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Aromatische Amine - Holzschutzmittel - Dosis-Wirkungs-Beziehung


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 2. Senat Entscheidungsdatum 20.01.2011
Aktenzeichen L 2 U 324/08 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 9 SGB 7, Nr 1301 BKVO

Leitsatz

1. Das Fehlen einer wissenschaftlich begründbaren Dosis-Wirkungs-Beziehung führt weder dazu, dass auf die Überprüfung einer arbeitstechnischen Exposition verzichtet werden kann, noch dazu, dass bereits eine minimale Exposition als wesentlicher Verursachungsfaktor anerkannt werden kann.

2. Zu den Voraussetzungen der Annahme einer berufstypischen Gefährdung, wenn der Versicherte geltend macht, im Wesentlichen berufsfremd eingesetzt gewesen zu sein.

Tenor

Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 04. Juni 2008 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung und Entschädigung einer Harnblasenkarzinomerkrankung als Berufskrankheit (BK) Nr. 1301 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV – Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine).

Der 1965 geborene Kläger beantragte bei der Beklagten im Januar 2004 die Anerkennung einer Berufskrankheit unter Hinweis auf eine bei ihm festgestellte Blasenkrebserkrankung, er gehe davon aus, dass diese durch seine jahrelange Arbeit mit verschiedenen Anstrichstoffen und Holzschutzmitteln verursacht worden sei. Er habe von 1982 bis 1990 in der Holzbe- und -verarbeitung im VEB BB-und im Anschluss hieran im Zimmereibereich gearbeitet. Nunmehr sei er im Sanierungsbereich tätig. Die Beklagte befragte den behandelnden Facharzt für Urologie Dr. U, der mit Schreiben vom 17. Februar 2004 mitteilte, zur möglichen beruflichen Verursachung keine Aussagen treffen zu können. Er übersandte Arztbriefe über die Behandlung des beim Kläger festgestellten Harnblasenkarzinoms. Die Beklagte ermittelte medizinisch weiter durch Befragung der Krankenkasse des Klägers, der BKK Gesundheit, durch Beiziehung der Krankenakte des Klägers vom Unfallkrankenhaus B und des Entlassungsberichtes der RR über eine Behandlung des Klägers vom 27. Mai bis 24. Juni 2003, in dem ausgeführt ist, dass für ein halbes Jahr schwere körperliche Arbeit zu meiden sei, aufgrund des frühen Tumorstadiums sei jedoch davon auszugehen, dass bei rezidivfreier Nachsorge und entsprechender weiterer Konsolidierung der Verhältnisse der Kläger seine Berufstätigkeit wieder ausüben könne.

Die Beklagte befragte ferner ihren Technischen Aufsichtsdienst (TAD), für den der technische Angestellte H mit Schreiben vom 24. März 2004 mitteilte, dass der Kläger gegenüber dem krebserzeugenden 2-Naphthylamin exponiert gewesen sei. Dieses sei Bestandteil von Carbolineum, welches bis zur Teerölverbotsordnung 31. Dezember 1991 zugelassen gewesen und als Anstrichmittel ausschließlich im Außenbereich, u. a. für Pfähle, Zäune und Bauwerksteile verwendet worden sei. Inwieweit diese kurzzeitigen Expositionen beim gelegentlichen Handauftrag von Carbolineum im Sinne der BK 1301 zu werten seien, müsse durch einen medizinischen Gutachter beurteilt werden.

Die Ärzte Dr. D/P, UB, kamen unter Einbeziehung der Feststellungen in einem radiologischen Zusatzgutachten der Dr. M/Dr. N vom 01. Juni 2004 mit Gutachten vom 02. Juni 2004 zu dem Ergebnis, dass ein wesentlicher ursächlicher Zusammenhang zwischen der Karzinomerkrankung und der nachgewiesenen Exposition gegenüber aromatischen Kohlenwasserstoffen (2-Naphthylamin) bestehe. Für das beruflich induzierte Karzinom würden Latenzzeiten von 20 bis 40 Jahren beschrieben. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger in den Beschäftigungszeiträumen von 1982 bis 2003 nachweislich mehrfach krebserzeugenden aromatischen Aminen, sowohl in Form einer inhalativen Exposition als auch in Form einer dermalen Rezeption, ausgesetzt gewesen sei und auch des Öfteren mit Carbolineum Kontakt gehabt habe, welches das krebserzeugende 2-Naphthylamin enthalte. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) betrage auf urologischem Gebiet für die Zeit bis Dezember 2004 50 v. H. und für nachfolgende drei Jahre bei Tumorfreiheit 30 v. H.

