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Multiple-Sklerose - Off-Label-Use - Immunglobuline


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 9. Senat Entscheidungsdatum 02.11.2011
Aktenzeichen L 9 KR 284/11 B ER ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 15 SGB 5, § 27 SGB 5

Leitsatz

Ein Anspruch auf Einsatz von Immunglobulinen zur Behandlung der schubweise auftretenden Multiplen Sklerose im Rahmen eines ausnahmsweise zulässigen Off-Label-Use scheitert auch weiterhin daran, dass auf Grund der Datenlage keine begründete Aussicht besteht, dass mit den Präparaten dieser Arzneimittelgruppe ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.

Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 2011 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 2011 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat rechtsfehlerfrei den Antrag der Antragstellerin, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, sie von den Kosten für die ab 10. Mai 2011 erfolgte Behandlung mit Immunglobulin freizustellen und sie für die Zukunft mit ärztlich verordnetem Immunglobulin zur Behandlung der Multiplen Sklerose zu versorgen, abgelehnt.

1.) Soweit die Antragstellerin die Erstattung der ihr für die Beschaffung von Immunglobulinen bis zur Entscheidung des Senats entstandenen Kosten begehrt, fehlt ihr schon ein Anordnungsgrund. In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung. Dies folgt daraus, dass ein Anordnungsgrund ein eiliges Regelungsbedürfnis erfordert, das regelmäßig nur für die Zukunft besteht. Dies bedeutet aber zugleich, dass die Bejahung eines Anordnungsgrundes grundsätzlich ausscheidet, soweit Leistungen für die Vergangenheit begehrt werden. Das Gebot des effektiven Rechtsschutzes nach Artikel 19 Abs. 4 GG kann zwar in besonderen Fällen ausnahmsweise auch die Annahme eines Anordnungsgrundes für zurückliegende Zeiträume gebieten, wenn andernfalls bis zur Entscheidung im Verfahren der Hauptsache Fakten zum Nachteil des Rechtsschutzsuchenden geschaffen worden sind, die sich durch eine – stattgebende – Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht oder nicht hinreichend rückgängig machen lassen. Derartige Umstände sind hier nicht ersichtlich. Insbesondere ist es nicht Aufgabe des vorläufigen Rechtsschutzes in Verfahren wie dem vorliegenden, Rechtsschutzsuchenden die Mittel zur Begleichung von in der Vergangenheit entstandenen privaten Schulden zu beschaffen (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Beschluss vom 30. Januar 2008, - L 9 B 600/07 KR ER -, zitiert nach juris). Von der Antragstellerin (für bereits abgelaufenen Zeiträume) gegenüber Dritten eingegangene Verbindlichkeiten begründen grundsätzlich selbst dann keine wesentlichen Nachteile i. S. d. § 86 b Abs. 2 SGB V, wenn sie ihr (aktuelles) Leistungsvermögen übersteigen sollten. Soweit die Gläubiger nicht bereit sein sollten, der Antragstellerin die geschuldeten Zahlungen bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache zu stunden, wird diese durch §§ 708 ff. und 850 ff. Zivilprozessordnung (ZPO) ausreichend geschützt. Denn § 86 b Abs. 2 SGG bezweckt grundsätzlich nicht, den durch diese Schuldnerschutzvorschriften gewährten Schutz des Vermögens der Antragstellerin zu erweitern.

2.) Den Anspruch der Antragstellerin, sie in Zukunft mit ärztlich verordnetem Immunglobulin zur Behandlung der Multiplen Sklerose zu versorgen, hat das Sozialgericht zutreffend wegen Fehlens eines Anordnungsanspruchs abgelehnt. Der Senat nimmt insoweit zur weiteren Begründung seiner Entscheidung zur Vermeidung von Wiederholungen auf die außerordentlich sorgfältige Begründung des angefochtenen sozialgerichtlichen Beschlusses Bezug, in der sich das Sozialgericht mit nahezu allen für den Fall maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Problemen in jeder Weise zutreffend und überzeugend auseinander gesetzt hat, und macht sich diese Begründung für das Beschwerdeverfahren zu eigen (§ 142 Abs. 2 Satz 3 SGG). Denn mit der Begründung der Beschwerde werden keine Gesichtspunkte vorgetragen, die eine andere Entscheidung gebieten würden.

