Gericht | OLG Brandenburg 2. Strafsenat | Entscheidungsdatum | 26.01.2012 | |
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Aktenzeichen | 2 Ws 20/12 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen |
Der Transport von Betäubungsmitteln mit dem Kraftfahrzeug über eine Staatsgrenze und deren Auslieferung an einen Abnehmer ist grundsätzlich als einheitliches, unlösbar miteinander verbundenes Geschehen im Sinne von Art. 54 SDÜ zu werten. Derartige Tatbeiträge, die sich in Kurierdiensten erschöpfen, können bei äußerlicher Betrachtungsweise nicht sinnvoll getrennt werden in einen Abschnitt der Ausfuhr aus dem Ausland und einen Abschnitt des Weitertransports innerhalb Deutschlands.
Auf die weitere Beschwerde des Beschuldigten werden der Beschluss der 2. Strafkammer des Landgerichts Frankfurt (Oder) vom 5. Dezember 2011 sowie der Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 7. September 2010 gegen den Beschuldigten K. (4.5 Gs 374/10) aufgehoben.
I.
Dem Beschuldigten wird mit dem Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 7. September 2010 (4.5 Gs 374/10) zur Last gelegt, mit weiteren Mittätern zwischen dem 9. März 2009 und dem 7. April 2010 in Oranienburg und andernorts durch 64 selbständige Handlungen mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge unerlaubt Handel getrieben und hierbei als Mitglied einer Bande gehandelt zu haben, die sich zur fortgesetzten Begehung solcher Taten verbunden hat. Die Täter sollen sich spätestens am 9. März 2009 zusammengeschlossen haben, um entsprechend einem gemeinsamen Tatplan in arbeitsteiliger Begehungsweise unerlaubt tetrahydrocannabinolhaltige Stoffe aus den Niederlanden in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland sowie in das europäische Ausland zu verbringen und dort gewinnbringend an andere zu veräußern. Der Beschuldigte K. soll absprachegemäß als Kurier fungiert und im Tatzeitraum an konkret bezeichneten Tagen aus den Niederlanden kommend mit gemieteten Kraftfahrzeugen Marihuana und Haschisch in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland eingeführt und an den gesondert verfolgten W. in Oranienburg sowie weitere bislang unbekannte Abnehmer im Raum Koblenz oder Stuttgart überbracht bzw. nach Italien, Österreich oder in die Schweiz transportiert haben.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) hat das Ermittlungsverfahren gegen zwei der weiteren Mittäter abgetrennt und gegen diese unter dem 30. Juni 2011 Anklage erhoben, mit der ihnen nunmehr noch 31 Taten im Zeitraum zwischen dem 9. März und dem 24. Oktober 2009 zur Last gelegt werden.
In einem in den Niederlanden geführten Strafverfahren ist dem Beschuldigten K. neben dem Vorwurf der Geldwäsche u. a. zur Last gelegt worden, im Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis zum 12. April 2010 in V., Gemeinde V., allein bzw. gemeinsam mit anderen vorsätzlich unterschiedliche Mengen Haschisch bzw. Marihuana außerhalb des Gebietes der Niederlande verbracht zu haben. Das niederländische Bezirksgericht Haarlem hat den Beschuldigten mit am 6. August 2010 verkündeten Urteil (15/740526-09) unter anderem wegen Geldwäsche zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und ihn vom o.g. Vorwurf der Ausfuhr von Betäubungsmitteln freigesprochen: Es sei trotz der vielen Reisen des Beschuldigten, seiner regelmäßigen Fahrzeugmieten in Deutschland, der in seiner Wohnung festgestellten Notizen, der bei ihm vorgefundenen großen Menge Haschisch sowie seiner Einlassung nicht bewiesen, dass er zusammen mit anderen vorsätzlich Haschisch oder Marihuana innerhalb oder außerhalb des niederländischen Staatsgebietes geliefert und ausgeführt habe. Das Urteil ist nach der von den niederländischen Behörden vorgelegten Dokumentation vom 28. November 2011 (Bl. 258 d. A.) seit dem 21. August 2010 "unwiderruflich".
