Gericht | FG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 10.05.2017 | |
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Aktenzeichen | 3 K 3040/17 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 222 AO, § 102 FGO, § 170 Abs 1 StPO, § 170 Abs 2 StPO, § 152 Abs 2 StPO, § 160 Abs 1 StPO |
1. Allein aus der Einleitung eines steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahrens folgt keine Verneinung der Stundungswürdigkeit.
2. Die Forderung ist nur gefährdet, wenn der beitreibbare Betrag durch die Stundung geringer zu werden droht, nicht schon dann, wenn lediglich aktuell schon schlechte Vollstreckungsmöglichkeiten bei Stundung gleichbleibend schlecht bleiben würden.
3. Für die Dauer einer Stundung gegen Ratenzahlung besteht keine feste zeitliche Obergrenze.
Unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 29.09.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.01.2017 wird die Beklagte verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Verfahrens tragen der Kläger ¼, die Beklagte ¾.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des Kostenerstattungsanspruchs des Klägers abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Die Beteiligten streiten um die Stundung eines Rückforderungsanspruchs der Familienkasse aus zu Unrecht gezahltem Kindergeld.
I.1.
Der Kläger, Jahrgang …, ist türkischer Staatsangehöriger, Vater von fünf Kindern (geboren 1996 [Zwillinge], 1998, 2003 und 2005), in C… wohnhaft und seit … als Taxifahrer tätig, seit … selbständig. Die Kinder wurden zunächst in Deutschland beschult. Der Kläger bezog für sie Kindergeld.
2.a)
Die Zwillinge waren seit 2011 bei den Großeltern in B… in der Türkei wohnhaft und gingen dort zur Schule, was der Familienkasse anlässlich eines Antrags auf Fortzahlung des Kindergeldes vom 24.07.2014, bei der Familienkasse eingegangen am 01.08.2014, bekannt wurde, bei der eine Schulbescheinigung der 11. Klasse eines türkischen Gymnasiums für Islamische Priester und Prediger vorgelegt wurde. Am 07.08.2014 stellte die Familienkasse die Kindergeldzahlung für diese Kinder ein. Mit Bescheid vom 03.11.2014 (FG-A Bl. 12) hob die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung ab März bzw. ab Juni 2011 auf und forderte gezahltes Kindergeld jeweils bis Juli 2014 zurück mit der Begründung, die Kinder hätten in Deutschland weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt. Hiergegen wandte sich der Kläger mit Einspruch und nach abweisender Einspruchsentscheidung vom 02.12.2014 mit Klage und trug vor, die Kinder hätten noch immer ihre Wohnung in Deutschland und seien in allen Schulferien hier. Mit Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 07.03.2016 14 K 14256/14 wurde der Aufhebungsbescheid bestätigt. Zwar seien regelmäßige Aufenthalte der Kinder in den Ferien in C… glaubhaft gemacht, jedoch reichten diese nach den in der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs – BFH – genannten Kriterien bei einer Gesamtschau nicht aus, um einen inländischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen, vielmehr hätten die Kinder ihren Wohnsitz in der Türkei gehabt, die Aufenthalte in C… seien nur Besuchsaufenthalte gewesen.
b)
Im Anschluss an die Einspruchsentscheidung im vorgenannten Verfahren leitete die Familienkasse am 02.12.2014 eine Überprüfung bei den anderen drei Kindern ein. Auf Nachfrage gab der Kläger am 20.02.2015 an, dass auch die anderen drei Kinder in der Türkei zur Schule gingen und bei den Großeltern wohnten, und legte türkische Schulbescheinigungen vor, worauf die Familienkasse am 17.03.2015 die Kindergeldzahlungen einstellte. Auf weitere Nachfrage ebenfalls vom 17.03.2015, seit wann die anderen drei Kinder dort seien, teilte der Kläger am 22.06.2015 mit, die anderen Kinder lebten seit 15.09.2011 im Ausland. Mit Bescheid vom 02.07.2015 (FG-A Bl. 14) hob die Familienkasse die Festsetzung ab Oktober 2011 auf und forderte Kindergeld bis März 2015 zurück. Der hiergegen eingelegte Einspruch wurde mit Einspruchsentscheidung vom 06.04.2016 zurückgewiesen. Klage wurde nicht erhoben.
II.
