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GdB - Zeitpunkt


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat Entscheidungsdatum 23.08.2012
Aktenzeichen L 13 SB 146/10 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 69 SGB 9

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. April 2010 geändert sowie der Beklagte unter Änderung des Bescheides vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2006 verpflichtet, bei dem Kläger ab dem 1. Juli 2009 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte hat dem Kläger die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Rechtsstreits zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des Grades der Behinderung (GdB).

Der 1946 geborene Kläger, bei dem der Beklagte mit Bescheid vom 12. August 2005 einen GdB von 40 festgestellt hatte, stellte am 29. August 2005 einen Neufeststellungsantrag. Nach versorgungsärztlicher Auswertung der eingeholten ärztlichen Befunde lehnte der Beklagte eine Erhöhung des GdB mit Bescheid vom 23. März 2006 ab. Dem legte er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

a) Schwerhörigkeit (20),
b) Darmwandausstülpungen (Divertikulose) (20),
c) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (20),
d) Herzrhythmusstörungen (20),
e) Funktionsbehinderungen des Schultergelenks beidseits (10),
f) Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen (10).

Auf den Widerspruch des Klägers holte der Beklagte das Gutachten des Internisten Dr. Sch vom 8. August 2006 ein, der im Hinblick auf die von ihm festgestellte

g) Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks,

die er mit einem Einzel-GdB von 20 bewertete, einen Gesamt-GdB von 50 vorschlug. Dieser Einschätzung schloss sich der Versorgungsarzt des Beklagten nicht an, der für das Knieleiden einen Einzel-GdB von 10 – mit der Folge eines Gesamt-GdB von 40 – ansetzte. Dem folgend wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 21. September 2006 zurück.

Mit der Klage bei dem Sozialgericht Berlin hat der Kläger die Feststellung eines GdB von mindestens 50 begehrt. Seit August 2009 ist er berentet. Das Sozialgericht hat neben Befundberichten das Gutachten des Allgemeinmediziners L vom 14. Januar 2010 eingeholt, der die durch den Beklagten vorgenommene Bewertung bestätigt hat.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 6. April 2010 abgewiesen. Es ist hierbei dem gerichtlichen Sachverständigengutachten gefolgt.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Unter Vorlage diverser ärztlicher Bescheinigungen bringt er vor, dass seine Behinderungen, insbesondere das Darmleiden, mit einem höheren Einzel-GdB zu bewerten seien. Zudem seien die Schäden seiner Harnorgane, die Bildung eines Blasendivertikels mit der Folge von Blasenentleerungsstörungen, zu Unrecht unberücksichtigt geblieben.

Nach Einholung des Befundberichts der urologischen Praxis Dres. P, St und L vom 19. November 2010 hat der Beklagte die versorgungsärztliche Stellungnahme der Urologen Dr. S vom 15. Dezember 2010 vorgelegt, die – unter Beigehaltung des Gesamt-GdB von 40 – empfohlen hat, mit Wirkung ab August 2009 als weitere Behinderung aufzunehmen:

- Entleerungsstörungen der Harnblase (20).

Der Senat hat Beweis erhoben durch Einholung des Gutachtens des Internisten Dr. B vom 13. Juni 2012. Nach Untersuchung des Klägers hat der Sachverständige festgestellt, dass sich die Situation der Darmerkrankung nicht wesentlich verbessert, sondern eher verschlechtert hat. Hinzugekommen sind die bislang nicht berücksichtigten Störungen im Sinne einer latenten Pankreatitis sowie eine Schilddrüsenfunktionsstörung. Zugenommen haben die gonarthrotischen Beschwerden mit Gehbehinderung. Der Gutachter hat vorgeschlagen, die bei dem Kläger im Untersuchungszeitraum vorliegenden Funktionsbeeinträchtigungen wie folgt zu bewerten:

a) Schwerhörigkeit (20),

b) Darmdivertikulose bei rezidivierender Divertikulitis mit vermehrter Diarrhoe und Tenesmen bei Zustand nach Sigmaresektion, Verdacht auf rezidivierende Pankeratitis (Erhöhung der Lipase) (30),

c) wiederkehrende Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (20),

d) Bluthochdruck, kompensiert und Herzrhythmusstörungen nach Ablation (20),

e) Funktionsstörungen beider Schultergelenke (10),

f) Kopfschmerz mit Schwindel und Übelkeit (20),

g) ausgeprägte Gonarthrose rechts mit Gehbehinderung (20),

h) Schilddrüsenfunktionsstörungen im Sinne einer kleinknotigen Struma nodosa, derzeit kompensiert bei Zustand nach Amiodaron-Behandlung (10).

