Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 18. Senat | Entscheidungsdatum | 29.07.2013 | |
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Aktenzeichen | L 18 AS 1314/13 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 102 Abs 2 SGG |
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. Mai 2013 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
I.
Der Kläger begehrt Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II).
Der Beklagte hatte dem 1955 geborenen Kläger für die Zeit vom 11. Februar 2008 bis 31. Juli 2008 Regelleistungen nach dem SGB II bewilligt (Bescheide vom 15. Februar 2008). Die Kosten der Wohnheimunterbringung rechnete der Beklagte direkt mit dem Träger ab. Mit Änderungsbescheid vom 17. Mai 2008 gewährte der Beklagte für den Monat Juli 2008 die – m.W.v. 1. Juli 2008 - erhöhte Regelleistung (abzüglich bereits in den Wohnheimkosten enthaltener Kosten der Haushaltsenergie i.H.v. 21,75 € = 329,25 €). Den hiergegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 11. November 2008 zurück.
Im Klageverfahren vor dem Sozialgericht (SG) Berlin hat die Kammervorsitzende den Kläger mit - öffentlich zugestelltem und den vollen Namen der Kammervorsitzenden wiedergebendem - Schreiben vom 18. September 2009 darauf hingewiesen, dass nach Auffassung des Gerichts das Rechtsschutzinteresse entfallen sei. Der Kläger werde gemäß § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufgefordert, das Verfahren zu betreiben, nachdem er sich seit 19. November 2008 (Klageerhebung) nicht mehr geäußert und die gerichtlichen Auflagen vom 19. Januar 2009/15. Juni 2009 nicht erfüllt habe. Es werde darauf hingewiesen, dass die Klage gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG als zurückgenommen gelte, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibe. Die Frist beginne mit der Zustellung dieser Aufforderung. Nach Ablauf der Aushangsfrist hat die Kammervorsitzende vermerkt, dass die Klage als zurückgenommen gelte.
Am 20. Dezember 2010 hat der Kläger auf der Rechtsantragstelle des SG gerügt, dass die Klage nicht zurückgenommen worden sei. Am 11. März 2011 hat er um Fortführung des Verfahrens gebeten. Auf die mündliche Verhandlung vom 8. Mai 2013, in der der Kläger beantragt hat, den Beklagten unter Änderung der angefochtenen Bescheide zur Gewährung fortlaufender SGB II-Leistungen „für die letzten 30 Jahre“ an ihn und seine Familie zu verurteilen, hat das SG durch Urteil vom selben Tag festgestellt, dass die Klage zurückgenommen sei. Die Voraussetzungen einer fingierten Klagerücknahme seien erfüllt. Der Kläger sei den gerichtlichen Auflagen im Schreiben vom 19. Januar 2009/15. Juni 2009, in dem das Gericht auf die für notwendig erachtete Mitwirkung des Klägers hingewiesen und konkrete Mitwirkungshandlungen von diesem erbeten habe, nicht nachgekommen. Da sich die Klage nach dem erkennbaren Sachverhalt gegen den die Regelsatzerhöhung verlautbarenden und damit den Kläger nur begünstigenden Bescheid vom 17. Mai 2008 gerichtet habe, sei von einem Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Klägers auszugehen gewesen. Auch in der Sache habe die Klage indes keine Aussicht auf Erfolg gehabt.
Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Auf seine eingereichten Schreiben nebst Anlagen wird Bezug genommen.
Aus dem Vorbringen des Klägers ergibt sich der Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. Mai 2013 aufzuheben und den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 17. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2008 zu verurteilen, ihm und seiner Familie auch für die Vergangenheit höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren.
Der Beklagte hat sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.
Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf deren vorbereitende Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Die Gerichtsakte (2 Bände) und die Akten des SG Berlin - S 100 AS 9570/11 ER - haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
II.
Der Senat hat gemäß § 153 Abs. 4 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) die Berufung des Klägers durch Beschluss zurückweisen können, weil er dieses Rechtsmittel einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich gehalten hat. Die Beteiligten sind hierzu vorher gehört worden (vgl. § 153 Abs. 4 Satz 2 SGG).