Die deutschen Behörden haben aufgrund des Europäischen Haftbefehls vom 5. November 2010, dem die Tatvorwürfe aus dem Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt (Oder) vom 7. September 2010 zu Grunde liegen, die Auslieferung des Beschuldigten aus den Niederlanden beantragt. Die internationale Rechtshilfekammer des Bezirksgerichts Amsterdam hat daraufhin am 1. April 2011 (Az.: 10/7533) die Überstellung des Beschuldigten an die deutschen Behörden genehmigt, soweit die dem Auslieferungsbegehren zu Grunde liegenden Tatvorwürfe "einen Bezug haben auf den Transport und den Verkauf, beziehungsweise die Lieferung der Betäubungsmittel in Deutschland, im Zeitraum vom 9. März 2009 bis einschließlich 7. April 2010, sowie die Durchfuhr von Deutschland nach Italien, Österreich und in die Schweiz." Das Bezirksgericht Amsterdam hat die Auslieferung des Beschuldigten demgegenüber abgelehnt, sofern die Tatvorwürfe "einen Bezug haben auf die Einfuhr von Betäubungsmitteln in Deutschland, im Zeitraum vom 9. März 2009 bis einschließlich 7. April 2010." Zur Begründung hat die Kammer u. a. ausgeführt, dass hinsichtlich des Tatvorwurfs der Einfuhr von Betäubungsmitteln aus den Niederlanden nach Deutschland derselbe Tatbestand im Sinne des Art. 54 SDÜ vorliege, von dem das Bezirksgericht Haarlem den Beschuldigten freigesprochen habe. Soweit demgegenüber der Tatvorwurf den Transport der Betäubungsmittel innerhalb Deutschlands, den Verkauf dort sowie die Durchfuhr von Deutschland in andere Länder betreffe, handle es sich nicht um dieselben Tatbestände, weil "sie sich nach Beurteilung des Gerichts wesentlich unterscheiden, was die Absicht und den willentlichen Beschluss" betreffe.
Am 4. Oktober 2011 ist der Beschuldigte von den niederländischen Behörden nach Deutschland ausgeliefert worden und verbüßt seit diesem Zeitpunkt Untersuchungshaft. Seine Beschwerde vom 8. November 2011 gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Frankfurt vom 7. September 2010 hat das Landgericht Frankfurt (Oder) durch Beschluss vom 5. Dezember 2011 als unbegründet verworfen. Hiergegen hat der Beschuldigte durch seinen Verteidiger mit Schriftsatz vom 8. Dezember 2011 weitere Beschwerde eingelegt.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg beantragt, das Rechtsmittel als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die gemäß § 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO statthafte und auch im Übrigen zulässige weitere Beschwerde ist begründet.
Die Voraussetzungen des § 112 Abs. 1 StPO für den Vollzug der Untersuchungshaft sind nicht erfüllt. Nach dem insoweit maßgeblichen derzeitigen Erkenntnisstand im Ermittlungsverfahren ist es wahrscheinlich, dass eine Verurteilung des Beschuldigten aufgrund Strafklageverbrauchs ausgeschlossen ist. Damit ist aus Rechtsgründen ein dringender Tatverdacht nicht gegeben (vgl. hierzu Meyer-Goßner, StPO 54. Aufl. § 112 Rdnr. 5 m.w.N.).
Nach dem gemäß Art. 54 des Schengener Durchführungsübereinkommens (ABl. 2000 L 239, S. 19) - auch im Verhältnis zu den Niederlanden geltenden - zwischenstaatlichen Verfolgungsverbot darf derjenige, der wegen einer Tat durch eine Vertragspartei rechtskräftig verurteilt worden ist, durch eine andere Vertragspartei wegen derselben Tat nicht verfolgt werden. Dabei ist anerkannt, dass auch ein rechtskräftiger Freispruch den Strafklageverbrauch gemäß Art. 54 SDÜ begründet (vgl. EuGH, Urt. v. 16. November 2010 - C-261/09 "Gaetano Mantello"; BGH, Beschl. v. 28. Dezember 2006 - 1 StR 534/06; jeweils zit. nach Juris m.w.N.).
Nach derzeitigem Erkenntnisstand im Ermittlungsverfahren ist der Beschuldigte in den Niederlanden von den gegen ihn in Deutschland erhobenen Tatvorwürfen freigesprochen worden, soweit er Betäubungsmittel bis zur Staatsgrenze verbracht und in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ausgeführt haben soll. Dem Beschuldigten war in den Niederlanden vorgeworfen worden, die Taten im Zeitraum vom 1. Januar 2007 bis zum 11. April 2010 begangen zu haben. Dies umfasst auch den Zeitraum der in Deutschland geltend gemachten Tatvorwürfe (9. März 2009 bis 7. April 2010). Weitere Einzelheiten zu den Zeiten und Umständen der in den Niederlanden verfolgten Taten, die Gegenstand des Freispruches sind, gehen aus den vorliegenden Unterlagen sowie den Gründen des freisprechenden Urteils nicht hervor. Mangels abweichender Erkenntnisse ist danach zu Grunde zu legen, dass sich der Freispruch auf die Taten bezieht, die hinsichtlich der Ausfuhr der Betäubungsmittel aus den Niederlanden auch Gegenstand der Strafverfolgung in Deutschland sind.
