Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 10. Senat | Entscheidungsdatum | 19.12.2012 | |
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Aktenzeichen | OVG 10 N 30.10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 31 Abs. 2 BauGB |
Eine fehlerhafte Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB von nicht nachbarschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplanes kann dem Nachbarn nur einen Abwehranspruch vermitteln, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die vom Bauherrn beantragte Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat.
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 17. März 2010 wird abgelehnt.
Die Kosten des Zulassungsverfahrens einschließlich der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen trägt der Kläger.
Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 7.500 EUR festgesetzt.
I.
Der Kläger wendet sich gegen einen Bescheid des Beklagten vom 26. Februar 2008, in dem dieser der Beigeladenen u.a. für dort näher bezeichnete Wohnblöcke eine Befreiung von den Festsetzungen des am 1. Oktober 1969 (GVBl. S. 2065) festgesetzten Bebauungsplans XX-78 für eine Abweichung von der zulässigen Anzahl der Geschosse, nämlich eine Überschreitung von drei auf vier Vollgeschosse erteilte. Auf dem in den Jahren 1962/63 für Facharbeiter der B… AG erbauten Wohnblock … 36-42 errichtete die Beigeladene daraufhin ein weiteres (viertes) Vollgeschoss mit Pultdachausbildung. Der Kläger ist Eigentümer eines östlich des Wohnblocks gelegenen Grundstücks, das mit einem Einfamilienhaus bebaut ist. Sein gegen das Bauvorhaben gerichteter vorläufiger Rechtschutzantrag blieb auch im Beschwerdeverfahren erfolglos (vgl. dazu näher OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 1. September 2009 - OVG 10 S 19.09 -, juris). Das Verwaltungsgericht hat die Klage gegen den Befreiungsbescheid abgewiesen. Hiergegen richtet sich der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung.
II.
Das Zulassungsverfahren, das der Kläger in Rechtsgemeinschaft mit seiner während des Verfahrens verstorbenen Ehefrau eingeleitet hatte, ist durch deren Tod nicht unterbrochen. Fand - wie hier - in den Fällen des Todes eine Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten statt, so tritt eine Unterbrechung des Verfahrens nicht ein (§ 173 Satz 1 VwGO, § 246 Abs. 1 Satz 1 ZPO). Der Prozessbevollmächtigte hat mit Schriftsatz vom 11. Dezember 2012 mitgeteilt, dass das Verfahren durch den Ehemann und Grundstückeigentümer, den früheren Kläger zu 2. und jetzigen alleinigen Kläger, fortgeführt wird, und damit keine Aussetzung des Verfahrens beantragt.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Der geltend gemachte Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor. Derartige Zweifel bestehen dann, wenn ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden und auch die Richtigkeit des Ergebnisses der Entscheidung derartigen Zweifeln unterliegt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009 - 1 BvR 812/09 -, NJW 2010, 1062, juris; OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 14. März 2012 - OVG 10 N 34.10 -, juris Rn. 3).
Der Kläger trägt im Wesentlichen vor, dass die Regelung über Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB nachbarschützend sei, weil nach dem Gesetzeswortlaut die Abweichung unter Würdigung nachbarlicher Interessen mit den öffentlichen Belangen vereinbar sein müsse. Hierbei sei zu berücksichtigen, dass bereits bei der ursprünglichen Bebauung durch den Wohnblock die Geschossflächenzahl (GFZ) um 0,03 überschritten worden sei, weswegen hier eine Befreiung von einer Befreiung vorliege. Es liege auch eine qualifizierte Beeinträchtigung der nachbarlichen Belange vor, weil jedenfalls im Frühjahr und im Sommer sein Grundstück eine halbe Stunde weniger Sonne erhalte und sich die Frage stelle, ob auf Dauer die Stabilität des Nachbargebäudes aufgrund der geringen Auslegung der Fundamente gewährleistet sei.