Dem stimmte der von der Beklagten beratungsärztlich gehörte Dr. E am 09. Juli 2004 zu. Die Beklagte wandte sich dennoch erneut an Dr. D mit der Nachfrage, ob die geringe Exposition unter Berücksichtigung des Alters des Klägers und der doch geringen Latenzzeit tatsächlich für ein beruflich indiziertes Karzinom spreche, woraufhin dieser mit Schreiben vom 27. Juli 2004 Nachermittlungen zur Exposition empfahl. Der erneut gehörte TAD teilte daraufhin mit Schreiben vom 24. August 2004 mit, dass eine mögliche Exposition des Klägers für die hier allein in Betracht kommende Zeit ab 1982 gegenüber Azofarbstoffen auf der Basis krebserzeugender Amine absolut auszuschließen sei. Die entgegenstehende Annahme des Dr. D sei daher unverständlich. Zur Frage des Umgangs mit Carbolineum auf Steinkohlenteerölbasis könne mitgeteilt werden, dass dieses Produkt ab 31. Dezember 1991 nicht mehr eingesetzt werden durfte und dass es auch sehr unwahrscheinlich sei, dass sich Betriebe hier noch größere Lagerbestände angelegt hätten. Der Kläger sei zudem als Bautischler und Zimmermann tätig gewesen, in diesen Handwerken sei nur in seltenen Fällen mit Carbolineum umgegangen worden. Dieses Produkt habe nur Anwendung bei erdberührenden Hölzern (Leitungsmasten, Jägerzäune, Zaunpfähle, Bahnschwellen) gefunden, im Innenbereich wie z. B. bei Dachstühlen und Wohnräumen sei Carbolineum auf Steinkohlenteerölbasis aufgrund des starken Eigengeruchs niemals eingesetzt worden. Das Streichen von Zäunen und Pfählen sei jedoch nicht als typische Bautischler- bzw. Zimmerertätigkeit zu werten. Es müsse somit als worst-case von nur wenigen Stunden Expositionszeit im Jahr ausgegangen werden. Mit Arztbrief vom 07. Oktober 2004 teilte Dr. D daraufhin mit, dass unter Berücksichtigung der nunmehr vom TAD gemachten Angaben keine Grundlage mehr bestehe, die Harnblasentumorerkrankung des Klägers als Berufskrankheit einzustufen. Der sodann noch gehörte Gewerbearzt Dr. S, Landesamt für Arbeitsschutz, Gesundheitsschutz und Technische Sicherheit Berlin, stimmte dem mit Schreiben vom 27. Oktober 2004 zu, die Anerkennung einer BK könne nicht vorgeschlagen werden, weil die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Verursachung der Berufskrankheit nicht gegeben seien. Mit Bescheid vom 08. Dezember 2004 lehnte die Beklagte daraufhin die Gewährung einer Entschädigung wegen einer Berufskrankheit nach der Nr. 1301 der Anlage zur BKV ab. Den hiergegen erhobenen Widerspruch, mit dem der Kläger ausführte, besonders zu DDR-Zeiten Carbolineum, Hylotox und andere Stoffe zur Holzbehandlung und auch nach 1990 noch umfangreiche Restbestände verarbeitet als auch im Rahmen der Altbausanierung mit schadstoffbelasteten Baumaterialien gearbeitet zu haben, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Januar 2005 zurück.

Im hiergegen angestrengten Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin hat die Beklagte auf Nachfrage des Gerichts erneut ihren TAD insbesondere zur Belastung des Klägers während seiner Tätigkeit in der ehemaligen DDR befragt, der mit Schreiben vom 06. Februar 2007 mitteilte, dass aromatische Amine in den in der DDR verwandten Mitteln (Hylotox 59, Vogel-Fluate und Dohnalit) nicht enthalten gewesen seien. Die bisher gemachte Angabe zur kurzzeitigen Exposition gegenüber 2-Naphthylamin sei dahin zu interpretieren, dass diese weniger als 3 Prozent der Gesamtarbeitszeit für drei Jahre betragen habe.

