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Entscheidung OVG 11 S 49.11


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat Entscheidungsdatum 25.08.2011
Aktenzeichen OVG 11 S 49.11 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 60a Abs 2 AufenthG

Tenor

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 7. Juli 2011 wird zurückgewiesen.

Die Kosten der Beschwerde trägt die Antragstellerin.

Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500 EUR festgesetzt.

Gründe

Durch Beschluss vom 7. Juli 2011 hat es das Verwaltungsgericht abgelehnt, dem Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu untersagen, die Antragstellerin in die Türkei abzuschieben. Die hiergegen gerichtete Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg.

Das Verwaltungsgericht hat zu dem Vortrag der Antragstellerin, sie könne wegen der ihr drohenden Repressalien ihrer Familie und „aufgrund politischer Hintergründe" nicht in die Türkei zurückkehren, ausgeführt, es handele sich dabei um zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse, die in dem ausländerrechtlichen Verfahren nicht berücksichtigt werden könnten, weil die Ausländerbehörde gemäß § 42 AsylVfG an die Feststellungen in dem am 4. Januar 2011 unanfechtbar gewordenen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 6. Januar 2009 gebunden sei, wonach bei der Antragstellerin die Voraussetzungen des § 60 Abs. 2-5 und Abs. 7 AufenthG nicht gegeben seien. Gegen diese Ausführungen ist schon deshalb nichts zu erinnern, weil sich die Antragstellerin in ihrer Beschwerdebegründung mit ihnen nicht gemäß § 146 Abs. 4 S. 3 VwGO auseinandersetzt.

Ferner hat das Verwaltungsgericht ausgeführt, bei der von der Antragstellerin erstmals mit dem am 4. Juli 2011 eingegangenen Rechtsschutzantrag geltend gemachten Reise- und Flugunfähigkeit wegen einer extremen Angststörung und Suizidgedanken handele es sich zwar um Gründe, die ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis darstellen könnten. Es spreche jedoch vieles dafür, dass es sich hierbei um eine verfahrensangepasste Behauptung handele, weil die Antragstellerin, die sich seit August 2007 in Deutschland aufhalte, zuvor weder im Asylverfahren noch in dem erst vor kurzem geführten einstweiligen Rechtsschutzverfahren (VG 15 L 71.11 und OVG 11 S 25.11) eine psychische Erkrankung oder einer Traumatisierung vorgetragen habe. Unabhängig von den Zweifeln an dem Wahrheitsgehalt des Vorbringens der Antragstellerin gehe die Kammer aufgrund der Angaben in dem von ihr vorgelegten ärztlichen Attest vom 24. Juni 2011 davon aus, dass die Suizidgefahr voraussichtlich nur im zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung bestehe. Dieser Gefahr lasse sich dadurch hinreichend begegnen, dass der Antragsgegner erklärt habe, dass die Antragstellerin unmittelbar nach ihrer Festnahme und vor der Durchführung der Abschiebung von einem Arzt auf Reise- und Flugfähigkeit untersucht werde. Die Kammer gehe wegen dieser Erklärung davon aus, dass der Antragsgegner ausreichende Maßnahmen für einen gegebenenfalls erforderlichen Beistand für die Antragstellerin während der Abschiebung und bei der Ankunft gewährleisten werde, falls dies nach dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung notwendig sein sollte. Darüber hinaus sei wegen der genannten Erklärung des Antragsgegners die aufenthaltsbeendende Maßnahme von dem Ergebnis der noch ausstehenden ärztlichen Untersuchung der Antragstellerin abhängig gemacht worden, und es sei daher offen, ob die Abschiebung durchgeführt werden solle. Mit Blick hierauf sei die begehrte einstweilige Anordnung derzeit auch nicht erforderlich und ein Anordnungsgrund nicht vorhanden. Im Übrigen fehle es an einem bei der Ausländerbehörde gestellten Duldungsantrag.

Hiergegen bringt die Antragstellerin vor, sie habe am 12. Juli 2011 einen Suizidversuch unternommen und sich daraufhin bis zum 14. Juli 2011 in einer Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Hagen behandeln lassen müssen. Aus dem Bericht über den stationären Aufenthalt gehe hervor, dass sie den Suizidversuch aufgrund der drohenden Abschiebung unternommen habe, sich sodann im Rahmen der Behandlung kurzfristig von akuter Suizidalität habe distanzieren können. Gegenwärtig befinde sie sich in Berlin in einer Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in stationärer Behandlung. Offenbar lasse sich der Gefahr einer suizidalen Handlung nicht durch andere Maßnahmen begegnen, wie vom Verwaltungsgericht angenommen. Im Übrigen sei mittlerweile auch ein entsprechender Duldungsantrag bei der zuständigen Ausländerbehörde Berlin gestellt worden. Danach seien sowohl ein Anordnungsanspruch als auch ein Anordnungsgrund gegeben, weil der Antragsgegner noch immer ihre Abschiebung beabsichtige, diese aufgrund ihrer psychischen Situation und der weiteren Suizidgefahr aus gesundheitlichen Gründen aber nicht möglich sei.