Mit Verfügung vom 19.01.2016 leitete die Bußgeld- und Strafsachenstelle – BuStra – der Familienkasse ein Steuerstrafverfahren gegen den Kläger ein, setzte es jedoch zugleich aus, weil die zweite Einspruchsentscheidung noch nicht erlassen war. Nach deren Ergehen wurde das Verfahren fortgesetzt und am 18.04.2016 dem Kläger die Einleitung des Ermittlungsverfahrens bekannt gegeben und ihm zugleich Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Im Mai 2016 nahm der Rechtsanwalt des Klägers Einsicht in die Ermittlungsakte. Im Juli 2016 fragte die BuStra nach, ob eine Einlassung beabsichtigt sei. Mit Schreiben vom 21.03.2017 teilte die BuStra dem Klägervertreter mit, da eine Einlassung nicht vorliege, werde sie nun das Verfahren fortsetzen.
III.1.
Mit dem ersten Rückforderungsbescheid vom 03.11.2014 für zwei Kinder wurden 16.985 € zurückgefordert. Mit dem zweiten Rückforderungsbescheid vom 02.07.2015 für drei Kinder wurden 26.040 € zurückgefordert, insgesamt damit 43.025 €.
Am 17.03.2015 beantragte der Kläger Stundung gegen Ratenzahlung. Auch ohne Bewilligung begann er mit der Zahlung von Raten, derzeit monatlich 500 €. Am 29.09.2016 waren noch 39.059 € offen, am 31.12.2016 noch 35.025 € (FG-A Bl. 18,19), jeweils ohne angefallene Säumniszuschläge.
Im Rahmen des Verfahrens um die Bewilligung von Stundung übersandte der Kläger die ausgefüllten Formulare zu seiner Einkommens- und Vermögenslage sowie Jahresabschlüsse und betriebswirtschaftliche Auswertungen und gab auf Nachfrage ergänzende Auskünfte. Zusammengefasst ergibt sich folgendes Bild:
Der Kläger ist Inhaber eines Taxibetriebs mit mehreren Fahrzeugen und angestellten Taxisfahrern.
Gewinn 2012 rd. 49 T€ (bei einem Umsatz von 695 T€), Gewinn 2013 rd. 23 T€ (bei einem Umsatz von 426 T€), Bankverbindlichkeiten und Steuerwert PKW je rd. 85 T€.
Gewinn 2014 rd 52 T€ (bei einem Umsatz von 435 T€), Bankverbindlichkeiten 121 T€, Steuerwert PKW 103 T€
Gewinn 2015 (betriebswirtschaftliche Auswertung, mithin vorläufig) rd. 29 T€ (bei einem Umsatz von 373 T€).
Monatliche private Ausgaben: Miete und Heizung rd. 700 €, Strom und Gas 80 €, Versicherungen 200 €, insgesamt rd. 980 €.
Im Verwaltungsverfahren legte der Kläger auf Anforderung die Kontoauszüge seines Geschäfts- und seines Privatkontos für den Zeitraum von drei Monaten sowie seinen Mietvertrag vor.
2.
Mit Bescheid vom 29.09.2016 lehnte die beklagte Familienkasse die Stundung ab (Inkassoakte Bl. 347= FG-A Bl. 10). Voraussetzung für eine Stundung sei Stundungsbedürftigkeit und Stundungswürdigkeit. Stundungswürdig sei nur, wer aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen nicht über die notwendigen Mittel verfüge. Wer jedoch die mangelnde Leistungsfähigkeit selbst herbeigeführt habe, könne keine Stundung verlangen. Stundungswürdigkeit sei insbesondere zu verneinen, wenn der Schuldner die Rückforderung – zumindest teilweise – durch rechtzeitige Mitwirkung hätte verhindern können, z. B. bei Verletzung der Mitwirkungspflichten nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG. Eine Verneinung erfolge zudem auch, wenn eine strafrechtliche Verfolgung durchgeführt werde. Beides treffe hier zu.
3.
Den Einspruch vom 31.10.2016, begründet am 04.01.2017 (Inkassoakte Bl. 368 = FG-A Bl. 16), wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 18.01.2017 (Inkassoakte Bl. 388 = FG-A Bl. 22) als unbegründet zurück.
