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Merkzeichen aG; RF; GdB - Inkontinenz


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat Entscheidungsdatum 10.06.2010
Aktenzeichen L 13 SB 124/07 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 59 SGB 9

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 25. April 2007 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) sowie die Zuerkennung der Merkzeichen „aG“ (außergewöhnliche Gehbehinderung) und „RF“ (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).

Die 1925 geborene Klägerin ist seit 1985 als Schwerbehinderte anerkannt. Auf ihren Verschlimmerungsantrag vom 21. September 2005 holte der Beklagte das Gutachten des Internisten Dr. B vom 14. März 2006 ein. Auf dessen Grundlage setzte er mit Bescheid vom 22. März 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 2006 den Gesamt-GdB auf 70 fest, dem er folgende (verwaltungsintern mit den aus den Klammerzusätzen ersichtlichen Einzel-GdB bewertete) Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde legte:

a) Hirndurchblutungsstörungen, Gleichgewichtsstörungen (50),

b) Fehlhaltung und degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, der Daumensattelgelenke und der Kniegelenke; Krampfadern beider Beine (30),

c) Lungenfunktionsstörung (20),

d) tablettenpflichtige Zuckerkrankheit (20),

e) Verdauungsschwäche der Bauchspeicheldrüse (10),

f) Bluthochdruck (10),

g) Harninkontinenz (10).

Gleichzeitig stellte er die medizinischen Voraussetzungen für die Merkzeichen „G“ und „B“ fest, lehnte aber den Antrag der Klägerin auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ ab.

Hiergegen hat die Klägerin sich mit ihrer bei dem Sozialgericht Berlin erhobenen Klage gewandt. Sie hat zum einen die Feststellung eines GdB von 80 begehrt. Ihre Inkontinenz beziehe sich nicht nur auf den Harn-, sondern auch auf den Stuhlabgang. Es sei nicht berücksichtigt worden, dass sie kein Gefühl in den Fingern habe, weshalb ihr Sachen aus der Hand fielen und sie keine Schnürsenkel binden könne. Seit Ende 2006 habe sie auch Schmerzen in den Händen. Da sie alle zwei Stunden die Windeln wechseln müsse, könne sie auf Dauer keinerlei Veranstaltungen besuchen, weshalb ihr das Merkzeichens „RF“ zustehe. Wegen ihrer Lungenfunktionsstörung habe sie auch Anspruch auf das Merkzeichen „aG“. Neben dem Arztbericht des Geriatriezentrums B vom 26. Juni 2005 hat sie den Untersuchungsbericht des Neurologen Dr. L vom 8. Juni 2006 eingereicht.

Das Sozialgericht hat die Klage mit Urteil vom 25. April 2007 als unbegründet abgewiesen: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf Feststellung eines höheren GdB als 70. Der Vortrag der Klägerin gehe inhaltlich nicht über das hinaus, was der Gutachter Dr. B bereits geprüft habe. Der begehrte Gesamt-GdB von 80 käme einer unzulässigen Addition der jeweiligen Einzel-GdB für die beiden Hauptbehinderungskomplexe, nämlich des anerkannten Einzel-GdB von 50 für die Hirndurchblutungs- und Gleichgewichtsstörungen sowie des anerkannten Einzel-GdB von 30 für die orthopädischen Behinderungen gleich. Eine weitergehende Berücksichtigung der übrigen Behinderungskomplexe scheitere an deren Geringgradigkeit. Insbesondere sei der tablettenpflichtige Diabetes zutreffend mit einem Einzel-GdB von 20 bewertet worden. Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf das Merkzeichen „aG“, da sie nicht auf Dauer und ständig auf einen Rollstuhl angewiesen sei. Es bestehe schließlich kein Anspruch auf das Merkzeichens „RF“, denn die landesrechtlichen Bestimmungen über die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht verstießen gegen Bundesrecht.

Mit der Berufung gegen diese Entscheidung verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter. Sie wiederholt und vertieft ihr Vorbringen aus der ersten Instanz. Sie hat das Attest des Neurologen Dr. L vom 22. November 2007 vorgelegt, der eine diabetische Polyneuropathie, einen Vertigo und ein Carpaltunnel-Syndrom beidseits diagnostiziert hat, das Pflegeanamneseblatt mit dem ausgefüllten Formular zur Einstufung der Pflegebedürftigkeit vom 11. April 2009, die Heilmittelverordnung vom 29. Juli 2009 sowie den Nachweis eines Beratungsbesuchs des Pflegedienstes vom 30. August 2009. Ferner ist die versorgungsärztliche Stellungnahme der Psychiaterin Dr. S vom 16. Oktober 2009 zur Akte gelangt.