Das Gericht hat sodann Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt, die Unterlagen des Landesamtes für Gesundheit und Soziales – Versorgungsamt – beigezogen und ein Gutachten des Facharztes für Arbeitsmedizin Dr. W vom 03. Oktober 2007 eingeholt. Dieser kam zu dem Ergebnis, dass das beim Kläger gefundene Harnblasenkarzinom ursächlich auf dessen berufliche Tätigkeit in der Holzbe- und -verarbeitung und im Zimmereibereich zurückzuführen sei. Tumorlokalisation und die pathohistologische Differenzierung folgten der Beschreibung im Merkblatt zur BK 1301. Es müsse jedoch grundsätzlich festgestellt werden, dass man bisher nicht in der Lage sei, anhand der Krankheitserscheinungen mit Sicherheit auf die Verursachung zu schließen. Man sehe dem Tumor seine Entstehung nicht an. Die Diskussion über eine Schwellendosis werde seit über 50 Jahren geführt. Hier habe sich die Auffassung durchgesetzt, dass jede noch so niedrige Exposition das Risiko, an einem Krebs zu erkranken, erhöhe. Es handele sich hierbei jedoch um ein plurikausales Geschehen von endogenen (dispositionellen) und exogenen Faktoren. In letzter Zeit habe sich die Meinung durchgesetzt, dass die Reaktionen wie biologische Schwellenwerte-Reaktionen abliefen. Noch befinde man sich aber mehrheitlich im Stadium der Hypothesen und die Datenlage reiche nicht aus, um Grenzwerte festzulegen. Für den Kläger könne nach der Berufsanamnese eine Exposition gegenüber 2-Naphthylamin und anderen aromatischen Aminen als Bestandteil von Arbeitsstoffen „nicht ausgeschlossen werden“. Der Kausalzusammenhang zwischen der Exposition eines Menschen gegenüber diesem Stoff und die Entstehung von Krebs gelte als ausreichend gesichert. Da man nach wie vor nicht in der Lage sei, eine Dosis für die Verursachung einer Krebserkrankung zu postulieren, könne man gegenwärtig keine sicheren Expositionsgrenzen bestimmen. Nach epidemiologischen Erhebungen werde für 10 Prozent der Männer mit einem Harnblasenkarzinom von einer beruflichen Verursachung ausgegangen. Das erhöhte Risiko für Maler, ein Harnblasenkarzinom zu erleiden, sei nicht eindeutig beschrieben. Für die Untergruppe der Hausmaler sei ein hohes relatives Risiko gesehen worden. Rauchen werde als wichtigster außerberuflicher Risikofaktor angesehen. Die Rauchgewohnheit des Klägers sei mit vier Raucherjahren als sehr niedrig zu bewerten (ein Raucherjahr = täglicher Zigarettenkonsum von 10 bis 20 Stück). Möglicherweise sei auch eine nur geringe berufliche Belastung durch den Nikotinabusus aufgrund eines überadditiven Synergismus wesentlich verstärkt worden. Aromatische Aminoverbindungen seien über 100 Jahre vielfältig genutzte Chemikalien für unterschiedlichste chemische Produkte, so dass es nicht verwundere, dass auch bei der Allgemeinbevölkerung Belastungen gefunden würden. Vorliegend seien jedoch die beruflichen Faktoren als wesentliche, richtunggebende Ursache anzusehen. Die MdE sei mit dem Zeitpunkt der Diagnose für einen Zeitraum der Rezidivüberwachung von zwei Jahren bis Dezember 2004 mit 70 v. H. und nach Rezidivfreiheit für 5 Jahre mit 50 v. H. (also bis Dezember 2009) festzulegen. Danach sollte der Körperschaden erneut bewertet werden. Die Kehrtwende des Dr. D sei nicht nachvollziehbar. Es sei in der DDR üblich gewesen, Carbolineum im Holzschutz einzusetzen. Warum hätte gerade das B- auf diese Maßnahme verzichten sollen? Teerprodukte hätten aus E bei B bezogen werden können. Wer die räumliche Nähe zwischen B- und E kenne und Einblick habe, wie man sich in der DDR seine Materialien besorgt habe, den wundere es nicht, dass man gute Kontakte nach E gepflegt habe und auf dortige Produkte zurückgegriffen habe.

