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Medikamentengabe bei vollstationärer Unterbringung


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 9. Senat Entscheidungsdatum 03.03.2011
Aktenzeichen L 9 KR 284/10 B ER ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 37 SGB 5, § 43a SGB 11

Leitsatz

Soweit ein Versicherter in einer voll-stationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen untergebracht ist, in der neben Leistungen der Eingliederungs-hilfe auch solche der vollstationären Pflege erbracht werden, gehört die einfache Medikamentengabe jedenfalls dann zu den Pflichten des Erbringens der stationären Leistung, wenn er sich zur Erbringung allgemeiner Pflegeleistungen in den zwischen ihm und dem Sozial-hilfeträger abgeschlossen Verträgen verpflichtet hat.

Tenor

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 19. August 2010 wird zurückgewiesen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Der Antrag des Antragstellers auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten Rechtsanwalt Dr. N wird abgelehnt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 19. August 2010 ist gemäß §§ 172 Abs. 2, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Das Sozialgericht hat den Antrag, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, für den Antragsteller die Kosten der häuslichen Krankenpflege in Form dreimal täglicher Medikamentengabe vorläufig, zunächst für drei Monate, bis zur Entscheidung in der Hauptsache zu übernehmen bzw. den Antragsteller von diesen Kosten freizustellen, rechtsfehlerfrei abgelehnt.

1.) Der Antragsteller hat für die begehrte einstweilige Anordnung weder einen Anordnungsanspruch noch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung - ZPO -).

2.) Gemäß § 37 Abs. 2 Satz 1 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) erhalten Versicherte als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn diese zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Bestandteil der Behandlungspflege kann auch die tägliche Gabe von Medikamenten sein. Allerdings ist der auf die schlichte Medikamentengabe gerichtete Anspruch hier ausgeschlossen.

a) Nach § 15 Abs. 1 SGB V wird die ärztliche Behandlung von Ärzten erbracht. Sind Hilfeleistungen anderer Personen erforderlich, dürfen sie nur erbracht werden, wenn sie vom Arzt angeordnet und von ihm verantwortet werden. Die Erforderlichkeit ärztlicher Verordnungen für die Maßnahmen der häuslichen Krankenpflege ist durch § 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 8 SGB V noch einmal ausdrücklich bestimmt worden. Erst durch die vertragsärztliche Verordnung wird das dem Versicherten durch § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 SGB V gewährte Rahmenrecht auf Leistungen häuslicher Krankenpflege zu einem Anspruch konkretisiert. Daraus folgt, dass dem Versicherten ohne vertragsärztliche Verordnung (noch) kein Anspruch auf die begehrte häusliche Krankenpflege zusteht. An einer ausreichenden vertragsärztlichen Verordnung fehlt es hier aber. Denn der Antragsteller hat im vorliegenden Verfahren lediglich eine den Zeitraum vom 1. Januar 2010 bis zum 31. Dezember 2010 betreffende ärztliche Verordnung für die begehrte Medikamentengabe vorgelegt, nicht jedoch für den mit der Entscheidung des Senats beginnenden Zeitraum ab dem 3. März 2010. Dies wäre aber erforderlich gewesen, weil der Senat krankenversicherungsrechtliche Leistungen im Wege einstweiliger Anordnung allenfalls ausschließlich für die Zukunft zuspricht; dies folgt daraus, dass für die vorläufigen Rechtsschutzverfahren ein spezifisches Dringlichkeitselement erforderlich ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung einer – einen zurückliegenden Zeitraum betreffenden – besonderen Dringlichkeit ist rechtlich nur in Ausnahmefällen möglich. Soweit diese Dringlichkeit vor dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorgelegen hat, ist sie durch den Zeitablauf überholt; das Abwarten einer Entscheidung im Verfahren der Hauptsache über den zurückliegenden Zeitraum ist dem Rechtsschutzsuchenden in aller Regel zumutbar.

b) Dessen ungeachtet scheitert der Anspruch des Antragstellers vor allem daran, dass er einen vorrangigen Anspruch auf die begehrte Leistung gegen die Beigeladene zu 2) hat. Denn er ist in einer stationären Einrichtung der Behindertenhilfe, deren Träger die Beigeladene zu 2) ist, dauerhaft untergebracht, die ihm komplexe Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung erbringt und in diesem Rahmen verpflichtet ist, den Antragsteller mit der begehrten Leistung zu versorgen. Insoweit ist für einen Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der täglichen Medikamentengabe gegen die in Anspruch genommene Krankenkasse deshalb kein Raum (mehr).