Dieses Vorbringen begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils. Das Verwaltungsgericht hat die Rechtmäßigkeit der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht geprüft. Es ist zum Ergebnis gelangt, dass in diesem Einzelfall der Kläger nicht in seinen Rechten verletzt sei, weil er sich auf den bauplanungsrechtlichen Nachbarschutz nicht berufen könnte. Der Kläger hat diese Bewertung nicht mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Festsetzungen des - hier betroffenen - Maßes der baulichen Nutzung durch Bebauungspläne kraft Bundesrecht grundsätzlich keine nachbarschützende Funktion (vgl. BVerwG, Urteil vom 23. Juni 1995 - BVerwG 4 B 52/95 -, NVwZ 1996, 170, juris Ls. 1). Hinsichtlich fehlerhafter Befreiungen nach § 31 Abs. 2 BauGB von nicht nachbarschützenden Festsetzungen eines Bebauungsplanes ist geklärt, dass eine Befreiung dem Nachbarn einen Abwehranspruch vermitteln kann, wenn die Behörde bei ihrer Ermessensentscheidung über die vom Bauherrn beantragte Befreiung nicht die gebotene Rücksicht auf die Interessen des Nachbarn genommen hat. Zur Begründung hat sich das Bundesverwaltungsgericht auf den Wortlaut und die Zielrichtung des § 31 Abs. 2 BauGB berufen, der nicht nur die städtebauliche Ordnung - aus deren Verletzung der Nachbar keine eigenen Rechte herleiten könne -, sondern auch die individuellen Interessen des Nachbarn schützen wolle. Daraus folgt, dass Drittschutz des Nachbarn bei einer rechtswidrigen Befreiung von einer nicht nachbarschützenden Festsetzung nur besteht, wenn seine nachbarlichen Interessen nicht hinreichend berücksichtigt worden sind; alle übrigen denkbaren Fehler einer Befreiung machen diese und die auf ihr beruhende Baugenehmigung zwar objektiv rechtswidrig, vermitteln dem Nachbarn aber keinen Abwehranspruch, weil seine eigenen Rechte nicht berührt werden. Anders als der Kläger meint hat er insoweit keinen allgemeinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung der Baugenehmigungsbehörde. Unter welchen Voraussetzungen danach eine Befreiung die Rechte des Nachbarn verletzt, ist nach den Maßstäben zu beantworten, die das Bundesverwaltungsgericht zum drittschützenden Gebot der Rücksichtnahme entwickelt hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8. Juli 1998 - BVerwG 4 B 64.98 -, NVwZ-RR 1999, 8, juris Rn. 5; Urteil vom 19. September 1986 - BVerwG 4 C 8.84 -, Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 71, juris Rn. 17).
Das Verwaltungsgericht hat der Sache nach unter Zugrundelegung dieses Maßstabes die angegriffene Befreiung von der Festsetzung des Bebauungsplans zum Maß der baulichen Nutzung durch die Überschreitung der zulässigen Anzahl der Vollgeschosse als nicht die Rechte des Klägers verletzend angesehen und einen Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot zu Lasten des Klägers verneint.
Diese Bewertung stellt das Vorbringen des Klägers nicht durchgreifend in Frage. Soweit er meint, dass § 31 Abs. 2 BauGB in jedem Fall nachbarschützend sei, berücksichtigt er nicht, dass nach der vorgenannten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in der hier gegebenen Konstellation eine Rechtsverletzung des Nachbarn grundsätzlich nur nach den oben genannten Grundsätzen am Maßstab des Gebots der Rücksichtnahme angenommen werden kann. Ob die hier erfolgte Befreiung von der Anzahl der Vollgeschosse bei einer Vielzahl von Wohnblöcken im Plangebiet des Bebauungsplans XX-78 die Grundzüge der Planung im Sinne des § 31 Abs. 2 BauGB berührt, also die „Planungskonzeption“ verändert, etwa weil sie in seine Umgebung nur durch Planung zu bewältigende Spannungen hineinträgt oder erhöht und nur durch rechtsatzmäßige (Um-) Planung des Plangebers hätte ermöglicht werden können und nicht durch einen einzelfallbezogenen Verwaltungsakt der Baugenehmigungsbehörde (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 2. Februar 2012 - BVerwG 4 C 14.10 -, NVwZ 2012, 825, juris. Rn. 22, Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, 11. Aufl. 2008, § 31, Rn. 29) und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt sein kann, bedarf keiner Entscheidung. Der Kläger hat nämlich diesen in der aktuellen Rechtsprechung (BVerwG, a.a.O.) hervorgehobenen Gesichtspunkt in seiner Zulassungsantrag vom 25. Mai 2010 nicht gerügt und es ist fraglich, ob der Nachbar hieraus eine Verletzung seiner eigenen Rechte herleiten könnte. Der Einwand des Klägers, der Bebauungsplan XX-78 sehe gerade keine Befreiungen vor, geht fehl, denn Befreiungen von Festsetzungen des Bebauungsplans sind nach § 31 Abs. 2 BauGB kraft Gesetzes möglich, ohne dass dies - wie bei der Ausnahme - im Bebauungsplan zugelassen sein muss.