Die Beklagte hat hierzu eine Stellungnahme des Dr. E vom 21. November 2007 beigebracht, der ausführte, aus arbeitsmedizinischer Sicht keine überzeugenden Argumente zu sehen, das Gutachten des Dr. W zu entkräften. Die Beklagte brachte ferner eine weitere Stellungnahme ihres TAD vom 12. Dezember 2007 bei, der ausführte, den Ausführungen des Dr. W nicht zustimmen zu können. Carbolineum sei kein übliches Holzschutzmittel in der DDR gewesen. Rückschlüsse daraus, dass in E bei B Teerprodukte auf Braunkohlenbasis hergestellt worden seien, ließen sich auf einzelne Gewerke nicht ziehen. Expositionen, wie sie Dr. W beschrieben habe, sei der Kläger nicht ausgesetzt gewesen. Abbürst- oder Abschleifarbeiten alter Schutzanstriche seien nicht von Bautischlern oder Zimmerern ausgeführt worden. In der Regel seien diese Techniken auch selten zum Einsatz gekommen. Altbeschichtungen seien größtenteils von Malern abgebrannt worden. Mit Beginn der 60er Jahre seien auch flächendeckend fabrikfertige Produkte auf den Markt gekommen. Dauerhafte Expositionen zu unterstellen sei als branchenunüblich zu bewerten.

Hierzu gab Dr. W eine Rückäußerung vom 17. Februar 2008 ab, in der er ausführte, dass der Kläger nach seinen Angaben 5 Jahre lang mit der Hand und mit der Spritzpistole Carbolineum aufgetragen habe. Ferner habe er in der Altbausanierung Dachstühle und Dachleisten sowie Fensterrahmen von Altanstrichen befreit. Die Bau BG komme damit nicht umhin, eine Exposition gegenüber 2-Naphthylamin zu bestätigen. Der Kläger werde wohl doch wissen, welche Arbeiten er verrichtet habe. Weiter äußerte er sich zu Erkenntnissen zur krebserzeugenden Wirkung von 2-Naphthylamin. Ein wichtiges Indiz für die berufliche Verursachung sei auch das jugendliche Alter des Klägers, der im 37. Lebensjahr erkrankt sei.

Mit Urteil vom 04. Juni 2008 hat das Sozialgericht Berlin daraufhin unter Feststellung einer BK 1301 der Anlage zur BKV die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide zur Gewährung von Verletztengeld für die Zeit vom 10. Dezember 2002 bis 31. Oktober 2003 und vom 11. bis 16. Januar 2007 sowie zur Zahlung einer Verletztenrente nach einer MdE von 70 v. H. für die Zeit vom 01. November 2003 bis 31. Dezember 2004 und nach einer MdE von 50 v. H. für die Zeit ab 1. Januar 2005 verurteilt. Zur Begründung hat es auf die Ausführungen des Dr. W verwiesen; die generalisierende Betrachtung des TAD habe hinter der Arbeitsexploration des Dr. W zurückzutreten.

Gegen dieses ihr am 16. Juni 2008 zugegangene Urteil richtet sich die am 23. Juni 2008 eingegangene Berufung der Beklagten. Die Beklagte ist weiter der Auffassung, dass die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die BK 1301 aufgrund der kurzzeitigen 2-Naphthylamin-Exposition und einer etwaigen geringfügigen Exposition gegenüber azofarbstoffhaltigen Schleifstoffen nicht erfüllt seien. Sie verweist auf eine weitere Stellungnahme ihres TAD vom 08. September 2008, der nach Recherchen über die Herstellungs- und Verwendungszeiträume von Azofarbstoffen auf der Basis krebserzeugender aromatischer Amine in der DDR ausführte, dass diese dort lediglich bis Mitte der 70er Jahre hergestellt worden seien. Der Kläger habe damit bei seiner Tätigkeit als Bautischler und Zimmerer, die 1982 begonnen habe, keinen Umgang mit azofarbstoffhaltigen Produkten gehabt. Die Möglichkeit einer Exposition habe nur beim An- oder Abschleifen alter Beschichtungen bestanden. Die eigenen Ermittlungen zur Verwendung von Carbolineum wichen von denen des Dr. W ab, sie basierten aber ebenfalls auf den Angaben des Klägers bei dessen persönlicher Befragung am 01. März 2004. Diese entsprächen dem berufstypischen Tätigkeitsspektrum eines qualifizierten Bautischlers und Zimmerers. Lediglich kurzzeitig habe der Kläger im Zeitraum von 1989 bis zum Herstellungs- und Verwendungsverbot Ende 1991 mit Pinsel oder Rolle zur Imprägnierung von Holzkonstruktionen im Außenbereich Carbolineum verarbeitet. Unklar bliebe, in welchem Umfang der Kläger während der gegenüber Dr. W angegebenen Zeit von fünf Jahren Carbolineum verarbeitet habe. Die Beklagte verweist ferner auf das von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin zur Verfügung gestellte DDR-Datenblatt Carbolineum, wonach dieser Stoff bei Industriehallen, Baracken, Siedlungsbauten, landwirtschaftlichen Gebäuden, Zäunen usw. Verwendung gefunden habe. Zum Vorbringen des Klägers, bei der Bearbeitung von Eingangstüren kontaminiert worden zu sein, übersandte sie eine weitere Stellungnahme des TAD vom 02. November 2009, der ausführte, dass weder in Berlin noch in der Bundesrepublik eine Eingangstür habe gefunden werden können, die mit Carbolineum beschichtet worden sei. Hier sollte der Kläger eine Baumaßnahme benennen, man könne dann eine Materialprobe veranlassen. Der Kläger könne jedoch keine Zeugen benennen; seine Benennung von Objekten sei zu allgemein und unkonkret, als dass diese überprüft werden könnten.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 04. Juni 2008 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger verweist auf die Ausführungen des Dr. W. Er habe fünf Jahre lang mit der Spritzpistole Carbolineum aufgetragen. Das DDR-Datenblatt Carbolineum sei kein Beweis dafür, dass Carbolineum hier nicht verwendet worden sei; die Aufzählung über seine Verwendung sei nicht abschließend. Er sei, auch wenn er Tischler gewesen sei, bei der Altbausanierung als Bautischler mit der Entfernung alter Farbschichten bei der Dachstuhlsanierung ebenso kontaminiert worden wie ein Maler. Seine Exposition gegenüber 2- Naphtylamin und Azofarbstoffen sei unstreitig. Er sei u. a. im Kernbereich der Altstadt Köpenick tätig gewesen; nähere Angaben seien ihm nicht mehr möglich. Andere Ursachen kämen für seine Erkrankung nicht in Frage.