Es sei zwar nachvollziehbar, dass der Kläger derzeit nicht in der Lage sei, die Forderung im Ganzen zu erfüllen. Es komme jedoch neben der Stundungsbedürftigkeit auch auf die Stundungswürdigkeit an. Stundungswürdigkeit sei gegeben, wenn der Schuldner die mangelnde Leistungsfähigkeit nicht selbst herbeigeführt oder durch sein Verhalten nicht in eindeutiger Weise gegen die Interessen der Allgemeinheit verstoßen habe. Letzteres treffe aber zu. Der Kläger habe die Überzahlung über Jahre hinweg zumindest grob fahrlässig dadurch verursacht, dass er den Wegzug seiner Kinder aus Deutschland der Familienkasse nicht mitgeteilt habe. Es gebe aus diesem Grunde auch eine strafrechtliche Würdigung des Sachverhalts. Der Einspruchsführer habe nicht im Sinne einer steuerrechtlichen Selbstanzeige mitgewirkt. Der Sachverhalt sei erst auf Dringen der Familienkasse vollständig offenbart worden. Durch sein Verhalten habe der Einspruchsführer die Überzahlung des Kindergeldes in erheblichem Ausmaß daher selbst verursacht.
Schließlich müsse bei einer Stundung auch gewährleistet sein, dass die Forderung nicht gefährdet werde. Der Einspruchsführer sei selbständig und nach eigenem Vortrag nicht in der Lage, die bestehenden Forderungen auf einmal zu zahlen. Es werde zwar nicht verkannt, dass er monatliche Teilzahlungen zur Forderungstilgung leiste. Es sei jedoch zweifelhaft, ob in derselben Höhe in das Vermögen des Klägers erfolgreich vollstreckt werden könne. Angesichts der Höhe der Forderungen würde sich selbst bei gleichbleibender Höhe der monatlichen Zahlungen die Tilgung noch über mindestens sieben Jahre hinziehen. Dabei sei gar nicht absehbar, ob der Kläger in der Lage sein werde, Raten in derzeitiger Höhe konsequent weiter zu leisten. Es sei daher angesichts der Höhe der Forderung nicht gewährleistet, dass durch eine Stundung die Forderung nicht gefährdet würde.
IV.
Hiergegen erhob der Kläger am 20.02.2017 Klage und trägt vor:
Bis zur Entscheidung des Finanzgerichts im Verfahren 14 K 14256/14 am 07.03.2016 sei der Kläger davon ausgegangen, zu Recht Kindergeld bezogen zu haben. Die derzeitige Ratenzahlung von 500 € belasse dem Kläger weniger, als ihm nach den Regeln des Pfändungsschutzes zustehen würde (Jahresbrutto durchschnittlich rd. 56 T€, Jahresnetto nach GewSt, ESt und Krankenversicherung rd. 31 T€, daraus Monatsnetto rd. 2.580 €, aufgrund Unterhaltsverpflichtung gegenüber Ehefrau und sechs Kindern unpfändbarer Betrag 2.559 €, pfändbar monatlich damit rd. 21 €).
Der Kläger beabsichtige, ab 01.07.2017 die Ratenzahlung von 500 € auf 750 € pro Monat zu erhöhen, nachdem er Steuerrückstände im Anschluss an eine Betriebsprüfung, die er ebenfalls derzeit in Raten begleiche, getilgt habe.
Die Stundung würde die Forderung nicht gefährden. Der Kläger habe bereits bewiesen, dass er die monatlichen Raten seit längerer Zeit regelmäßig erbringe. Der Kläger erfülle darüber hinaus auch seine sonstigen fiskalischen Verantwortlichkeiten. Es führe seinen Taxibetrieb kontinuierlich und habe bislang – anders als andere Mitbewerber – sich auch nie in eine Insolvenz geflüchtet. Ohne Stundung würde jedoch sein Existenzminimum unterschritten, oder er müsse erstmalig Insolvenz anmelden. Dies würde die Forderung der Familienkasse jedoch gerade gefährden.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 29.09.2016 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.01.2017 die Beklagte zu verpflichten, die noch offenen Zahlungsverpflichtungen aus den Bescheiden vom 03.11.2014 und vom 02.07.2015 zu stunden mit der Maßgabe, dass der Kläger monatlich 500 €, ab 01.07.2017 weitere 250 €, zahlt.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Familienkasse verweist auf ihre Einspruchsentscheidung.
V.1.
Die Beteiligten haben auf mündliche Verhandlung verzichtet (Kläger: FG-A Bl. 59; Familienkasse: FG-A Bl. 58).