Bis Ende 2010 sei der Gesamt-GdB mit 40 angemessen bewertet. Für den anschließenden Zeitraum hat der Sachverständige aufgrund der neu hinzugetretenen Funktionsstörungen und der Verschlechterung der rechtsseitigen Gonarthrose einen Gesamt-GdB von 50 empfohlen.

Unter Einreichung von Laborblättern trägt der Kläger vor, seine Lipasewerte seien bereits 2008 drastisch erhöht gewesen, was für das Vorliegen einer Pankreatitis spreche. Auch die Fehlfunktion der Schilddrüse habe bereits im Frühjahr/Sommer 2008 vorgelegen. In seiner ergänzenden Stellungnahme vom 16. August 2012 ist der Sachverständige Dr. B bei seiner Bewertung geblieben: Da eine Pankreatitis durch eine Kernspintomographie vom 16. Februar 2011 ausgeschlossen worden sei, handele es sich bei dem Kläger um eine Hyperlipasämie ohne Organstörung. Eine gravierende Schilddrüsenfehlfunktion liege derzeit nicht vor; seinerzeit habe eine medikamentös induzierte Hyperthyreose bei Amiodarongabe bestanden.

In der mündlichen Verhandlung vom 23. August 2012 hat der Kläger die Berufung zurückgenommen, soweit er einen höheren GdB als 50 und einen GdB von 50 vor dem 1. Juli 2009 begehrt hat.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 6. April 2010 zu ändern sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2006 zu verpflichten, bei ihm ab dem 1. Juli 2009 einen Grad der Behinderung von 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Er hält an seiner Entscheidung fest.

Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Berufung des Klägers ist, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist, begründet.

Hinsichtlich des Zeitraums ab dem 1. Juli 2009 ist der Bescheid vom 23. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2008 rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, da der Beklagte bei ihm nur einen GdB von 40 festgestellt hat. Der Kläger hat insoweit einen Anspruch auf Festsetzung eines GdB von 50.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ heranzuziehen, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.

Die Feststellungen der folgenden Funktionsbeeinträchtigungen durch den Beklagten, und zwar

a) Schwerhörigkeit (20),
b) Darmwandausstülpungen (Divertikulose) (20),
c) Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (20),
d) Herzrhythmusstörungen (20),
e) Funktionsbehinderungen des Schultergelenks beidseits (10),
f) Kopfschmerzen, Gleichgewichtsstörungen (10),
g) Funktionsbehinderung des rechten Kniegelenks (10),

sind durch das überzeugende Gutachten des Allgemeinmediziners L vom 14. Januar 2010 bestätigt worden. Nichts anderes ergibt sich aus dem Gutachten des Internisten Dr. B vom 13. Juni 2012 mit ergänzender Stellungnahme vom 16. August 2012. Die von ihm zusätzlich festgestellte medikamentös induzierte Schilddrüsenfehlfunktion wirkt sich auf die Höhe des Gesamt-GdB nicht aus, da sie – wie der Sachverständige dargelegt hat – lediglich mit einem Einzel-GdB von 10 zu bewerten ist. Denn nach Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führen, von hier nicht einschlägigen Ausnahmefällen (z.B. hochgradige Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit) abgesehen, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung.

Indes ergibt sich aus dem Befundbericht der urologischen Praxis Dres. P, St und L vom 19. November 2010, worauf die Urologin Dr. S in der versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 15. Dezember 2010 zutreffend hingewiesen hat, dass die bei dem Kläger bestehenden Entleerungsstörungen der Harnblase als weitere Behinderung mit einem Einzel-GdB von 20 zu berücksichtigen sind. Entgegen der versorgungsärztlichen Einschätzung liegen diese Funktionsbeeinträchtigungen jedoch nicht erst ab August 2009, sondern, wie das Attest der urologischen Praxis Dres. P, St und L vom 19. Juli 2010 zeigt, jedenfalls ab Juli 2009 vor.

Nach Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV ist es bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen. Nach Ansicht des Senats ist vorliegend ein Fall gegeben, in dem eine mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertende Behinderung, hier die bei dem Kläger bestehenden Harnblasenentleerungsstörungen, zu einer Erhöhung des Gesamt-GdB um 10 führt. Denn diese Funktionseinschränkungen wirken sich die auf die aus der Darmerkrankung folgenden Funktionsbeeinträchtigungen besonders nachteilig aus, da der Kläger über die vermehrte Diarrhoe und die Tenesmen beim Stuhlgang hinaus ausweislich des urologischen Befundberichts vom 19. November 2010 an einem Blasendivertikel leidet, das nur unvollständig entleert werden kann. Dies führt nach dem Bekunden des Klägers dazu, dass er in kurzen Abständen wieder Harndrang verspürt.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.