Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat | Entscheidungsdatum | 11.04.2013 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | L 13 SB 279/10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 69 SGB 9, § 145 SGB 9, § 2 VersMedV |
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. September 2010 wird zurückgewiesen.
Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beteiligten streiten über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr).
Die 1949 geborene Klägerin, bei der 2004 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 festgestellt worden war, beantragte bei dem Beklagten am 7. Juli 2006 die Heraufsetzung des GdB und die Zuerkennung des Merkzeichens „G“. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten Befundberichte lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 29. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2007 sowohl die Erhöhung des GdB als auch die Anerkennung des Merkzeichens „G“ ab. Dieser Entscheidung legte er die folgenden (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:
a) Leberzirrhose bei Genussmittelmissbrauch (30),
b) Bauchwandhernie, mehrfach operativ behandelt, Rezidivblutung (20),
c) Wirbelsäulen-Funktionsstörungen (20),
d) Ulcus ulnaris Syndrom, zweimal operative Behandlung (10),
e) Diabetes mellitus (10),
f) Bluthochdruck, rezidivierende Herzrhythmusstörungen (10),
g) Verlust der Milz (10).
Mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage hat die Klägerin die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ begehrt.
Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Allgemeinmediziners Dr. L vom 30. Dezember 2009 eingeholt, der nach Untersuchung der Klägerin den Gesamt-GdB auf 70 eingeschätzt, die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ jedoch verneint hat. Dem Gutachter folgend hat das Sozialgericht die Klage mit Urteil vom 20. September 2010 abgewiesen
Mit der Berufung gegen diese Entscheidung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie verweist unter Einreichung medizinischer Unterlagen darauf, dass ihr Gehvermögen insbesondere durch die erhebliche und offenbar irreparable Bauchwandschwäche negativ beeinflusst werde.
Der Senat hat das Gutachten des Allgemeinmediziners Dr. B vom 21. Januar 2012 eingeholt, der nach Untersuchung der Klägerin eine die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ rechtfertigende Einschränkung des Gehvermögens verneint hat.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. September 2010 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 29. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2007 zu verpflichten, bei ihr ab dem 7. Juli 2006 das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen des Merkzeichens „G“ festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.
Die zulässige Berufung der Klägerin ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage mit der angegriffenen Entscheidung zu Recht abgewiesen. Der Bescheid vom 29. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2007 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Denn sie hat keinen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens "G".
Die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Gewährung des Merkzeichens "G" sind bei der Klägerin nicht erfüllt.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX haben schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt sind, Anspruch auf unentgeltliche Beförderung. Über das Vorliegen der damit angesprochenen gesundheitlichen Merkmale treffen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes zuständigen Behörden die erforderlichen Feststellungen (§ 69 Abs. 1 und 4 SGB IX). Nach § 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX ist in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahr für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden.
Bei der Prüfung der Frage, ob diese Voraussetzungen erfüllt sind, kommt es nicht auf die konkreten örtlichen Verhältnisse des Einzelfalles an, sondern darauf, welche Wegstrecken allgemein – d.h. altersunabhängig von nichtbehinderten Menschen – noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als ortsübliche Wegstrecke in diesem Sinne gilt eine Strecke von etwa zwei Kilometern, die in etwa einer halben Stunde zurückgelegt wird (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVs 11/87, BSGE 62, 273 = SozR 3870 § 60 Nr. 2). Allerdings ist es für die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ nicht ausreichend, dass diese Wegstrecke nicht in dem genannten Zeitraum bewältigt werden kann.
