zwar gemäß Art. 25 Visakodex auch als nationales Visum, wie die Regelung des § 6 Abs. 2 Satz 2 AufenthG klarstellt.
Mithin fiele die seit Dezember 2011 aufgrund des Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug bis zur Entscheidung durch die Ausländerbehörde bestehende Fiktion eines rechtmäßigen Aufenthaltes nachträglich weg, wenn wegen der seit dem 6. September 2013 geltenden Fassung des § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG das der Antragstellerin erteilte Schengen-Visum die Fiktionswirkung nicht mehr auslösen könnte. Anders als bei der „unechten“ Rückwirkung wirkt die Neuregelung des § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG nicht nur für die Zukunft auf den - fortbestehenden - Aufenthalt der Antragstellerin ein und bewertet diesen nachteiliger als das zuvor geltende Recht. Vielmehr würde bei Anwendung der Neuregelung in das allein durch den Verlängerungsantrag erworbene und kraft Gesetzes bis zur Entscheidung durch die Ausländerbehörde fortbestehende vorläufige Aufenthaltsrecht rückwirkend eingegriffen und der Antragstellerin die bereits erworbene Rechtsposition mit für sie nachteiligen Folgen - z.B. bei der Beantragung vorläufigen Rechtsschutzes nach Versagung der Aufenthaltserlaubnis - entzogen.
Das Bestehen eines Anordnungsgrundes ist jedenfalls deshalb zu bejahen, weil die Antragstellerin ohne die mit der Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG dokumentierte Rechtmäßigkeit ihres Aufenthalts im privaten und behördlichen Rechtsverkehr erheblichen Nachteilen ausgesetzt ist.
Wegen des Erfolges des Hauptantrages kommt es auf den hilfsweise gestellten Antrag, die Antragstellerin vorläufig nach § 60 a AufenthG zu dulden, nicht an.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und2, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).