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Türkische Familie; Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis; Sicherung des Lebensunterhalts; Ausnahmefall; dauerhafte schwere Krankheit; Ausfall der Sicherung des Lebensunterhalts; Einzelfallprüfung; vorläufiger Rechtsschutz und PKH; Stattgabe


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 7. Senat Entscheidungsdatum 27.03.2013
Aktenzeichen OVG 7 S 13.13, OVG 7 M 19.13 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG, § 31 Abs 4 S 2 AufenthG, Art 6 GG, Art 8 MRK, § 146 VwGO, § 166 VwGO, § 114ff ZPO

Tenor

Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 20. November 2012 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage VG 24 K 244.12 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 4. Juli 2012 wird angeordnet.

Den Antragstellern wird unter Beiordnung von Rechtsanwalt R. St. Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung für das erstinstanzliche und das Beschwerdeverfahren bewilligt.

Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner. Außergerichtliche Kosten der Beschwerde wegen der Versagung der Prozesskostenhilfe werden nicht erstattet.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes für das vorläufige Rechtsschutzverfahren wird auf 7.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Die rechtzeitig erhobene und begründete Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 20. November 2012, mit dem ihre Anträge auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Ablehnung der Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis und die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Antragsgegners vom 4. Juli 2012 sowie auf Gewährung von Prozesskostenhilfe zurückgewiesen worden sind, hat Erfolg.

1. Die Beschwerde der Antragsteller gegen die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes ist auf der nach § 146 Abs. 4 Satz 3 und 6 VwGO maßgeblichen Grundlage ihres Beschwerdevorbringens begründet. Denn dieses zeigt ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids auf, deren Klärung dem Hauptsacheverfahren vorzubehalten ist, und die seine sofortige Vollziehung derzeit nicht zulassen.

Die Antragsteller machen u.a. geltend, es lägen gewichtige Gründe dafür vor, vorliegend von einem „atypischen Fall“ auszugehen, der die Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 31 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ungeachtet dessen zulässt, dass die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG, wonach der Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel gesichert sein muss, nicht erfüllt ist. Insoweit sei insbesondere zu berücksichtigen, dass eines der Familienmitglieder - hier ist das der Antragsteller zu 3. - aufgrund seiner Pflegebedürftigkeit selbst nicht zur Lebensunterhaltssicherung beitragen könne und sogar zusätzliche Zeit der anderen Familienmitglieder in Anspruch nehme, die für die Ausübung einer Beschäftigung durch diese fehle. Wenn auch im Rahmen der Rüge eines Verstoßes gegen Art. 8 EMRK machen die Antragsteller zudem geltend, zu berücksichtigen sei ferner der über 20-jährige Aufenthalt der Antragstellerin zu 1. im Bundesgebiet und außerdem die hiesige Geburt des Antragstellers zu 2.

Mit diesem Vorbringen beanstanden die Antragsteller sowohl in rechtlicher wie auch in tatsächlicher Hinsicht zureichend die Annahme des Verwaltungsgerichts, ein Ausnahmefall von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sei auch nicht aufgrund höherrangigen Rechts wie etwa nach Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK geboten. Ob dem im Ergebnis zu folgen ist, erscheint angesichts der Besonderheiten des vorliegenden Falles jedoch zweifelhaft und bedarf einer im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht zu leistenden näheren Prüfung.

Insoweit ist zunächst darauf zu verweisen, dass vom Regelerfordernis der Lebensunterhaltssicherung insbesondere dann ausnahmsweise abzusehen ist, wenn besondere atypische Umstände vorliegen, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG beseitigen, aber auch dann, wenn höherrangiges Recht wie der Schutz von Ehe und Familie oder die unionsrechtlichen Vorgaben der Familienzusammenführungsrichtlinie - Richtlinie 2003/86/EG - es gebieten (BVerwG, Urteil vom 16. November 2010 - 1 C 20.09 -, BVerwGE 138, 135, juris Rz. 28). Zu berücksichtigen sind dabei nicht nur die aktuelle wirtschaftliche und soziale Integration, sondern auch die Dauer des hiesigen Aufenthalts der einzelnen Mitglieder der Familie und deren Möglichkeiten, im Ausland zu leben (Rz. 31).

