Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 5. Senat | Entscheidungsdatum | 11.11.2011 | |
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Aktenzeichen | L 5 SF 310/11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 57 Abs 1 S 1 SGG, § 58 Abs 1 Nr 4 SGG, § 98 SGG, § 17a Abs 2 S 3 GVG |
Ein Verweisungsbeschlusses ist ausnahmsweise nicht bindend, wenn er offensichtlich unhaltbar begründet ist. In einem solchen Fall ist der Antrag auf Bestimmung des zuständigen Gerichts ausnahmsweise auch dann zulässig, wenn das Gericht, an welches die Sache verwiesen worden ist, sich nicht selbst für unzuständig erklärt und die Sache zurückverwiesen hat.
Ein Gericht kann seine örtliche Zuständigkeit nicht mehr der Begründung verneinen, der Kläger habe seinen Beschäftigungsort nicht durch Vorlage des Arbeitsvertrages oder eines entsprechenden Nachweises glaubhaft gemacht. Dies gilt insbesondere dann, wenn sich derartige Unterlagen bei den vom Gericht nicht angeforderten Verwaltungsvorgängen befinden.
Zum zuständigen Gericht wird das Sozialgericht Berlin bestimmt.
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 15. Dezember 2010 wird aufgehoben.
I.
Ziel des vorliegenden Verfahren ist die Feststellung des nach § 57 Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) örtlich zuständigen Gerichts.
In der Hauptsache sind zwischen den Beteiligten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) streitig, insbesondere die Übernahme einer Mietkautionszahlung durch den Beklagten.
In seiner am 12. August 2010 zum Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat der Kläger unter anderem ausgeführt, „der Weg zur Arbeit (8 Std. pro Woche)“ verlängere sich durch den Umzug nicht. Mit Schreiben vom 19. August 2010 hat das Sozialgericht Berlin dem Kläger mitgeteilt, dass es wohl unzuständig sei. Gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG sei das Sozialgericht zuständig, in dessen Bezirk der Kläger zur Zeit der Klageerhebung seinen Sitz oder Wohnsitz habe; stehe er in einem Beschäftigungsverhältnis, so könne er auch vor dem für den Beschäftigungsort zuständigen Sozialgericht klagen. Die Kammer hat den Kläger aufgefordert mitzuteilen, ob er sich derzeit in einem Beschäftigungsverhältnis in Berlin befinde. Sofern dies nicht der Fall sei, beabsichtige das Gericht, den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Sozialgericht Cottbus zu verweisen. Nachdem der Kläger sich zunächst innerhalb der ihm insoweit gesetzten Frist nicht geäußert und auch auf eine Erinnerung nicht reagiert hatte, hat er vor Ablauf der ihm letztmalig gesetzten Frist zunächst am 4. und nochmals am 9. November 2010 per E-Mail geantwortet, er habe schon zweimal vergeblich versucht, auf dem Postweg mitzuteilen, dass er eine Beschäftigung in Berlin-Mariendorf habe und 200 Euro im Monat verdiene. Daraufhin ist er unter dem 10. November 2010 aufgefordert worden, den Arbeitsvertrag oder eine andere Bescheinigung über das Beschäftigungsverhältnis auf dem Postweg zu übersenden. Nachdem bis zum 15. Dezember 2010 kein Posteingang erfolgt war, hat das Sozialgericht Berlin sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Cottbus verwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, das Sozialgericht Cottbus sei örtlich zuständig, denn der Kläger habe zur Zeit der Klageerhebung seinen Wohnsitz im Bezirk dieses Gerichts gehabt und ein Beschäftigungsverhältnis im Gerichtsbezirk Berlin nicht glaubhaft gemacht. Der vom 15. Dezember 2010 datierende Beschluss ist dem Beklagten am 28. Dezember 2010, dem Kläger hingegen erst am 28. Februar 2011 zugestellt worden.
Mit Beschluss vom 29. Juni 2010 hat das Sozialgericht Cottbus das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg ersucht, das örtlich zuständige Sozialgericht zu bestimmen. Zur Begründung hat die Kammer ausgeführt, zur Zeit der Klageerhebung sei der Kläger, wofür es in den vom Sozialgericht Berlin nicht beigezogenen Verwaltungsvorgängen auch Nachweise gebe, in Berlin beschäftigt gewesen. Darauf habe er auch ausdrücklich hingewiesen. Das Ersuchen an das nächsthöhere gemeinsame Gericht setze im vorliegenden Fall nicht voraus, dass das Sozialgericht Cottbus sich zunächst für örtlich unzuständig erkläre, denn es fühle sich an die Verweisung des Sozialgerichts Berlin nicht gebunden. Dieses sei gemäß § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG örtlich zuständig; der Kläger habe das ihm zustehende Wahlrecht durch die Klageerhebung in Berlin ausgeübt. Die Verweisung sei willkürlich gewesen. Die an den Kläger ergangene Aufforderung, seine Beschäftigung durch Übersendung des Arbeitsvertrags nachzuweisen, sei weder notwendig noch sinnvoll gewesen, allenfalls hätte ein Nachweis über den Beschäftigungsort gefordert werden können. Aus der mangelnden Übersendung des Arbeitsvertrags ließen sich keine Schlüsse ziehen, zumal sich der Beschäftigungsort bereits aus den Verwaltungsvorgängen ergebe.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten verwiesen, der Gegenstand von Beratung und Entscheidung gewesen ist.
