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Einstweiliger Rechtsschutz; Beschwerde; Anspruch auf Hortbetreuung für Sechstklässler (bejaht); erwerbsbedingte Abwesenheit der Eltern; Betreuungsbedarf


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 6. Senat Entscheidungsdatum 29.10.2014
Aktenzeichen OVG 6 S 44.14 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 123 Abs 1 VwGO, § 123 Ab 3 VwGO, § 146 Abs 4 S 6 VwGO, § 294 ZPO, § 920 Abs 2 ZPO, § 1 Abs 2 S 2 KTagStG BB, § 1 Abs 4 KTagStG BB

Leitsatz

Der Betreuungsanspruch nach § 1 Abs. 2 Satz 2 KitaG Bbg. entsteht für Kinder der fünften und sechsten Schuljahrgangsstufen grundsätzlich schon dann, wenn ein Kind in entsprechendem Alter ansonsten regelmäßig in nicht nur unwesentlichem Umfang auf sich allein gestellt wäre.

Tenor

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 20. August 2014 wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten der Beschwerde.

Gründe

Mit der Beschwerde wendet sich der Antragsgegner gegen den Beschluss, mit dem das Verwaltungsgericht ihn im Wege einstweiliger Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO sinngemäß verpflichtet hat, dem am 17. Mai 2003 geborenen Antragsteller, der gegenwärtig die sechste Klasse einer Privatschule in N... besucht, im ersten Schulhalbjahr 2014/2015 Hortbetreuung von bis zu vier Stunden täglich zu gewähren. Es hat den Anordnungsanspruch mit § 1 Abs. 2 Satz 2 KitaG Bbg. begründet. Nach dieser Vorschrift haben Kinder bis zum vollendeten dritten Lebensjahr und Kinder der fünften und sechsten Schuljahrgangsstufe einen Rechtsanspruch auf Erziehung, Bildung, Betreuung und Versorgung in Kindertagesstätten, wenn ihre familiäre Situation, insbesondere die Erwerbstätigkeit, die häusliche Abwesenheit wegen Erwerbssuche, die Aus- und Fortbildung der Eltern oder ein besonderer Erziehungsbedarf Tagesbetreuung erforderlich macht. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hat das Verwaltungsgericht aufgrund entsprechender eidesstattlicher Versicherungen der Eltern des Antragstellers als glaubhaft gemacht im Sinne des § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2, § 294 ZPO angesehen. Die Eltern des Antragstellers seien danach aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit nicht in der Lage, ihren Sohn nach der Schule selbst zu betreuen. Sein Vater sei täglich berufsbedingt rund zwölf Stunden von zu Hause abwesend, die Mutter habe eine Kernarbeitszeit von 9 bis 16 Uhr und darüber hinaus viele Termine, die erst am Nachmittag stattfänden und die sie nicht verlassen oder abbrechen könne, um den Antragsteller von der Schule abzuholen bzw. zu betreuen. Hinzu komme, dass die Mutter des Antragstellers von ihrer Arbeitsstätte in T... nicht direkt nach Hause in F... fahre, sondern zunächst ihr jüngeres Kind aus einem Hort in N... abholen müsse. Das insoweit allein maßgebliche Vorbringen des Antragsgegners im Beschwerdeverfahren (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) rechtfertigt keine andere Einschätzung.

Soweit die Beschwerde ausführt, ein besonderer Erziehungsbedarf des Antragstellers sei nicht ersichtlich, verkennt sie die Systematik des § 1 Abs. 2 Satz 2 KitaG Bbg. und argumentiert zudem an der Begründung des Verwaltungsgerichts vorbei. Nach § 1 Abs. 2 Satz 2 KitaG Bbg. ist ein besonderer, Tagesbetreuung erforderlich machender Erziehungsbedarf nicht neben, sondern alternativ zu den weiteren in der Norm genannten Tatbestandsmerkmalen wie etwa der erwerbsbedingen Abwesenheit der Eltern anspruchsbegründend. Dessen ungeachtet hat das Verwaltungsgericht auch keinen besonderen Erziehungsbedarf des Antragstellers angenommen.

Anders als der Antragsgegner meint, wird der Anspruch nach § 1 Abs. 2 Satz 2 KitaG Bbg. nicht durch die Regelung in § 1 Abs. 4 KitaG Bbg. eingeschränkt. Nach dieser Vorschrift soll Art und Umfang der Erfüllung des Anspruchs dem Bedarf des Kindes entsprechen. Diese Vorschrift setzt schon ihrem Wortlaut nach die Existenz des Anspruchs nach § 1 Abs. 2 Satz 2 KitaG Bbg. gerade voraus. Die Merkmale „Art und Umfang“ schränken deshalb den Anspruch nicht ein, sondern konkretisieren ihn dahingehend, dass er hinsichtlich des zeitlichen Umfangs und hinsichtlich der Betreuungsart dem konkreten Bedarf des jeweiligen Kindes entsprechen soll.