Das Gericht hat den Kläger aufgefordert, detailliert anzugeben, in welchem Zeitraum er Kontakt mit dem Holzschutzmittel Carbolineum gehabt habe und - wenn möglich - Zeugen hierfür zu benennen; dies war dem Kläger nicht mehr möglich. Das Gericht hat ferner am 24. März 2009 einen Erörterungstermin durchgeführt, in dem der Kläger zur Sache gehört wurde, insoweit wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen. Der Kläger hat daraufhin mit Stellungnahme vom 26. Juli 2010 einzelne Baustellen, auf denen er tätig gewesen sei, beschrieben; die Benennung von genauen Anschriften sei ihm leider nicht mehr möglich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten nebst Anlagen und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakten sowie den der Verwaltungsakte der Beklagten.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Beklagten ist zulässig und begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung von Leistungen wegen einer BK 1301. Die entsprechenden ablehnenden Bescheide der Beklagten sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht in seinen Rechten, während das zuerkennende Urteil des Sozialgerichts Berlin nicht rechtmäßig und daher aufzuheben war.

Berufskrankheiten sind nach § 9 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch, Siebtes Buch, Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als solche bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden. Nach Nr. 1301 der Anlage zur BKV sind Schleimhautveränderungen, Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege durch aromatische Amine eine BK.

Voraussetzung für die Anerkennung und Entschädigung einer Erkrankung als Berufskrankheit ist, dass die Verrichtung einer - grundsätzlich - versicherten Tätigkeit (sachlicher Zusammenhang) zu Einwirkungen von Belastungen, Schadstoffen oder Ähnlichem auf den Körper geführt hat (Einwirkungskausalität), ferner müssen die Einwirkungen eine Krankheit verursacht haben (haftungsbegründende Kausalität). Die Tatbestandsmerkmale "versicherte Tätigkeit", "Verrichtung", "Einwirkungen" und "Krankheit" müssen im Sinne des Vollbeweises, also mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlichkeit, vorliegen. Lediglich für die nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu beurteilenden Ursachenzusammenhänge zwischen der versicherten Tätigkeit und der schädigenden Einwirkung einerseits und zwischen der schädigenden Einwirkung und der eingetretenen Erkrankung andererseits reicht die hinreichende Wahrscheinlichkeit – nicht allerdings die bloße Möglichkeit – aus (Bundessozialgericht (BSG, Urteil vom 02. April 2009, Az. B 2 U 9/08 R, m. w. N., zitiert nach juris.de).