2.
Die Inkassoakten der beklagten Familienkasse D… (zwei Bände, bis Bl. 402), die Ermittlungsakten der BuStra der Familienkasse E… (zwei Bände, bis Bl. 218), ein Ausdruck der Kindergeldakte der Familienkasse E… (bis Bl. 158) sowie die Finanzgerichtsakte 14 K 14256/14 des hiesigen Gerichts lagen vor.
Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
A.
Der angefochtene Bescheid ist ermessensfehlerhaft und daher rechtswidrig (§ 101 Finanzgerichtsordnung – FGO –). Er ist aufzuheben.
Die Entscheidung über die Gewährung einer Stundung (§ 222 Abgabenordnung – AO –) ist eine Ermessensentscheidung, die vom Gericht auf Ermessensfehler zu prüfen ist (§ 102 FGO).
I.
Daher kommt es auf den Sachverhalt an, wie er sich der Familienkasse zum Zeitpunkt der (letzten) Ermessensentscheidung, also der Einspruchsentscheidung, hier vom 18.01.2017, dargestellt hat. Danach erst eingetretene Gesichtspunkte, etwa die erstmals mit Klageerhebung getätigte Zusage künftig höherer Ratenzahlung, haben außer Betracht zu bleiben.
Es bedeutet jedoch andererseits, dass die Entscheidung schon dann ermessensfehlerhaft ist, wenn die Familienkasse den Sachverhalt nicht einwandfrei und erschöpfend ermittelt hat.
Eine fehlerfreie Ermessensausübung setzt voraus, dass die Behörde den entscheidungserheblichen Sachverhalt einwandfrei und erschöpfend ermittelt (vgl. BFH, Urteil vom 15.06.1983 I R 76/82, BStBl II 1983, 672; ferner BFH-Urteile vom 22.Februar 1972 VII R 80/69, BFHE 105, 220, BStBl II 1972, 544, und vom 31.März 1976 I R 51/74, BFHE 118, 537, BStBl II 1976, 499; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht I, 9.Aufl., S.200). Hierzu gehört zumindest die Auswertung des gesamten Akteninhalts. Der BFH hat ausgeführt (Urteil vom 22.06.1990 III R 150/85, BStBl II 1991, 864, Juris Rn. 16): „Denn eine fehlerfreie Ermessensentscheidung setzt voraus, dass die Finanzbehörden ihre Entscheidung anhand des einwandfrei und erschöpfend ermittelten Sachverhalts prüfen und dabei die Gesichtspunkte tatsächlicher und rechtlicher Art berücksichtigen, die nach Sinn und Zweck der Norm, die das Ermessen einräumt, maßgeblich sind…“ Dazu gehört zumindest die Auswertung und Erwägung des gesamten Akteninhalts, ggf. einschließlich beigezogener oder beizuziehender Akten, jeweils nach dem Stand zum Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung.
Gemessen an diesem Maßstab ist die Entscheidung in mehrerer Hinsicht ermessensfehlerhaft.
II.
Dies gilt zum einen für die Schlussfolgerung, der Kläger habe die Überzahlung über Jahre hinweg zumindest grob fahrlässig selbst verursacht.
1.
Unzutreffend ist bereits die Erwägung, es gebe eine strafrechtliche Würdigung des Sachverhalts.
Die BuStra hat den Sachverhalt gerade noch nicht gewürdigt. Es fehlt – auch heute noch – an deren abschließender Entscheidung (§ 170 Abs. 1 StPO), ob Anklage erhoben, Strafbefehl beantragt oder das Verfahren mangels hinreichenden Tatverdachts gemäß § 170 Abs. 2 StPO eingestellt wird. Aufgabe der BuStra als Staatsanwaltschaft in Steuersachen ist es, nach Erforschung des Sachverhalts zu entscheiden, ob öffentliche Anklage zu erheben ist (§ 160 Abs. 1 StPO). Bieten die Ermittlungen genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage, so erhebt die Staatsanwaltschaft sie durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht (§ 170 Abs. 1 StPO); andernfalls stellt sie das Verfahren ein (§ 170 Abs. 2 StPO).