Auch das Vorbringen des Klägers zu einer „qualifizierten Störung“ seiner nachbarrechtlichen Belange legt nicht substantiiert dar, dass die hier erfolgte Befreiung gemessen am Maßstab des Gebots der Rücksichtnahme seine Rechte verletzt. Das Verwaltungsgericht ist auf der Grundlage einer Ortsbesichtigung und des Umstands, dass der Abstand zwischen dem Wohnhaus des Klägers und dem äußersten Punkt der östlichen Schmalseite eines der Gebäude der Beigeladenen 27 m beträgt, zu der Einschätzung gelangt, dass in diesem Einzelfall mit der durch die Befreiung ermöglichten Aufstockung des Hauses keine unzumutbaren Beeinträchtigungen nachbarlicher Interessen verbunden seien. Von einer „Hinterhofsituation“ könne mit Blick auf die mit 52 m x 48 m eher ungewöhnlich große Grünfläche auf dem Grundstück der Beigeladenen (vgl. dazu OVG Bln-Bbg, Beschluss vom 1. September 2009, a.a.O., Rn. 11), keine Rede sein. Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Vorbringen des Klägers, im Frühjahr und Sommer erhalte sein Grundstück durch die Aufstockung täglich eine halbe Stunde weniger Sonne und diese verschwinde ab den Mittagstunden, denn der streitgegenständliche Baukörper auf dem Grundstück der Beigeladenen hält die vorgeschriebenen Abstandsflächen ohne weiteres ein, wie der Senat bereits im Beschluss vom 1. September 2009 (a.a.O., Rn. 10) näher dargelegt hat. Für eine das Gebot der Rücksichtnahme verletzende Beeinträchtigung der nachbarlichen Interessen durch die infolge der Befreiungsentscheidung ermöglichte Aufstockung der Baukörper bestehen auf der Grundlage der Darlegungen des Klägers im Zulassungsverfahren keine Anhaltspunkte. Etwas anderes folgt auch nicht aus der Behauptung des Klägers, die Stabilität der Baukörper sei aufgrund der derzeitigen Auslegung der Fundamente nicht gewährleistet. Dieses Vorbringen ist unsubstantiiert. Es wird im Zulassungsverfahren weder durch statische Berechnungen unterlegt noch wird dargetan, dass, selbst wenn man zugunsten des Klägers Mängel bei der Stabilität der aufgestockten Wohnblöcke unterstellte, dies zu einer Verletzung seiner Rechte führen würde. Sein Grundstück liegt nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ca. 16 m von dem streitigen Baukörper entfernt, der Gebäudeabstand beträgt zumindest 27 m. Keinen Erfolg hat auch das Vorbringen, dass die in den Jahren 1962/63 errichteten Wohnblöcke bereits die im Bebauungsplan festgesetzte GFZ um 0,03 überschritten hätten, weshalb eine weitere Befreiung von einer bereits erfolgten Befreiung vorliege. Der Ansatz geht bereits deshalb fehl, weil Streitgegenstand allein die mit Bescheid des Beklagten vom 26. Februar 2008 erteilte Befreiung ist und der Kläger nicht substantiiert dargelegt hat, dass das durch diese Befreiung ermöglichte Maß der baulichen Nutzung seine nachbarlichen Interessen entsprechend dem Maßstab des Gebots der Rücksichtnahme verletzt. Eine solche Verletzung wird auch nicht durch die die historische Entwicklung darstellenden Ausführungen des Klägers zur Entstehung der streitigen Baukörper in den Jahren 1962/63 für Facharbeiter der Borsig AG substantiiert dargelegt.
Bereits im Hinblick auf das Darlegungsgebot (§ 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO) unzureichend ist schließlich der pauschale Hinweis des Klägers auf sein erstinstanzliches Vorbringen insbesondere in der Klageschrift.
2. Das Zulassungsvorbringen rechtfertigt auch nicht die Zulassung der Berufung wegen besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Der Kläger macht zwar diesen Zulassungsgrund geltend, hat aber mit seinem Hinweis auf das „tatsächliche und rechtliche Ineinandergreifen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 31 BauGB“ und auf die Gegebenheiten anlässlich der Bauleitplanung nicht gemäß § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO Gründe dargelegt, aus denen sich ergibt, dass der konkret zu entscheidende Rechtsstreit entscheidungserhebliche Fragen aufwirft, deren Lösung in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht überdurchschnittliche Schwierigkeiten verursacht. Auch der Umstand, dass das angefochtene Urteil etwa drei Seiten lange Entscheidungsgründe enthält und damit entgegen dem Vorbringen des Klägers keinen erheblichen Begründungsaufwand aufweist, ist nicht geeignet, die geltend gemachten besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten darzulegen.
3. Die Berufung ist schließlich nicht wegen eines Verfahrensmangels, auf dem die Entscheidung beruhen kann, zuzulassen (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO). Ohne Erfolg rügt der Kläger, dass das Verwaltungsgericht den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) verletzt habe, weil es im Hinblick auf den von dem Kläger überreichten Vermerk des Stadtplanungsamts des Beklagten vom 8. September 1960 den Vertreter des Beklagten in der mündlichen Verhandlung hätte auffordern müssen, den Inhalt des Vermerks in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht zu erläutern und sämtliche damit im Zusammenhang stehenden Schriftstücke vorzulegen. Der Kläger hat weder dargetan noch ist dies aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 24. Februar 2010 ersichtlich, dass er auf die Vornahme dieser Aufklärungsmaßnahme hingewirkt, insbesondere einen entsprechenden Antrag gestellt hätte. Die Geltendmachung eines Verstoßes gegen den Amtsermittlungsgrundsatz setzt aber voraus, dass entweder dargelegt wird, dass bereits im erstinstanzlichen Verfahren, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von sich aus hätten aufdrängen müssen (vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. Oktober 2006 - BVerwG 6 B 31/06 -, Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 207, juris Rn. 3). Diesen Anforderungen genügt das Vorbringen des Klägers nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Ziffern 1.1.3, 9.7.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vom 7./8. Juli 2004 (DVBl 2004 S. 1525).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).