Dies zugrunde legend, kommt das Vorliegen eines Ausnahmefalls hier ernstlich in Betracht:

Insoweit ist zunächst zu berücksichtigen, dass der Antragsteller zu 3., der inzwischen seit zwölf Jahren in Deutschland lebt und dessen unmittelbar nach Einreise eingeleitetes Asylverfahren erst im April negativ 2010 rechtskräftig abgeschlossen und dem Ende 2010 ein Aufenthaltserlaubnis als Ehegatte der Antragstellerin zu 1. bis zum Mai 2012 erteilt worden war, aufgrund schwerwiegender Krankheiten ersichtlich nicht oder zumindest nicht nennenswert zum Lebensunterhalt der Familie beitragen kann. Ausweislich des Attestes des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie K... vom 7. Juni 2012 leidet er seit 1996 an der juvenilen Parkinson Krankheit, wobei es sich um eine chronische und fortschreitende Erkrankung mit erheblicher Störung der Beweglichkeit handele. Da die medikamentöse Behandlung nicht ausgereicht habe, seien ihm bereits Mai 2009 bilateral Stimulationselektroden implantiert worden. Zudem erhalte er weiterhin Medikamente. Zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit sei er nicht in der Lage. Letzteres wird zumindest tendenziell auch durch ein schon ein Jahr zuvor erstelltes Gutachten des ärztlichen Dienstes der Bundesagentur für Arbeit vom 15. Juni 2011 belegt. Danach könne er nur Tätigkeiten mit einer täglichen Arbeitszeit von weniger als drei Stunden ausüben, wobei die maximale körperliche Arbeitsschwere „ständig leicht“ und die Körperhaltung „überwiegend sitzend“ sein müsse. Auszuschließen seien eine Vielzahl, dort im einzelnen genannter Tätigkeiten. Wegen der Schwere der Erkrankungen und der erforderlichen Behandlungsbedürftigkeit sei er auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht leistungsfähig. Für den Antragsteller zu 3. ist bezüglich diverser Aufgabenkreise seitens des Amtsgerichts Schöneberg am 28. Oktober 2011 ferner ein Betreuer bestellt worden. Zugrunde lag dem ein Gutachten des Facharztes für Psychiatrie K... vom 14. August 2011. Danach liege eine Parkinsonsche Erkrankung vor, die nicht nur mit körperlicher Behinderung einhergehe, sondern auch als psychische Erkrankung gewertet werden müsse. Er leide krankheitsassoziiert unter einer organisch affektiven Störung (ICD-10: F06.3) mit depressiver, zeitweise auch mit maniformer Symptomatik. Behandlungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten der Parkinson-Erkrankung seien ausgeschöpft. Der seit 2006 als zu 80 % schwerbehindert anerkannte Antragsteller zu 3. erhält im Übrigen seit Juni 2011 Pflegegeld der Stufe 1, was das Beschwerdevorbringen der Inanspruchnahme der anderen Familienmitglieder für seine Betreuung zu unterstützen geeignet erscheint.

Der im April 2002 in Deutschland geborene Antragsteller zu 2. ist durchweg hier aufgewachsen und geht zur Schule. Aufgrund seines Alters kann er naturgemäß zum Lebensunterhalt der Familie nichts beitragen.