Der vom Kläger geltend gemachte Anspruch auf Entschädigung scheitert zum einen bereits daran, dass das Vorliegen der sog. arbeitstechnischen Voraussetzungen der BK 1301 nicht im Vollbeweis nachgewiesen ist. Denn Einwirkungen aromatischer Amine aufgrund einer beruflichen Exposition, die einschließlich deren Art und Ausmaß im Vollbeweis nachgewiesen sein müssen, sind vorliegend nicht feststellbar. Im Merkblatt zur BK 1301 (Bek. des BMA vom 12. Juni 1963, BArbBl. Fachteil Arbeitsschutz 1964, 129 f., zitiert nach Mehrtens/Brandenburg, die Berufskrankheitenverordnung) ist zur erforderlichen Dosis der Einwirkung noch formuliert, dass Krebs oder andere Neubildungen der Harnwege im Allgemeinen „nach mehrjähriger, gelegentlich auch mehrmonatiger Exposition mit aromatischen Aminen“ entstehen können. Allerdings können derartige Merkblätter nur dann für die Beurteilung herangezogen werden, wenn sie zeitnah erstellt oder aktualisiert worden sind und sich auf dem neuesten Stand befinden (BSG; Urteil vom 27. Juni 2006, Az. B 2 U 13/05 R, zitiert nach juris.de); davon kann im vorliegenden Fall wegen des Alters des Merkblattes nicht mehr ausgegangen werden. Es ist daher davon auszugehen, dass über die Anforderung einer Mindestdosis für eine Dosis-Wirkungs-Beziehung der Belastung mit aromatischen Aminen derzeit noch kein Konsens besteht. Dies hat der erstinstanzlich gehörte Dr. W in seinem Gutachten vom 03. Oktober 2007 ausgeführt. Etwas anderes ist auch der medizinisch-wissenschaftlichen Literatur nicht zu entnehmen (vgl. etwa Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Aufl. 2010, Seite 1122; ebenso unter Auswertung weiterer Veröffentlichungen LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 07. September 2010, Az. L 1 U 2869/09, zitiert nach juris.de, m. w. N.). Dies führt jedoch weder dazu, dass auf die Überprüfung einer arbeitstechnischen Exposition verzichtet werden könnte, noch dazu, dass bereits eine minimale Exposition als wesentlicher Verursachungsfaktor im Sinne der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre anerkannt werden könnte.

Die erforderliche Überprüfung der arbeitstechnischen Exposition ergab, dass eine Expositon des Klägers gegenüber vorliegend relevanten Schadstoffen nicht im Vollbeweis feststellbar ist. Entgegen der Annahme des Klägers kann nicht darauf abgestellt werden, dass seine Exposition gegenüber 2- Naphtylamin und Azofarbstoffen unstreitig sei. Zum einen ist dies nicht der Fall. Vielmehr hat die Beklagte unter Bezugnahme etwa auf die Stellungnahmen des TAD vom 24. August 2004 und 08. September 2008 ausgeführt, dass eine Exposition des Klägers gegenüber Azofarbstoffen auszuschließen sei. Zum anderen ist grundsätzlich auch unbestrittenes Vorbringen darauf zu überprüfen, ob die zugrunde liegenden Tatsachen erwiesen sind. Die Beklagte ist vorliegend zwar nach der Befragung des Klägers im Verwaltungsverfahren im Wege einer „worst-case“-Betrachtung von einer sehr geringen Expositionszeit gegenüber Carbolineum im Umfang von wenigen Stunden im Jahr ausgegangen. Aber auch für diese sehr geringe Exposition fehlt letztlich jeder Nachweis. Der Kläger wurde wiederholt aufgefordert, konkrete Baumaßnahmen zu benennen, die auf eine Verwendung von Carbolineum überprüft worden wären, sowie Zeugen dafür, dass er auf diesen Baustellen tätig war. Dies war dem Kläger nicht möglich. Irgendeine relevante Exposition ist damit nicht im Vollbeweis nachgewiesen.

Soweit der Kläger darauf hinweist, dass der Vollbeweis grundsätzlich auch aufgrund Beteiligtenvortrags als erbracht angesehen werden könne, führt dies vorliegend nicht zu einem anderen Ergebnis. Denn eine derartige Vorgehensweise ist dann nicht mehr sachgerecht, wenn nicht ein typischer Geschehensablauf zu beurteilen ist, sondern – wie vorliegend – ein den vorliegenden Indizien gerade widersprechender Rückschluss gezogen werden soll. Denn der Kläger war nicht als Maler tätig – lediglich für den Kreis der Hausmaler hatte Dr. Wein relativ hohes Risiko bestätigt -, sondern in der Holzbearbeitung. Auch wurde Carbolineum nach dem von der Beklagten überreichten DDR-Datenblatt beim Bau von Industriehallen, Baracken, Siedlungsbauten, landwirtschaftlichen Gebäuden, Zäunen usw. eingesetzt, nicht also bei Wohnbauten, bei denen der Kläger überwiegend tätig war.