Allein die Einleitung eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens (§ 152 Abs. 2, § 160 Abs. 1 StPO) stellt noch keine Würdigung dar. Für die Einleitung reichen nämlich zureichende tatsächliche Anhaltspunkte. Mit den Worten „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ wird der sog. Anfangsverdacht beschrieben. Der Begriff ist auch für § 160 Abs. 1 StPO maßgebend, wo lediglich vom „Verdacht“ die Rede ist. Als auslösendes Element für die Einleitung eines zunächst auf Verdachtsklärung gerichteten Verfahrens ist der Anfangsverdacht im Vergleich zu den sonstigen Verdachtsgraden durch eine verhältnismäßig geringe Intensität gekennzeichnet. Dringend im Sinne der §§ 111a, 112 StPO braucht er nicht zu sein; mit dem hinreichenden Verdacht im Sinne des § 203 StPO hat er nichts zu tun. Es genügt eine gewisse, wenn auch noch geringe Wahrscheinlichkeit, bei der der Zweifel an der Richtigkeit des Verdachts noch überwiegen darf. Auch dürftige und noch ungeprüfte Angaben, Gerüchte und einseitige Behauptungen können ausreichen, denn die Prüfung des Grades ihrer Wahrscheinlichkeit ist gerade das Ziel und kann deshalb nicht der Ausgangspunkt von Ermittlungen sein (Beulke in Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Auflage 2007).
Aus einem so geringen Grad von Verdacht folgt nichts für eine Stundungsunwürdigkeit eines Schuldners. Sollte die Familienkasse gemeint haben, dass immer schon dann, wenn ein Ermittlungsverfahren gegen den Schuldner eingeleitet worden ist, unabhängig von dessen Ergebnis die Stundungswürdigkeit zu verneinen sei, wäre dies ermessensfehlerhaft.
2.
Die Würdigung der Familienkasse, der Kläger habe die Überzahlung über Jahre hinweg zumindest grob fahrlässig verursacht, beruht auf einer ungenügenden Würdigung des Sachverhalts.
a)
Die Familienkasse bleibt bereits – über den Hinweis auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren hinaus, das jedoch gerade nicht aussagekräftig ist (vgl. 1.) – jede Begründung dieser Wertung anhand von Tatsachen aus dem Sachverhalt schuldig. Eine schlicht unterlassene Sachverhaltswürdigung ist jedoch ebenfalls ermessensfehlerhaft.
Die Familienkasse verkennt, dass nicht jede unterlassene Mitteilung automatisch vorsätzlich oder grob fahrlässig ist. Dazu ist es nämlich erforderlich, dass der Kindergeldbezieher erkennt (bei Vorsatz) bzw. jedenfalls bei Anspannung seiner Erkenntniskräfte hätte erkennen können (bei grober Fahrlässigkeit), dass die unterlassene Angabe relevant ist für die Festsetzung des Kindergeldes.
Die Frage, wann Kinder, die zu Ausbildungszwecken im Ausland sind, ihren inländischen Wohnsitz aufgeben, ist komplex und Gegenstand zahlreicher, auch höchstrichterlicher Urteile. Sie ist im Einzelfall ggf. schwer zu entscheiden. Hinzuweisen ist auf die Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 23.06.2015 III R 38/14 und Urteil vom 23.06.2015 III R 38/14), wonach Folgendes gilt:
Während eines mehrjährigen Auslandsaufenthalts zum Zwecke einer Ausbildung behält ein Kind seinen Wohnsitz in der Wohnung der Eltern im Inland im Regelfall nur dann bei, wenn es diese Wohnung zumindest überwiegend in den ausbildungsfreien Zeiten nutzt. Nicht erforderlich ist hingegen, dass das Kind den weit überwiegenden Teil der ausbildungsfreien Zeit im Inland verbringt. Für die Beibehaltung eines Inlandswohnsitzes im Hause der Eltern bei mehrjährigen Auslandsaufenthalten reichen nur kurze, üblicherweise durch die Eltern-Kind-Beziehung begründete Besuche regelmäßig nicht aus. Dies ist bei lediglich kurzzeitigen Aufenthalten --zwei bis drei Wochen pro Jahr-- nach der Lebenserfahrung der Fall. Für die Beibehaltung eines Wohnsitzes sind die tatsächlichen Verhältnisse ohne Rücksicht auf subjektive Momente oder Absichten entscheidend.