Die 1974 geborene türkische Antragstellerin zu 2. hat nach ihrer Einreise zu ihrem ersten Ehemann im Juli 1993 inzwischen den überwiegenden Teil ihres Lebens in Deutschland verbracht. Sie lebt zumindest seit Anfang 2002 in familiärer Gemeinschaft mit dem Antragsteller zu 3. und dem gemeinsamen, kurze Zeit später geborenen Antragsteller zu 2. Zwar hat sie ausweislich des vorliegenden Versicherungsverlaufs der Deutschen Rentenversicherung zumindest ab Anfang Januar 2005 bis Ende 2008 fortlaufend ALG II-Leistungen bezogen, war anschließend bis Ende Oktober 2009 und sodann von Mitte April 2010 bis Mitte Februar 2011 berufstätig und hat schließlich nach weiterem ALG II-Bezug erst am 1. Juli 2012 ihre derzeitige Vollzeittätigkeit als Reinigungskraft aufgenommen. Diese reichten unstreitig zwar zur Bestreitung ihres eigenen, aber nicht des familiären Lebensunterhalts aus. Gleichwohl ist zum einen zu beachten, dass ihr trotz langjährigen Bezugs von Sozialhilfe und ALG II stets ihr Aufenthaltsrecht verlängert wurde und zwar auch noch nach Inkrafttreten des AufenthG zum 1. Januar 2005. So ist bei Verlängerung ihrer Aufenthaltserlaubnis am 1. Juni 2006 für zwei Jahre ausdrücklich vermerkt: „Fr. A... wurde bisher der Sozialhilfebezug nie vorgehalten. Die AE wurde immer verlängert. Es wäre jetzt eine unbillige Härte die AE nicht zu verlängern.“ Auch im November 2008 folgte eine einjährige Verlängerung ihres Aufenthaltsrechts, obwohl ihre seinerzeitige Tätigkeit nicht ausreichte, den familiären Lebensunterhalt zu decken, und ergänzende SGB II-Leistungen in Anspruch genommen wurden. Nichts anderes galt finanziell ferner für die (letzte) Verlängerung im Mai 2010 für die Dauer von zwei Jahren, mag dabei auch der Umstand maßgeblich gewesen sein, dass seinerzeit das Vorliegen eines Anspruchs nach Art. 6 ARB 1/80 zugrunde gelegt wurde. Zum anderen ist aber auch zu berücksichtigen, dass die - wohl auch ungelernte - Antragstellerin zu 3. angesichts der schwierigen familiären Situation mit einem arbeitsunfähigen, schwer kranken und pflegebedürftigen Ehemann und einem knapp elfjährigen Sohn kaum in der Lage sein dürfte, allein und vollständig den Lebensunterhalt der Familie zu bestreiten. Solange sie hierzu nach Kräften beiträgt, was für die Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu beobachten sein wird und abzuwarten bleibt, kommt die Annahme eines Ausnahmefalles zumindest ernsthaft in Betracht.

Wenn der Antragsgegner sich für seine abweichende Auffassung, die Krankheit eines Ausländers könne einen atypischen Fall im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG (grundsätzlich) nicht begründen, auf ein Urteil des 2. Senats vom 21. Mai 2012 beruft, ist dem entgegenzuhalten, dass es dort um die Erteilung eines Visums zum Ehegattennachzug ging, während es hier um die Verlängerung des Aufenthalts schon lange Jahre, teils Jahrzehnte hier lebender Ausländer geht. Würde man in solchen Fällen die dauerhafte schwere Erkrankung eines Familienmitglieds und dessen Ausfall für die Sicherung des Lebensunterhalts einer Familie auch mit minderjährigen Kindern generell unberücksichtigt lassen, wäre das mit der eingangs zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts und der hiernach notwenigen Einzelfallprüfung unter Beachtung höherrangigen Rechts kaum vereinbar (vgl. hierzu auch BVerfG, Beschluss vom 21. Februar 2011 - 2 BvR 1392.10 -, juris Rz. 18 ff.).

2. Im Hinblick hierauf und angesichts der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Antragsteller, die ihnen die Aufbringung der Kosten der Prozessführung nicht ermöglichen, ist gemäß § 166 VwGO i.V.m. §§ 114 und 121 ZPO unter Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten auch Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlungsverpflichtung für das erstinstanzliche und das Beschwerdeverfahren zu bewilligen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 127 Abs. 4 ZPO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).