Auch wenn der Kläger als gelernter Bautischler vorträgt, in erheblichem Umfang berufsfremde Tätigkeiten als Maler ausgeübt zu haben, so kann entgegen seiner Auffassung nicht die typische Exposition eines Malers unterstellt werden. Vielmehr hätte er zunächst darzutun, warum er berufsfremd eingesetzt gewesen sein sollte und dies durch geeignete Unterlagen wie Arbeitsverträge oder Auftragszettel und dergleichen so plausibel zu machen, dass eine sinnvolle Amtsermittlung möglich wird. Auch die Benennung von Zeugen fällt in diesen Sachzusammenhang. Trotz Durchführung eines Erörterungstermins am 24. März 2009, in dem der Senat dem Kläger die Anforderungen an den Nachweis einer Exposition verdeutlicht hat, konnte der Kläger weder zweifelsfrei bezeichnete Objekte noch Arbeitsvorgänge noch Kollegen benennen. Auch im Schriftsatz vom 26. Juli 2010 ist dies nicht geschehen. Auch hier werden wieder Tätigkeiten eines Malers wie das Abbrennen alter Farbschichten und die Neubeschichtung genannt, ohne dass deutlich wird, warum er als Bautischler in erheblichem Umfang diese Arbeiten verrichtet haben soll. Nachvollziehbar ist insoweit lediglich ein Anschleifen von Türen und Fenstern, um diese gangbar zu machen. Die Qualität der abgeschliffenen Anstriche bleibt dabei völlig offen. Soweit der Kläger vorträgt, an Dachgewerken in P, S, F und K mit Farbanstrichen wie Hylotox 59 und Carbolineum umgegangen zu sein, wird deutlich, dass er hier Stoffe zusammenfasst, die von der Gefährdung her gar nicht vergleichbar sind. So hat die Beklagte in ihrer Stellungnahme vom 6. Februar 2007 schon darauf hingewiesen, dass gaschromatografische und massenspektrometrische Untersuchungen ergeben haben, dass das Produkt Hylotox 59 zwar Gefahrstoffe, aber nicht die hier relevanten aromatischen Amine enthielt. Angesichts solcher Ungereimtheiten im Vortrag des Klägers, einerseits in großem Umfang berufsfremde Tätigkeiten als Maler ausgeübt zu haben, andererseits dabei Arbeiten ausgeführt zu haben, die schon fachlich nicht vorkommen, wie das früher behauptete Streichen von Haustüren mit Carbolineum, welches wegen seines Eigengeruchs hier keine Verwendung findet, konnte der Senat nicht umhin, dem Kläger aufzugeben, Zeugen für seinen Vortrag zu benennen. Der Kläger hat insoweit kaum nachvollziehbar behauptet, dies sei ihm nicht möglich. Allerdings konnte er keine Begründung dafür liefern, warum ihm aus der Zeit seit 1982 nicht ein einziger Arbeitskollege, Meister oder Vorgesetzter namentlich bekannt ist. Soweit er dem Senat den Eindruck vermitteln wollte, dies sei völlig normal, kann der Senat dem nicht folgen.

Vor diesem Hintergrund hat der Senat sich auch nicht gedrängt gesehen, durch weitere Amtsermittlung, wie beispielsweise die Beiziehung der Akten des VEB K, im B Stadtteil K Baustellen zu ermitteln, auf denen der Kläger eingesetzt gewesen sein könnte. Auch in einem durch den Grundsatz der Amtsermittlung geprägten Verfahren ist es nicht ausreichend, eine für den erlernten Beruf untypische Beschäftigung und die untypische Verwendung von Gefahrstoffen (Carbolineum im Innenbereich) zu behaupten, um Ermittlungen des Gerichts ins Blaue hinein auszulösen.