II.
Zum für das Verfahren örtlich zuständigen Gericht ist das Sozialgericht Berlin zu bestimmen, da der Kläger es nach § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG gewählt hat und die Verweisung an das Sozialgericht Cottbus nicht bindend ist. Die Aufhebung des Verweisungsbeschlusses vom 15. Dezember 2010 dient der Klarstellung.
Nach § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGG ist das gemeinsame nächsthöhere Gericht zur Bestimmung des zuständigen Gericht berufen, wenn sich in einem Rechtsstreit verschiedene Gerichte, von denen eines für den Rechtsstreit zuständig ist, rechtskräftig für unzuständig erklärt haben (sogenannter negativer Kompetenzkonflikt). Das angerufene Gericht ist das für die Sozialgerichte Berlin und Cottbus gemeinsame nächsthöhere Gericht. Dass das Sozialgericht Cottbus sich seinerseits nicht für unzuständig erklärt und den Rechtsstreit auch nicht an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen hat, steht der Zulässigkeit des Antrags auf Bestimmung des zuständigen Gerichts nicht entgegen. Das Sozialgericht Cottbus, das den Verweisungsbeschluss für willkürlich hält und sich deshalb trotz der grundsätzlich nach § 98 SGG i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) bestehenden Bindungswirkung ausnahmsweise nicht an ihn gebunden sieht, betrachtet das Sozialgericht Berlin weiterhin als zuständig. Es konnte daher von einem eigenen Verweisungsbeschluss absehen und von seiner Unzuständigkeit ausgehend unmittelbar das Landessozialgericht zur Bestimmung des zuständigen Gerichts anrufen vgl. Bundessozialgericht [BSG], Beschlüsse vom 10. März 2010, B 12 SF 2/10 S, und vom 27. Mai 2004, B 7 SF 6/04 S, beide zitiert nach juris; Breitkreuz/Fichte/Breitkreuz, SGG, 2008, § 58 Rdnr. 6).
Das in § 98 SGG i.V.m. § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG niedergelegte und oben bereits genannte Prinzip, demzufolge ein Beschluss, der ein Verfahren wegen örtlicher oder sachlicher Zuständigkeit an ein anderes Gericht verweist, bindend ist, liegt auch der Regelung des § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGG zugrunde. Die Regelung dient der Prozessökonomie und dem Rechtsfrieden, indem sie sogenannte "Kettenverweisungen" verhindert (vgl. BSG, Beschluss vom 8. Mai 2007, B 12 SF 3/07 S, zitiert nach juris). Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses wird deshalb nur durchbrochen, wenn er willkürlich bzw. grob verfahrensfehlerhaft ist oder wenn die Voraussetzungen des § 58 Abs. 1 Nr. 1 SGG vorliegen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 58 Rdnr. 2f und § 98 Rdnr. 9). Der höchstrichterlichen Rechtsprechung zufolge entfällt die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses jedenfalls dann, wenn er offensichtlich unhaltbar, objektiv unverständlich oder unsachlich ist bzw. auf einem nicht mehr zu rechtfertigenden Verhalten des Gerichts beruht (vgl. BSG, Beschlüsse vom 9. März 2010, B 12 SF 1/10 S m.w.N., und vom 8. Mai 2007, B 12 SF 3/07 S, beide zitiert nach juris; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 58 Rdnr. 2f). Dies ist hier der Fall.
Das Sozialgericht Berlin hat seinen Beschluss offensichtlich unhaltbar damit begründet, dass der Kläger ein Beschäftigungsverhältnis im Gerichtsbezirk Berlin nicht glaubhaft gemacht habe. Zu Recht hat das Sozialgericht Cottbus darauf hingewiesen, dass sich das Erfordernis der Glaubhaftmachung nicht aus § 57 Abs. 1 Satz 1 SGG ergibt. Danach ist grundsätzlich das Sozialgericht zuständig, in dessen Bezirk der Kläger seinen Sitz oder Wohnsitz oder in Ermangelung dessen seinen Aufenthaltsort hat; steht er in einem Beschäftigungsverhältnis, so kann er auch vor dem für den Beschäftigungsort zuständigen Sozialgericht klagen. Der in Berlin-Mariendorf als Aushilfskoch beschäftigte Kläger wählte das Sozialgericht Berlin, indem er dort Klage erhob. Er teilte dem Gericht auf Nachfrage auch mit, dass er im Zeitpunkt der Klageerhebung in Berlin in einem Beschäftigungsverhältnis stand, also das Recht hatte, zwischen dem für seinen Wohnort zuständigen Sozialgericht und dem für seinen Beschäftigungsort zuständigen Sozialgericht zu wählen. Dass die Kammer Zweifel an der Richtigkeit der Angaben des Klägers gehabt und damit Anlass bestanden hätte, ihn zur Glaubhaftmachung aufzufordern, ist nicht erkennbar; das Sozialgericht Berlin hat insoweit auch nichts in den Akten vermerkt, geschweige denn in dem Verweisungsbeschluss ausgeführt. Der Vorlage des von der Kammer angeforderten Arbeitsvertrags oder einer anderen Bescheinigung über das Beschäftigungsverhältnis bedurfte es im Übrigen schon deshalb nicht, weil sich entsprechende Nachweise in den vom Sozialgericht Berlin aus unbekannten Gründen nicht beigezogenen Verwaltungsvorgängen befinden.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.