In die Zusammenschau der tatsächlichen Umstände für die Beibehaltung des inländischen Wohnsitzes sind die Unterbringung am Ausbildungsort und in der elterlichen Wohnung, die persönlichen Beziehungen des Kindes am Wohnort der Eltern einerseits und am Ausbildungsort andererseits einzubeziehen. Ein Abstellen auf die Herkunft der Eltern und das Heimatland des Kindes hat hingegen zu unterbleiben.
Für das Innehaben einer Wohnung im Inland ist allein auf die tatsächlichen Verhältnisse und nicht auf die persönlichen oder finanziellen Beweggründe für die fehlenden Inlandsaufenthalte abzustellen. Entsprechend kommt es für die Frage der Wohnsitzbeibehaltung auch nicht auf die große Entfernung zwischen Studienort und der im Inland genutzten Wohnung und die damit verbundene lange Reisedauer an.
Die Beurteilung, ob objektiv erkennbare Umstände auf eine Beibehaltung und Nutzung der Wohnung schließen lassen, obliegt im Wesentlichen dem FG; seine Würdigung der tatsächlichen Verhältnisse ist nur begrenzt überprüfbar.
Eine grobe Fahrlässigkeit kann dem Schuldner aber nur unterstellt werden, wenn er nach Laienverstand hätte erkennen müssen, dass hier rechtlich betrachtet eine Aufgabe des inländischen Wohnsitzes in Frage kommt. Anderenfalls hätte er nämlich auch gar nicht erkennen können, dass er zur Anzeige des aus seiner Sicht „Zweitwohnsitzes“ seiner Kinder in der Türkei an die Familienkasse verpflichtet war.
Die Familienkasse hätte daher anhand der Umstände des Einzelfalles, auch unter Berücksichtigung der persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten des Klägers, darlegen müssen, warum sie meint, den Kläger habe die Unterlassung der rechtzeitigen Mitteilung des Wegzugs grob fahrlässig begangen.
b)
Die Familienkasse hätte dabei auch würdigen müssen, dass der Kläger anlässlich des Antrages auf Fortzahlung des Kindergeldes im Juli 2014 anscheinend unbefangen und arglos die türkische Schulbescheinigung vorgelegt hat, obwohl ihm – bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Begehung – entsprechend hätte klar sein müssen, dass dies zu entsprechenden Nachfragen und ggf. nachfolgend zur Entdeckung führt.
Der Kläger hat überdies darauf hingewiesen, er habe den mehrjährigen Auslandsaufenthalt dem Bürgeramt (der Meldebehörde) und dem Jugendamt (vermutlich im Hinblick auf die sonst bestehende Schulpflicht in Deutschland) mitgeteilt. Es wäre zu bedenken gewesen, dass auch dies ein Indiz für die Arglosigkeit des Klägers sein könnte, denn als Laie ist ihm die behördliche Trennung wohl nicht notwendig bewusst und er hätte ggf. damit rechnen müssen, dass die Familienkasse vom Jugendamt davon erfährt.
Insgesamt hat die Familienkasse wesentliche aus den Akten erkennbare Sachverhaltselemente für die Beurteilung des Vorliegens von Vorsatz oder grober Fahrlässigkeit unbeachtet und damit ungewürdigt gelassen, wodurch ihre Entscheidung ermessensfehlerhaft wird.
c)
Möglicherweise hätte der Kläger bei Erhalt des ersten Rückforderungsbescheids vom 03.11.2014 auf die Idee kommen müssen, dass dasselbe auch für die anderen Kinder gelten könnte, und insoweit könnte ab dann Vorsatz oder grobe Fahrlässigkeit in Erwägung zu ziehen sein hinsichtlich der dann unterlassenen Mitteilung, dass bei den anderen Kindern derselbe Sachverhalt vorliegt.
Dies beträfe allerdings nur die Rückforderung für die weiteren drei Kinder (zweiter Rückforderungsbescheid) und auch dort nur den Zeitraum von Dezember 2014 bis März 2015, also im Verhältnis zum gesamten Rückforderungsbetrag nur einen verhältnismäßig geringen Anteil.
III.
Auch die Annahme einer Gefährdung der Forderung ist nicht unter erschöpfender Würdigung des sich aus den Akten ergebenden Sachverhalts begründet.
1.