Die Berufung des Klägers, mit der er bei verständiger Würdigung (vgl. § 123 SGG) trotz seines insoweit inhaltlich weitgehend nicht nachvollziehbaren Vorbringens sein erstinstanzliches Begehren weiter verfolgen dürfte, ist nicht begründet. Das SG hat zu Recht festgestellt, dass die Klage durch Fiktion der Klagerücknahme erledigt ist.
Mit dem Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes (SGGArbGGÄndG) vom 26. März 2008 (BGBl I 444) wurde m.W.v. 1. April2008 in Abs. 2 des § 102 SGG eine Fiktion der Klagerücknahme bei Nichtbetreiben eingefügt. Die Norm lautet:
"Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Absatz 1 gilt entsprechend. Der Kläger ist in der Aufforderung auf die sich aus Satz 1 und gegebenenfalls aus § 197a Abs 1 Satz 1 (SGG) in Verbindung mit § 155 Abs 2 VwGO ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen."
Bei der fingierten Klagerücknahme handelt es sich um einen gesetzlich geregelten Fall des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses (Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 74/09 R = SozR 4-1500 § 153 Nr. 9; Meyer-Ladewig/ Keller/Leitherer, SGG, 10. Aufl. 2012, § 102 Rn 8a); sie erledigt den Rechtsstreit in der Hauptsache (§ 102 Abs 2 Satz 2 i.V.m. Abs 1 Satz 2 SGG)
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat bereits mehrfach entschieden, dass Vorschriften mit der Rechtsfolge einer Verfahrensbeendigung mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz vereinbar sind; es hat aber zugleich betont, dass Regelungen dieser Art Ausnahmecharakter haben, der bei ihrer Auslegung und Anwendung besonders zu beachten ist (BVerfG <Kammer>, Beschluss vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167 zu § 81 AsylVfG und § 92 Abs 2 VwGO; vgl. bereits BVerfG <Vorprüfungsausschuss>, Beschluss vom 7. August 1984 - 2 BvR 187/84 = NVwZ 1985, 33; BVerfG <Vorprüfungsausschuss>, Beschluss vom 15. August1984 - 2 BvR 357/84 = DVBl 1984, 1005; BVerfG <Kammer>, Beschluss vom 19. Mai 1993 - 2 BvR 1972/92 = NVwZ 1994, 62f, alle zu § 33 AsylVfG 1982). Dass sich auch der Gesetzgeber des SGGArbGGÄndG bei der Einfügung der Klagerücknahmefiktion in § 102 Abs 2 SGG der vom BVerfG aufgezeigten engen verfassungsrechtlichen Grenzen unter Beachtung ihres Ausnahmecharakters bewusst war, kommt in den Materialien deutlich zum Ausdruck. In der Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG heißt es zum dortigen Entwurf des § 102 Abs 2 SGG unter Bezugnahme auf die vorgenannte Rechtsprechung des BVerfG und des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 12. April 2001 - 8 B 2/01 = NVwZ 2001, 918) ausdrücklich, dass "die Auslegung und Anwendung der Norm nur vor dem Hintergrund ihres strengen Ausnahmecharakters erfolgen" darf (BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>).
Eine Rücknahmefiktion setzt den Ablauf einer zuvor vom Gericht gesetzten Frist zum Betreiben des Verfahrens voraus (vgl. § 102 Abs 2 Satz 1 SGG) Eine in diesem Sinne wirksame Fristsetzung ist vorliegend erfolgt, und zwar durch die von der zuständigen Kammervorsitzenden mit vollem Namen unterzeichnete Betreibensaufforderung vom 18. September 2009. Auch die gemäß § 63 Abs 1 Satz 1 SGG zuzustellende Ausfertigung/beglaubigte Abschrift (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung zum SGGArbGGÄndG, BT-Drucks 16/7716 S 19 zu Nummer 17 <§ 102>; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, a.a.O., § 63 Rn 3) lässt diesen Umstand erkennen, d.h. sie hat durch Wiedergabe des vollen Namens der Kammervorsitzenden des SG ausgewiesen, dass die Betreibensaufforderung von ihr stammt (vgl. zu diesen Voraussetzungen BSG a.a.O.). Die Betreibensaufforderung wurde dem Kläger wirksam durch Aushang einer Benachrichtigung an der Gerichtstafel öffentlich zugestellt (§ 63 Abs. 2 SGG i.V.m. § 185 Zivilprozessordnung), da der Aufenthaltsort des Klägers unbekannt war und auch trotz umfangreicher Bemühungen des SG nicht ermittelt werden konnte. Ausgehend von der Zustellung nach Ablauf eines Monats seit dem Aushang der Berichtigung (9. November 2009) hat der Kläger das Verfahren auch länger als drei Monate nicht betrieben; er hat sich erst am 20. Dezember 2010 wieder bei dem SG gemeldet.
Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung bestanden auch sachlich begründete Anhaltspunkte für den Wegfall des Rechtsschutzbedürfnisses (vgl BVerfG <Kammer>, Beschluss vom 27. Oktober 1998 - 2 BvR 2662/95 - DVBl 1999, 166, 167; BSG a.a.O.) Solche Anhaltspunkte können sich im sozialgerichtlichen Verfahren aus einer Verletzung der prozessualen Mitwirkungspflichten des Klägers (§ 103 Satz 1 Halbsatz 2 SGG) ergeben. Stets muss sich daraus aber der Schluss auf einen Wegfall des Sachbescheidungsinteresses, also auf ein Desinteresse des Klägers an der weiteren Verfolgung seines Begehrens, ableiten lassen. Maßgebend ist daher, ob der Kläger einer vom Gericht zu Recht für notwendig gehaltenen Mitwirkung nicht nachkommt. Vorliegend hat das SG im Hinblick auf den angefochtenen Bescheid vom 17. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2008, der lediglich für Juli 2008 die Erhöhung der Regelleistung für den Kläger verlautbart hatte, und den damit nicht in Einklang zu bringenden, bei der Rechtsantragstelle gestellten Sachantrag, den Beklagten zu verurteilen, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts „für die vergangenen 25 Jahre meiner und der Obdachlosigkeit meiner gesamten Familie (4 Kinder) fortlaufend zu zahlen“, beanstandungsfrei die Auflage erteilt, konkret mitzuteilen, gegen welchen anderen Bescheid sich der Kläger ggfs. noch wende. Ferner bat das SG um eine, bereits mit der Klageeingangsverfügung unter Fristsetzung angeforderte, Begründung der Klage und um Mitteilung, wo sich die Ehefrau und die Kinder aufhalten. Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, dass der Vorsitzende den Kläger zu einer Begründung aufzufordern hat, wenn die Klage insoweit unvollständig ist (vgl. 92 Abs. 1 Satz 4, Abs. 2 Satz 1 SGG). Auch für die sinngemäß (auch) namens der Familienmitglieder erhobene Klage bedurfte es zudem weiterer Auskünfte von Seiten des Klägers, die dieser innerhalb der mit der Betreibensaufforderung gesetzten Frist nicht erteilt hat. Es bestand gerade auch im Hinblick darauf, dass zulässiger Streitgegenstand ohnehin nur die Leistungshöhe für den Monat Juli 2008 sein konnte, deshalb kein Anlass, von einem fortbestehenden Rechtsschutzinteresse des Klägers auszugehen.
Auch in der Sache hätte die Klage indes keinen Erfolg gehabt. Denn - wie bereits dargelegt - erschöpfte sich der Regelungsgehalt des hier nur zulässig anzugreifenden Bescheides vom 17. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. November 2008 in der Erhöhung der Regelleistung des Klägers für Juli 2008 um einen Betrag von 4,- €. Insoweit ist der Bescheid aber nicht zu beanstanden. Gegen die zuvor ergangenen Bescheide vom 15. Februar 2008 für den Bewilligungszeitraum vom 11. Februar 2008 bis 31. Juli 2008 hatte der Kläger keinen Widerspruch eingelegt; diese Bescheide sind daher bestandskräftig geworden.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG liegen nicht vor.