c) Zwar hat der Antragsteller nach § 2 Ziff. 7.5. des von ihm mit der Beigeladenen zu 2) am 8. April 2010 abgeschlossenen Wohn- und Betreuungsvertrag keinen Anspruch auf eine medizinische Versorgung im Sinne einer medizinischen Behandlungspflege nach dem SGB V. Dies schließt den Anspruch des Antragstellers gegen die Beigeladene zu 2) auf Erbringung der hier streitbefangenen Medikamentengabe aber nicht aus. Denn ansonsten hätten es die Vertragspartner der Wohn- und Betreuungsverträge, also die behinderten Menschen und insbesondere die Träger der Einrichtungen in der Hand, Inhalt und Umfang der von der Einrichtung zu erbringenden Leistungen sowie die Financiers dieser Leistungen abweichend von den Bestimmungen des Sozialgesetzbuches selbst zu bestimmen und Leistungen zu Lasten bestimmter Leistungsträger, im vorliegenden Fall der Träger der Krankenversicherung, auszugliedern. Dies würde jedoch unberücksichtigt lassen, dass die Medikamentengabe nicht ausschließlich und ausnahmslos als Leistung einer medizinischen Behandlung nach dem SGB V zu qualifizieren ist; vielmehr kann sich ein Anspruch auf Medikamentengabe z. B. auch als Leistung der Eingliederungshilfe (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 1 SGB XII i.V.m. § 26 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch <SGB IX>) und vor allem der Pflegeversicherung (§ 43 Abs. 2 Sozialgesetzbuch/Elftes Buch <SGB XI>) darstellen. Soweit ein Versicherter in einer vollstationären Einrichtung der Hilfe für behinderte Menschen untergebracht ist, in der neben Leistungen der Eingliederungshilfe auch solche der vollstationären Pflege erbracht werden, gehört die einfache Medikamentengabe jedenfalls dann zu den Pflichten des Erbringers der stationären Leistung, wenn er sich zur Erbringung allgemeiner Pflegeleistungen in den zwischen ihm und dem Sozialhilfeträger abgeschlossenen Verträgen verpflichtet hat (vgl. Beschluss des Senats vom 24. Februar 2010, L 9 KR 23/10 B ER, zitiert nach juris). Denn im Rahmen der vollstationären Pflege gehört die Medikamentengabe als einfache Leistung der medizinischen Behandlungspflege zu den Aufgaben der Pflege- und nicht der Krankenversicherung (in diesem Sinne m.w.N. Leitherer, Kasseler Kommentar, SGB XI, § 43 Rdnr. 23ff. sowie § 43a Rdnr. 8).

d) Der Antragsteller wird in einer vollstationären Einrichtung der Beigeladenen zu 2) versorgt, in der die Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft im Vordergrund des Einrichtungszwecks steht. Nach Ziff. 6.3 der Vereinbarung gemäß § 75 Abs. 3 SGB XII zwischen dem Landkreis Oberhavel und der Beigeladenen zu 2) vom 3. Dezember 2009 i.V.m. dem Rahmenvertrag nach § 79 Abs. 1 SGB XII erbringt die Beigeladene zu 2) in dieser Einrichtung neben Maßnahmen der Eingliederungshilfe auch allgemeine Pflegeleistungen, für die sie gemäß § 43a SGB XI Anspruch auf Geldleistungen der Pflegekasse hat, die sie von dieser auch erhält. Nach Anlage 1 Buchstabe D Ziffer 3 Nummer 2 a) zu dem vorgenannten Vertrag gehören pflegerische Maßnahmen nach § 43a SGB XI bei Bedarf zum inhaltlichen Umfang der von der Beigeladenen zu 2) zu erbringenden Leistungen; damit ist sie auch zur Erbringung der einfachen Behandlungspflege in Form der Medikamentengabe gegenüber den bei ihr untergebrachten behinderten Pflegeversicherten - wie dem Antragsteller - verpflichtet, wofür sie - wie das Sozialgericht zutreffend festgestellt hat - auch ausreichend ausgebildetes Fachpersonal zur Verfügung hat und zur Verfügung stellen muss. Die (einfache) Medikamentengabe ist danach Bestandteil der von der Beigeladenen zu 2) zu erbringenden Leistungen der Einrichtung der Behindertenhilfe und eine dem Antragsteller gegenüber bestehende Leistungspflicht, weil sie nicht zu den besonders qualifizierten und aufwändigen Leistungen der häuslichen Krankenpflege gehört.

3.) Schließlich hat der Antragsteller auch keinen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Denn nach dem Schreiben der Firma S-V P mbH vom 25. Oktober 2010, die den Antragsteller nach seinem Vorbringen mit den streitigen Leistungen versorgt, hat diese die mit ihm geschlossenen Behandlungsverträge noch nicht einmal gekündigt, so dass nicht zu erkennen ist, ob und ggf. wann es zu einer Einstellung dieser Leistungen kommen wird.

4.) Da der Antragsteller nach dem Vorstehenden keine reale Chance hat zu obsiegen, war auch sein Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe abzulehnen (§ 73a SGG i. V. m. §§ 114 Zivilprozessordnung (ZPO).

5.) Die Kostenentscheidung ergibt sich aus dem Ausgang des Verfahrens und beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).