Der im Termin vom 20. Januar 2011 gestellte Antrag auf Beiziehung der Akten des VEB K stellt sich als unzulässiger Ausforschungsantrag dar. Denn hier wird dem Gericht nicht das Beweismittel des Urkundenbeweises zum Nachweis einer bestimmten behaupteten Exposition angetragen. Vielmehr soll das Gericht erst Baustellen und gefährdende Tätigkeiten ermitteln, um dem Kläger konkrete Tatsachenbehauptungen zu seiner Exposition zu ermöglichen. Danach liegt nicht ein Beweisantrag, sondern ein unzulässiger Ausforschungsantrag vor. Denn es ist im Beweisrecht unzulässig, Behauptungen aufzustellen, die nicht im erforderlichen Maß substantiiert sind, und Beweiserhebungen zur erforderlichen, aber unterbliebenen Substantiierung zu beantragen (Hartmann in Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, Einf. § 284 Rn. 27).

Der Expositionseinschätzung des Dr. W konnte nach allem nicht gefolgt werden. Dr. W legte dieser die Angaben des Klägers über einen jahrelangen täglichen Gebrauch von Carbolineum zugrunde; hier fehlt es jedoch aus den dargestellten Gründen am notwendigen Vollbeweis der Exposition. Die Begründung des Dr. W, dass der Gebrauch dieses Stoffes aufgrund der räumlichen Nähe zum Erzeugerbetrieb durchaus wahrscheinlich gewesen sei, war dabei keineswegs überzeugend.

Hinzuweisen ist zum anderen ferner darauf, dass auch die Erwägungen des Gutachters Dr. W zur Kausalität nicht überzeugten. Wenn jede Exposition gegenüber aromatischen Aminen, die größer als null ist, ausreichen soll für die Verursachung einer Krebserkrankung der Harnwege, so ist nicht nachvollziehbar, weshalb ausgerechnet eine auch noch so geringe berufliche Exposition für die Erkrankung wesentlich ursächlich gewesen sein soll, während die sonstigen, nach den Ausführungen des Gutachters vielfältigen anderen Nutzungen der Chemikalie nicht in die Abwägung einbezogen wurden und insbesondere auch der nicht unerhebliche Zigarettenkonsum, der den vom TAD in seiner worst-case-Betrachtung eingeräumten Carbolineum-Kontakt vom Umfang her bei weitem übersteigt, nicht relevant gewesen sein soll. Wie bereits ausgeführt, führt das Fehlen einer anerkannten Dosis-Wirkungs-Beziehung nicht per se dazu, dass bereits eine minimale Exposition als wesentlicher Verursachungsfaktor im Sinne der im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung geltenden Kausalitätslehre anerkannt werden könnte (so wohl Landessozialgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 7. September 2010, Az. L 1 U 2869/09, zitiert nach juris.de). Denn es ist wissenschaftlich nicht umstritten, dass aromatische Amine nicht nur in Stoffen vorkommen, mit denen Versicherte beruflich Umgang haben. Krebserzeugende aromatische Amine finden sich ubiquitär in der Umwelt. Sie finden sich in Nahrungsmitteln wie gegrilltem Fleisch, als Rückstände von Pflanzenschutzmitteln in Lebensmitteln, gelangen als Gummiabrieb von Reifen in die Umwelt, finden Verwendung in der Lokalanästhesie, stellen Verunreinigungen von Haarfärbemitteln dar und sind Bestandteil des Tabakrauches (vgl. Weiß, Hennig, Brüning, Arbeitsmed.Sozialmed.Umweltmed. 45, 5, 2010, mit Hinweis auf die einschlägigen wissenschaftlichen Studien). Will man geringste berufliche Einwirkungen als wesentlichen Verursachungsfaktor ausreichen lassen, lässt sich wissenschaftlich nicht mehr erklären, warum die übrigen beispielhaft genannten nicht-beruflichen Expositionsquellen, die ebenfalls geringfügige Einwirkungen verursachen, nicht auch Verursachungsfaktoren sein sollten. Dass nur eine dieser Geringfügigkeiten - nämlich die berufliche - dann wesentlich sein soll, ist nachvollziehbar gar nicht mehr zu begründen.

Insgesamt schließt sich das Gericht daher nach allem der Einschätzung des Dr. D in dessen Rückäußerung vom 07. Oktober 2004 an, wonach selbst bei Zugrundelegung der worst-case-Betrachtung der Beklagten mit geringen Einwirkungen von Carbolineum von wenigen Stunden im Jahr die Voraussetzungen für eine Anerkennung der BK 1301 nicht gegeben sind.

Nach allem war daher das erstinstanzliche Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie folgt dem Ergebnis in der Hauptsache.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.