a) Insbesondere scheitert ein Einsatz von Immunglobulinen zur Behandlung der bei der Antragstellerin schubweise auftretenden Multiplen Sklerose im Rahmen eines ausnahmsweise zulässigen Off-Label-Use schon daran, dass auf Grund der Datenlage keine begründete Aussicht besteht, dass mit dem der Antragstellerin verordneten Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann. Insoweit nimmt der Senat ergänzend auf das Urteil des 7. Senats des LSG Berlin- Brandenburg vom 14. September 2009 (L 7 KA 135/06, zitiert nach juris) Bezug, dessen Ausführungen zu dieser Voraussetzung eines zulässigen Off-Label-Use auch für den vorliegenden Fall weiter Geltung beanspruchen können. Aus dem Urteil des 1. Senats des LSG Berlin vom 15. April 2011 (L 1 KR 326/08, zitiert nach juris) hingegen kann die Antragstellerin keine für ihren Fall günstigen Schlussfolgerungen ableiten. Denn dieser Fall betraf eine atypisch schwere Erkrankung an Multipler Sklerose, die hier bei den von der Antragstellerin geschilderten Beschwerden (allgemeine Körperschwäche, rasche Erschöpftheit, unzureichende Belastbarkeit sowie Sprech-, Gang- und Sensibilitätsstörungen) mit einem EDSS-Grad von 1 bis 3,5 evident nicht gegeben ist; der 1. Senat hat seine zusprechende Entscheidung außerdem mit dem Vorliegen einer notstandsähnlichen Situation nach Art der Nikolaus-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 6. Dezember 2005 [Nikolausbeschluss], 1 BvR 347/98, BVerfGE 115, S. 25 = NJW 2006, S. 891) begründet, wie auch der bei juris veröffentlichte Leitsatz zeigt, die hier ebenfalls nicht gegeben ist. Soweit der 1. Senat in der zitierten Entscheidung aus dem Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA) vom 7. Dezember 2010, ein Stellungnahmeverfahren zur Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) in Anlage VI – Off-Label-Use Intravenöses Immunglobulin G (IVIG) im Anwendungsgebiet Multiple Sklerose – einzuleiten, herleiten wollte, dass die Behandlung der Multiplen Sklerose mit Immunglobulinen begründete Erfolgschancen habe, wird er durch die tragenden Gründe dieses Beschlusses des GBA und der darin in Bezug genommenen Äußerungen der Expertengruppe des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) widerlegt, wie das Sozialgericht in dem angefochtenen Beschluss zutreffend dargelegt hat: Die Datenlage für den Einsatz der Immunglobuline bei Multipler Sklerose wird vom Unterausschuss „Arzneimittel“ des GBA als so schlecht eingeschätzt, dass dieser die Aufnahme der intravenös verabreichten Immunglobuline G (IVIG) im Anwendungsgebiet Multiple Sklerose in die Anlage VI AM-RL Teil B vorschlägt, in der die Wirkstoffe aufgeführt sind, die in zulassungsüberschreitenden Anwendungsgebieten (Off-Label-Use) nicht verordnungsfähig sind. Die Richtigkeit dieser Einschätzung wird nicht zuletzt durch die von der Antragstellerin zur Begründung eines Anspruchs auf Einsatz von Immunglobulinen zur Behandlung ihrer Erkrankung vorgelegten Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie „Diagnostik und Therapie der Multiplen Sklerose“ (Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie; 4. überarbeitete Auflage 2008, S. 654 ff, ISBN 978-3-13-132414-6; Georg Thieme Verlag Stuttgart) bestätigt, in der es zur Studienlage unter Ziff. 5.2.4 „Intravenöse Immunglobuline (IVIG)“ u.a. heißt: „Kürzlich publizierte Studien mit verblindetem Design bei schubförmiger MS (PRIVIG) bzw. progredient verlaufender MS (Hommes et al. 2004, Pohlau et al. 2007) (Sponsoren: BayerHealthCare, Talecris) verfehlten die primären und meisten der sekundären Endpunkte“.

b) Davon unabhängig fehlt ein Anordnungsanspruch auch deshalb, weil die Antragstellerin keine in die Zukunft reichende ärztliche Verordnung vorgelegt und ihr Begehren zumindest nicht für eine angegebene Einnahmedauer konkretisiert hat. Diese Voraussetzungen sind schlechthin konstituierend für einen krankenversicherungsrechtlichen Anspruch auf Versorgung mit einem bestimmten Arzneimittel aus § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V). Fehlt eine (gültige) ärztliche Verordnung für den Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung und für die Zukunft, besteht kein materiell-rechtlicher Anspruch auf das begehrte Medikament.

Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB V wird die ärztliche Behandlung von Ärzten erbracht. Sind Hilfeleistungen anderer Personen erforderlich, dürfen sie grundsätzlich nach § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB V nur erbracht werden, wenn sie vom Arzt angeordnet und von ihm verantwortet werden. Nach § 73 Abs. 2 Nr. 7 SGB V umfasst die (vertrags-)ärztliche Versorgung auch die Verordnung von Arzneimitteln; schon nach dem Wortlaut der Vorschrift ist danach eine ärztliche Verordnungen auch für die Versorgung mit Arzneimitteln erforderlich. Erst durch diese ärztliche Verordnung wird das dem Versicherten durch §§ 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB V gewährte Rahmenrecht auf Versorgung mit Arzneimitteln zu einem Anspruch auf die vom Vertragsarzt bestimmten Arzneimittel konkretisiert. Die Verordnung ist deshalb keine formelle Leistungsvoraussetzung, sondern materielle Anspruchvoraussetzung. Daraus folgt, dass dem Versicherten ohne eine (ordnungsgemäße) ärztliche Verordnung (noch) kein Anspruch auf das begehrte Medikament zusteht (so allgemein zum Anspruch des Versicherten für alle krankenversicherungsrechtlichen Leistungen: BSG, 1. Senat, Urteil vom 9. Juni 1998, B 1 KR 18/96 R [Kunsthoden] sowie für die Arzneimittelversorgung auch 3. Senat, Urteil vom 17. Dezember 2009, B 3 KR 13/08 R, jeweils zitiert nach juris).

Der Senat hat davon abgesehen, die Antragstellerin auf diesen Grund für die Zurückweisung ihrer Beschwerde hinzuweisen und ihr Gelegenheit zur Vorlage einer ärztlichen Verordnung zu geben, weil die Beschwerde - unabhängig davon - schon aus den anderen oben dargelegten Gründen erfolglos bleiben musste.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundssozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).