Denn Nr. 30 Abs. 3 bis 5 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit 2005 und 2008 bzw. Teil D Nr. 1d der Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) geben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, um annehmen zu können, dass ein behinderter Mensch infolge einer Einschränkung des Gehvermögens in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass das Gehvermögen des Menschen von verschiedenen Faktoren geprägt und variiert wird, zu denen neben den anatomischen Gegebenheiten des Körpers, also dem Körperbau und etwaigen Behinderungen, vor allem der Trainingszustand, die Tagesform, Witterungseinflüsse, die Art des Gehens sowie Persönlichkeitsmerkmale, vor allem die Motivation, gehören. Von all diesen Faktoren filtern die Anhaltspunkte diejenigen heraus, die außer Betracht zu bleiben haben, weil sie die Bewegungsfähigkeit des behinderten Menschen nicht infolge einer behinderungsbedingten Einschränkung des Gehvermögens, auch durch innere Leiden, oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit, sondern möglicherweise aus anderen Gründen erheblich beeinträchtigen. Die Anhaltspunkte beschreiben dabei Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die Voraussetzungen für das Merkzeichen „G“ als erfüllt anzusehen sind, und die bei dort nicht erwähnten Behinderungen als Vergleichsmaßstab dienen können (BSG, Urteil vom 13. August 1997, 9 RVs 1/96, SozR 3-3870 § 60 Nr. 2).
Die in Nr. 30 Abs. 3 der AHP bzw. in Teil D Nr. 1d der Anlage zu § 2 VersMedV aufgeführten Fallgruppen liegen hier nicht vor.
Die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr lässt sich insbesondere nicht auf eine behinderungsbedingte Einschränkung des Gehvermögens gründen, da bei der Klägerin keine sich auf die Gehfähigkeit auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen (vgl. Nr. 30 Abs. 3 Satz 1 der AHP bzw. Teil D Nr. 1d Satz 1 der Anlage zu § 2 VersMedV). Nach den übereinstimmenden und überzeugenden Bewertungen des Allgemeinmediziners Dr. L im Gutachten vom 30. Dezember 2009 und des Allgemeinmediziners Dr. B im Gutachten vom 21. Januar 2012 sind die Funktionseinbußen der Lendenwirbelsäule lediglich mit einem Einzel-GdB von 20 anzusetzen.
Bei der Klägerin sind nach den gutachterlichen Feststellungen auch keine Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben, die sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, z.B. Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung, arterielle Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40 (vgl. Nr. 30 Abs. 3 Satz 2 der AHP bzw. Teil D Nr. 1d Satz 2 der Anlage zu § 2 VersMedV).
Zwar kann nach Nr. 30 Abs. 3 Satz 3 AHP bzw. Teil D Nr. 1d Satz 3 der Anlage zu § 2 VersMedV die Zuerkennung des Merkzeichens „G“ auch auf innere Leiden gestützt werden, jedoch ist für deren Vorliegen hier nichts ersichtlich. Eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit ist insbesondere bei Herzschäden mit Beeinträchtigung der Herzleistung wenigstens nach Gruppe 3 und bei Atembehinderungen mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion wenigstens mittleren Grades anzunehmen (vgl. Nr. 30 Abs. 3 Satz 4 AHP bzw. Teil D Nr. 1d Satz 4 der Anlage zu § 2 VersMedV). Funktionsbeeinträchtigungen dieser Qualität liegen bei der Klägerin nach den gutachterlichen Feststellungen nicht vor.
An hirnorganischen Anfällen mit mittlerer Anfallshäufigkeit oder häufigen hypoglykämischen Schocks bei Diabetes mellitus im Sinne der Nr. 30 Abs. 4 AHP bzw. Teil D Nr. 1e der Anlage zu § 2 VersMedV leidet die Klägerin ebenso wenig wie an Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen (Nr. 30 Abs. 5 AHP bzw. Teil D Nr. 1f der Anlage zu § 2 VersMedV).
Bei der Klägerin bestehen auch keine Behinderungen, die nicht unter die in Nr. 30 Abs. 3 bis 5 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit 2005 und 2008 bzw. Teil D Nr. 1 der Anlage zur VersMedV genannten Regelbeispiele fallen, sich aber vergleichbar – auch in Kombination mit anderen Behinderungen – auf die Gehfähigkeit auswirken. Eine Beeinträchtigung der Gehfähigkeit der Klägerin im Zusammenhang mit den Bauchwandbrüchen haben die beiden Sachverständigen – unabhängig von der unterschiedlichen, aber vorliegend nicht relevanten Bewertung des Einzel-GdB – übereinstimmend nicht feststellen können.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ergebnis der Hauptsache.
Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.