Soweit der Antragsgegner ausführt, das KitaG Bbg. stelle darauf ab, dass Kinder der fünften und sechsten Jahrgangsstufe nicht beständiger Aufsicht bedürften und bereits weitgehend selbst ihre Freizeit gestalten könnten, findet dies im Gesetz keine ausreichende Stütze und führt vorliegend auch nicht weiter. Die Regelung in § 1 Abs. 2 Satz 2 KitaG Bbg. zeigt gerade, dass der Gesetzgeber von einem grundsätzlichen Betreuungs- und Erziehungsbedarf auch von Kindern in entsprechendem Alter ausgeht, den grundsätzlich schon die erwerbsbedingte Abwesenheit der Eltern auslöst. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht nur vereinzelt, sondern regelmäßig auftritt. Der Betreuungsanspruch entsteht demnach, wenn ein Kind in entsprechendem Alter ansonsten regelmäßig in nicht nur unwesentlichem Umfang auf sich allein gestellt wäre. Nur diese Auslegung lässt sich auch mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift, die Vereinbarkeit von Kindererziehung und Beruf zu ermöglichen, vereinbaren. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist der mit dem Rechtsschutzantrag verfolgte Anspruch nach den eidesstattlich versicherten Angaben der Eltern des Antragstellers in dem vom Verwaltungsgericht angenommenen Umfang von bis zu vier Stunden täglich zu bejahen. Danach stellt sich die Situation des Antragstellers wie folgt dar:

Seine Mutter hat angegeben, ihren Sohn nicht vor 17:30 Uhr vom Schulgelände abholen zu können. Schulschluss sei in der Regel um 15:30 Uhr. Montags und donnerstags besuche der Antragsteller gegenwärtig außerschulische Arbeitsgemeinschaften, die um 15:30 Uhr begännen und bis 17:00 Uhr dauerten. An diesen beiden Tagen der Woche besteht jedenfalls in der Zeit von 17:00 Uhr bis 17:30 Uhr nicht gedeckter Betreuungsbedarf. Sofern eine Arbeitsgemeinschaft ausfällt, besteht der Betreuungsbedarf ab 15:30 Uhr. An den übrigen Tagen der Woche (dienstags, mittwochs und freitags) fahre der Antragsteller mit dem Bus um 16:30 Uhr selbstständig nachhause. An diesen Tagen besteht demnach Betreuungsbedarf in der Zeit von 15:30 Uhr bis 16:30 Uhr; darüber hinaus bei Unterrichtsausfall.

Soweit der Antragsgegner insoweit anführt, es sei dem elfjährigen Antragsteller zumutbar, eine Stunde vom Schulschluss bis zur Abfahrt des Busses ohne Betreuung zu überbrücken, erscheint auch dies verfehlt. Der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit findet im Gesetz keine Stütze. Zu fragen ist vielmehr danach, ob eine Tagesbetreuung „erforderlich“ ist. Dies ist aus den dargelegten Gründen bereits dann anzunehmen, wenn die Eltern sich erwerbsbedingt nicht selbst um ihr Kind kümmern können. Der zu überbrückende Zeitraum von regelmäßig mindestens einer Stunde ist auch nicht nur unwesentlich.

Darüber hinaus besteht an einzelnen Tagen während der Schulzeit weitergehender Betreuungsbedarf. Nach den Angaben der Mutter des Antragstellers sei dies bei mit der Schule unternommenen Tagesausflügen der Fall. Die Rückankunft variiere dann zwischen 13:00 Uhr und 15:00 Uhr. Solche Tagesausflüge fänden zwei bis vier Mal pro Schulhalbjahr statt. Hinzu komme eine schulhalbjährlich stattfindende Projektwoche, während der die Schule zwischen 13:00 Uhr und 14:00 Uhr ende. Weiter erscheint eine Hortbetreuung des Antragstellers nach den Angaben seiner Mutter insbesondere während der sechswöchigen Sommerferien und der zweiwöchigen Herbstferien in den Zeiten erforderlich, in denen er keine gemeinsame Urlaubszeit mit seinen Eltern verbringt.

Das Verwaltungsrecht hat auch zu Recht einen Anordnungsgrund mit der Begründung bejaht, die Betreuung des Antragstellers sei ohne Erlass der einstweiligen Anordnung nicht gesichert.

Das grundsätzliche Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache steht der vom Verwaltungsgericht erlassenen einstweiligen Anordnung angesichts des drohenden vollständigen Anspruchsverlustes des Antragstellers ebenfalls nicht entgegen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).