Es kommt nicht darauf an, ob etwa schon jetzt schlechte Vollstreckungsmöglichkeiten bei Stundung gleichbleibend schlecht bleiben würden, sondern ob sie sich zu verschlechtern drohen. Es ist zu fragen, welche Vollstreckungsmöglichkeiten bestehen einerseits jetzt und andererseits, falls gestundet, dann aber doch nicht gezahlt und dann letztlich später vollstreckt wird, später. Die Forderung ist gefährdet, wenn der jetzt beitreibbare Betrag den Umständen nach höher ist als der ggf. nach Stundung später beitreibbare Betrag.
2.
Hierfür hat die Familienkasse aus dem konkreten Sachverhalt nichts dargetan. Die Familienkasse hat nicht einmal erwogen, welche Vollstreckungsmöglichkeiten aktuell mutmaßlich bestehen würden, geschweige denn, welche Vermögensgegenstände des Schuldners, auf die jetzt noch Zugriff bestünde, zukünftig als Vollstreckungsobjekt wegzufallen drohen.
Allein dass der Schuldner selbständig ist, sagt darüber nichts. Die voraussichtlich längere Dauer der Ratenzahlung bis zur Begleichung sagt für sich genommen auch nichts aus; eine feste zeitliche Obergrenze besteht nicht. Auch dass nicht gesichert ist, ob der Schuldner die Ratenzahlung stets wird fortführen können, sagt nichts darüber aus, ob sich seine Vermögenslage zu verschlechtern droht. Schließlich sagt auch die Höhe der Forderung dazu nichts.
Zwar trifft die Beobachtung zu, dass der Schuldner die Forderung derzeit nicht auf einmal begleichen kann. Könnte er dies, würde er wohl aber keine Stundung mit Ratenzahlung beantragen. Es wäre ein Grund, die Stundungsbedürftigkeit, nicht aber die Stundungswürdigkeit zu verneinen. Die aktuellen Zahlungsprobleme des Schuldners ergeben gerade seine Stundungsbedürftigkeit und sprechen für sich genommen nicht gegen die Stundungswürdigkeit. Sonst würde in jedem Fall die Bejahung der Stundungsbedürftigkeit die Bejahung der Stundungswürdigkeit ausschließen, und es wäre nie Stundung zu gewähren.
B.
Das Gericht ist allerdings nicht berechtigt, seine eigenen Ermessenserwägungen an die Stelle der unzutreffenden Ermessenserwägungen der Familienkasse zu setzen. Der Ausnahmefall einer Ermessensreduzierung auf Null, in dem nur die Gewährung der Stundung ermessensgemäß und damit vom Gericht auszusprechen wäre, ist nicht ersichtlich. Das Gericht hat daher gemäß § 101 Satz 2 FGO die Familienkasse (nur) zur Neubescheidung unter Beachtung der sich aus A. ergebenden Rechtsauffassung zu verpflichten.
Da eine Verpflichtung zur Stundung beantragt war, war die darüber hinausgehende Klage abzuweisen.
C.I.1.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO.
a)
Die Verpflichtung zur Neubescheidung ist gegenüber der beantragten Verpflichtung zur Stundung nur ein Teilerfolg (vgl. Ratschow in Gräber, FGO, 8. Aufl. 2015, § 136 Rn. 2 mit Nachweisen zur Rechtsprechung des BFH), denn sie eröffnet dem Kläger die Chance auf ein für ihn günstiges Ergebnis, gewährt jedoch noch keine Sicherheit hierauf.
b) aa)
Wäre es völlig vage und ungewiss, ob bei erneuter Ermessensausübung der Familienkasse die Stundung gewährt wird, wäre dieser Teilerfolg mit einem Obsiegen zur Hälfte zu schätzen (vgl. BFH, Urteil vom 06.12.2012 V R 1/12, BFH/NV 2013, 906, Juris Rn. 18).
bb)
Hier allerdings sprechen nach Auffassung des Senats viele erkennbare Umstände dafür, dass die Familienkasse, wenn sie den Sachverhalt umfassend und zutreffend würdigt und sich vom Zweck der Ermessensregelung leiten lässt, bei erneuter Prüfung mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Stundung gewähren wird. Daher ist hier ein überwiegender Erfolg der Klage festzustellen, so dass die Familienkasse dementsprechend einen höheren Anteil an den Kosten zu tragen hat.
2.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung - ZPO -.
II.
Gründe für die Zulassung der Revision, § 115 Abs. 2 FGO, sind nicht ersichtlich.