Das Beschwerdevorbringen rechtfertigt keine Änderung des angefochtenen Beschlusses. Zum einen trägt die Antragstellerin nichts zu ihrem aktuellen Gesundheitszustand vor. Dem von ihr eingereichten Attest der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Hagen vom 14. Juli 2011 ist zumindest zu entnehmen, dass sich die Antragstellerin durch die stationärer Aufnahme von akuter Suizidalität habe distanzieren können. Welche Erfolge die möglicherweise noch anhaltende, hinsichtlich der durchgeführten Behandlung und deren Dauer in keiner Weise substantiierte stationäre Behandlung in Berlin gezeitigt hat, wird weder vorgetragen noch durch Vorlage eines entsprechenden Attests belegt.

Darüber hinaus fehlt es an einer näheren Auseinandersetzung mit der Begründung des Verwaltungsgerichts, der Anordnungsgrund sei zu verneinen, weil der Antragsgegner die Durchführung der Abschiebung der Antragstellerin von dem Ergebnis einer vorherigen ärztlichen Untersuchung abhängig gemacht habe, die noch ausstehe.

Unabhängig von diesen Darlegungsmängeln weist der Senat allerdings vorsorglich darauf hin, dass sich die Frage, ob Maßnahmen bei der Gestaltung der Abschiebung – wie ärztliche Hilfe und Flugbegleitung – ausreichen, um der auf einer psychischen Erkrankung beruhenden ernsthaften Suizidgefahr wirksam zu begegnen, erst aufgrund einer möglichst fundierten und genauen Erfassung des Krankheitsbildes und der sich daraus ergebenden Gefahren beantworten lässt; eine abstrakte oder pauschale Zusicherung von Vorkehrungen wird dem gebotenen Schutz aus Art. 2 Abs. 2 GG nicht gerecht (vgl. OVG Sachsen Anhalt, Beschluss vom 20. Juni 2011, – 2 M 38/11 –, bei juris, Rz. 5; OVG NW, Beschluss vom 09.05.2007 – 19 B 352/07 –, NVwZ-RR 2008, 284 sowie bei juris, dort Rz. 7). Zum Inhalt der gebotenen Vorkehrungen verweist der Senat auf die nachfolgend auszugsweise wiedergegebenen Ausführungen des OVG Sachsen-Anhalt in dem bereits zitierten Beschluss vom 20. Juni 2011, denen er sich aufgrund summarischer Prüfung anschließt:

„Die Ausländerbehörde ist von Amts wegen verpflichtet, aus dem Gesundheitszustand des Ausländers folgende Abschiebungshindernisse in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zu beachten, und hat gegebenenfalls durch ein vorübergehendes Absehen von der Abschiebung oder durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen (BVerfG, Beschl. v. 16.04.2002 – 2 BvR 553/02 –, Juris; Beschl. v. 26.02.1998 – 2 BvR 185/98 –, InfAuslR 1998, 241). Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschl. v. 24.02.2010 – 2 M 2/10 –, Juris) kann auch eine bestehende psychische Erkrankung eines ausreisepflichtigen Ausländers ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG in zwei Fallgruppen begründen: Zum einen scheidet eine Abschiebung aus, wenn und so lange der Ausländer wegen Erkrankung transportunfähig ist, d. h. sich sein Gesundheitszustand durch und während des eigentlichen Vorgangs des „Reisens" wesentlich verschlechtert oder eine Lebens- oder Gesundheitsgefahr transportbedingt erstmals entsteht (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn). Zum anderen muss eine Abschiebung auch dann unterbleiben, wenn sie – außerhalb des eigentlichen Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bedeutet; dies ist der Fall, wenn das ernsthafte Risiko besteht, dass unmittelbar durch die Abschiebung als solche (unabhängig vom Zielstaat) sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne). Es geht also nicht nur darum, während des eigentlichen Abschiebevorgangs selbstschädigende Handlungen eines aufgrund einer psychischen Erkrankung suizidgefährdeten Ausländers zu verhindern; eine Abschiebung hat vielmehr auch dann zu unterbleiben, wenn sich durch den Abschiebevorgang die psychische Erkrankung (wieder) verschlimmert, eine latent bestehende Suizidalität akut wird und deshalb die Gefahr besteht, dass der Ausländer unmittelbar vor oder nach der Abschiebung sich selbst tötet. Von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis ist auch dann auszugehen, wenn sich die Erkrankung des Ausländers gerade aufgrund der zwangsweisen Rückführung in sein Heimatland wesentlich verschlechtert, und nicht nur, wenn ein Suizid während der Abschiebung droht (BayVGH, Beschl. v. 23.10.2007 – 24 CE 07.484 – Juris). Es ist ferner darauf zu achten, dass sich die krankheitsbedingte Suizidgefahr nicht in dem Zeitraum zwischen der Ankündigung und der Durchführung der Abschiebung realisiert (vgl. OVG NW, Beschl. v. 15.10.2010 – 18 A 2088/10 –, Juris). Das von der Ausländerbehörde in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehört der Zeitraum des Aufsuchens und Abholens in der Wohnung, des Verbringens zum Abschiebeort sowie die Zeit der Abschiebehaft (VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008 – 11 S 2439/07 –, InfAuslR 2008, 213 [214]). Auch den Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur endgültigen Übergabe des Ausländers an die Behörden des Zielstaats darf die Ausländerbehörde nicht außer Acht lassen (VGH BW, Beschl. v. 06.02.2008, a.a.O.). Die ihr obliegende Pflicht, gegebenenfalls durch eine entsprechende Gestaltung der Abschiebung die notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit eine Abschiebung verantwortet werden kann, endet nicht immer schon mit der Ankunft des Ausländers im Zielstaat, sondern kann zeitlich bis zum Übergang in eine Versorgung und Betreuung im Zielstaat fortdauern, wenn dem Ausländer unmittelbar nach seiner Ankunft im Zielstaat eine Gesundheitsgefährdung droht, etwa weil er einer Betreuung oder medizinischen Behandlung bedarf. In derartigen Situationen ist sicherzustellen, dass erforderliche Hilfen rechtzeitig nach der Ankunft im Heimatland zur Verfügung stehen, wobei der Ausländer wie bei der allgemeinen medizinischen Versorgung auch in diesem Zusammenhang regelmäßig auf den allgemein üblichen Standard der Möglichkeiten in seinem Heimatland zu verweisen ist (vgl. Beschl. d. Senats v. 08.09.2010 – 2 M 91/10 –, Juris; OVG NW, Beschl. v. 27.07.2006 – 18 B 586/06 –, EZAR-NF 51 Nr. 12, m. w. Nachw.). …“

Es ist weder von der Antragstellerin geltend gemacht worden noch sonst ersichtlich, dass der Antragsgegner diese Anforderungen missachten und eine ernsthafte Selbstgefährdung der Antragstellerin in Kauf nehmen würde. Der Umstand, dass er zunächst die aktuelle Reisefähigkeit der Antragstellerin abklären und sich die abschließende Entscheidung über das Vorliegen eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses vorbehalten will, zeigt, dass er mit der Problematik einer Suizidgefahr verantwortlich umgeht. Mittlerweile hat der Antragsgegner konkretisierend vorgetragen, dass er die Antragstellerin für den 5. September 2011 zu einer fachärztlichen Untersuchung durch den polizeiärztlichen Dienst geladen habe. Je nach Ausgang dieser Untersuchung beabsichtigt er nach einem abgestuften System Sicherungsmaßnahmen gegen eine abschiebungsbedingte Selbstgefährdung der Antragstellerin zu treffen. Lägen Anhaltspunkte für eine ernsthafte Gesundheitsgefährdung im Rahmen der Abschiebung vor, verfahre er bei Abschiebungen in die Türkei regelmäßig dergestalt, dass der Ausländer durch einen Arzt begleitet werde, die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Türkei über die geplante Ankunft des Ausländers in der Türkei informiert werde und Botschaftsmitarbeiter den Ausländer in der Türkei in Empfang nehmen und ihn der zuvor organisierten und erforderlichen medizinischen Versorgung zuführen würden oder dass die Botschaft sich direkt mit den türkischen Behörden in Verbindung setze, die dann die Organisation der medizinischen notwendigen Hilfe/Versorgung einschließlich einer gegebenenfalls erforderlichen Unterbringung organisieren und den türkischen Staatsangehörigen in Empfang nehmen würde. Ferner hat der Antragsgegner ausgeführt, dass der Sachverhalt neu zu beurteilen wäre, falls die ärztliche Untersuchung ergebe, dass derzeit einer akuten Selbsttötungsgefahr gerade nicht durch entsprechende behördliche Begleitmaßnahmen begegnet werden könne.

Es ist der Antragstellerin zuzumuten, das Ergebnis der polizeiärztlichen Untersuchung abzuwarten und für den Fall, dass die Abschiebung ihres Erachtens ohne ausreichende Sicherungsmaßnahmen durchgeführt werden solle, erneut bei dem Verwaltungsgericht um Eilrechtsschutz nachzusuchen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).