Da das Bezirksgericht Amsterdam die Auslieferung auch nur hinsichtlich des Transportes, des Verkaufs und der Lieferung in Deutschland bzw. von Deutschland aus für zulässig erklärt und der Beschuldigte – soweit ersichtlich – auf die Beachtung des Grundsatzes der Spezialität nicht verzichtet hat, kann nur dies Gegenstand einer Strafverfolgung sein.
Allerdings handelt es sich nach derzeitigem Ermittlungsergebnis auch bei den danach verbleibenden Taten um "dieselben" im Sinne von Art. 54 SDÜ, die auch Gegenstand des freisprechenden Urteils des Bezirksgerichts Haarlem waren.
Entgegen der von der Staatsanwaltschaft Frankfurt (Oder) vertretenen Auffassung, der sich die Beschwerdekammer des Landgerichts angeschlossen hat, kommt es bei der Bewertung der Frage der Tatidentität nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union nicht auf die Beurteilung und das Recht des Staates an, in dem das erste Strafverfahren abgeschlossen wurde. Die Entscheidung des Bezirksgerichts Amsterdam, das eine Tatidentität im Umfang der für zulässig erklärten Auslieferung nicht angenommen hat, ist mithin insoweit nicht präjudiziell. Abweichendes ergibt sich auch nicht aus dem von der Staatsanwaltschaft zitierten Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 16. November 2010 (C-261/09 "Gaetano Mantello", zit. nach Juris) über die Auslegung des Begriffs „dieselbe Handlung“ gemäß Art. 3 Nr. 2 des Rahmenbeschlusses 2002/584/JI des Rates vom 13. Juni 2002, denn in dem Urteil wird lediglich - zutreffend - die Deutungshoheit des ersuchenden Staates im Rahmen des Auslieferungsverfahrens festgestellt. Demgemäß bestimmt sich hier lediglich die Frage, ob das betreffende Urteil rechtskräftig geworden ist, nach dem Recht des Mitgliedstaates, in dem es erlassen wurde (EuGH, Urt. v. 16. November 2010, aaO. Rdnr. 46). Vom Eintritt der Rechtskraft ist im vorliegenden Fall auszugehen, weil das Urteil des Bezirksgerichts Haarlem nach den von den niederländischen Behörden übersandten Unterlagen als "unwiderruflich" bezeichnet ist.
Nach der für die nationalen Gerichte bindenden Auslegung des Art. 54 SDÜ durch den Gerichtshof der Europäischen Union ist für die Frage der Tatidentität "das Vorhandensein eines Komplexes unlösbar miteinander verbundener Tatsachen" maßgeblich. Bei der autonom europarechtlich vorzunehmenden Begriffsauslegung kommt es allein auf die tatsächliche Handlung, nicht dagegen auf deren rechtliche Qualifizierung oder das jeweils geschützte rechtliche Interesse und mithin auch nicht auf die Bewertung der Tatsachen nach den jeweiligen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten an (vgl. EuGH, Urt. v. 9. März 2006 - C-436/04 "Van Esbroeck"; Urt. v. 18. Juli 2007 - C-288/05 "Kretzinger", jeweils zit. nach Juris; vgl. auch BGH, Urt. v. 9. Juni 2008 - 5 StR 342/04, zit nach Juris; Radtke NStZ 2008, 162ff; Hackner NStZ 2011, 425, 426ff.).
Entsprechend diesen Auslegungskriterien handelt es sich bei den dem Beschuldigten vorgeworfenen Taten um solche, die nach den tatsächlichen Umständen jeweils unlösbar miteinander verbunden sind. Gegenstand der gegen den Beschuldigten erhobenen Tatvorwürfe sind sog. Kurierfahrten: Der Beschuldigte soll entsprechend einer gemeinsamen Tatplanung die Betäubungsmittel aus den Niederlanden mit Kraftfahrzeugen zu bestimmten Abnehmern verbracht haben. Diese sich in den Kurierdiensten erschöpfenden Tatbeiträge lassen sich bei äußerlicher Betrachtungsweise nicht sinnvoll trennen in einen Abschnitt der Ausfuhr aus dem niederländischen Staatsgebiet einerseits und einen Abschnitt des Weitertransports innerhalb Deutschlands bzw. in das europäische Ausland sowie die Überbringung an vorgesehene Abnehmer andererseits. Anhaltspunkte dafür, dass die Fortsetzung der Kurierfahrten nach dem Grenzübertritt und die weitere Überbringung an die Empfänger auf neuen Tatentschlüssen beruhten, die jeweils eine Zäsur der Geschehensabläufe bilden könnten, sind nach derzeitigem Stand der Ermittlungen nicht ersichtlich.
Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst, weil das Beschwerdeverfahren unselbständiger Teil des Ermittlungsverfahrens ist.