Die Klägerin beantragt ihrem schriftlichen Vorbringen zufolge sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 25. April 2007 aufzuheben sowie den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 22. März 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 2006 zu verpflichten, bei ihr einen Grad der Behinderung von 80 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichens „aG“ – außergewöhnliche Gehbehinderung – und „RF“ – Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht – festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält seine Entscheidung weiterhin für zutreffend.

Der Senat hat versucht, Beweis über den Umfang der die Klägerin treffenden Funktionsbeeinträchtigungen durch Einholung eines ärztlichen Gutachtens zu erheben. Da die Klägerin sich geweigert hat, sich der Untersuchung zu unterziehen, ist die Beweisanordnung aufgehoben worden.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, da die Beteiligten hiermit einverstanden sind (§ 153 Abs. 1 in Verbindung mit § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Festsetzung eines GdB von mehr als 70.

Nach den §§ 2 Abs. 1, 69 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) sind die Auswirkungen der länger als sechs Monate anhaltenden Funktionsstörungen nach Zehnergraden abgestuft entsprechend den Maßstäben des § 30 Bundesversorgungsgesetz zu bewerten. Hierbei sind als antizipierte Sachverständigengutachten die vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit (AHP) heranzuziehen, und zwar entsprechend dem streitgegenständlichen Zeitraum in den Fassungen von 2005 und 2008. Seit dem 1. Januar 2009 sind die in der Anlage zur Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) festgelegten „Versorgungsmedizinischen Grundsätze“ in Form einer Rechtsverordnung in Kraft, welche die AHP – ohne dass hinsichtlich der medizinischen Bewertung eine grundsätzliche Änderung eingetreten wäre – abgelöst haben.

Auf der Grundlage der Feststellungen des Gutachters Dr. B setzte der Beklagte für die Hirndurchblutungs- und Gleichgewichtsstörungen bei der Klägerin einen Einzel-GdB von 50 an. Dies ist im Hinblick auf Nr. 23.3 (S. 41) der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 3.1.1 (Bl. 21) der Anlage zu § 2 VersMedV, wonach für Hirnschäden mit mittelschwerer Leistungsbeeinträchtigung ein GdB von 50 bis 60 anzusetzen ist, nicht zu beanstanden.

Die Fehlhaltung und degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, der Daumensattelgelenke und der Kniegelenke sowie die Krampfadern beider Beine wurden von dem Beklagten, der überzeugenden Einschätzung des Gutachters folgend, mit einem Einzel-GdB von 30 berücksichtigt.

Zutreffend erkannte der Beklagte der Klägerin für die Lungenfunktionsstörung einen Einzel-GdB von 20 zu. Die von der Klägerin dem Gutacher geschilderten Beschwerden, sie leide nach etwas 15 Minuten Gehstrecke an Luftmangel und könne eine Treppe ohne Beschwerden hinaufsteigen, rechtfertigt noch nicht die Annahme einer Erkrankung der Atmungsorgane mit dauernder Einschränkung der Lungenfunktion mittleren Grades im Sinne der Nr. 26.8 (S. 68) der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 8.3 (Bl. 44) der Anlage zu § 2 VersMedV.

Hinsichtlich des Diabetes mellitus ist bei der Klägerin ein Einzel-GdB von 20 anzusetzen. Maßgebend ist zunächst die in Teil B Nr. 15.1 (S. 73f.) der Anlage zu § 2 VersMedV getroffene Bewertung:

Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus)

        

mit Diät allein (ohne blutzuckerregulierende Medikamente)

0

mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung nicht erhöhen

10

mit Medikamenten eingestellt, die die Hypoglykämieneigung erhöhen

20

unter Insulintherapie, auch in Kombination mit anderen blutzuckersenkenden
Medikamenten, je nach Stabilität der Stoffwechsellage
(stabil oder mäßig schwankend

  30-40

unter Insulintherapie instabile Stoffwechsellage einschließlich gelegentlicher
schwerer Hypoglykämien

50

Häufige, ausgeprägte oder schwere Hypoglykämien sind zusätzlich zu bewerten.

        

Schwere Hypoglykämien sind Unterzuckerungen, die eine ärztliche Hilfe erfordern.

        

Diese Bestimmungen sind grundsätzlich auch für noch nicht bestandskräftig beschiedene Zeiträume vor Inkrafttreten der VersMedV am 1. Januar 2009 heranzuziehen (vgl. Bundessozialgerichts -BSG-, Urteil vom 11. Dezember 2008, B 9/9a SB 4/07 R, bei Juris, zu der Rückwirkung der vorläufigen Neufassung der AHP 2008 [a.a.O.]), vorliegend also ab Antragstellung im September 2005.

Da die Klägerin wegen des Diabetes mellitus mit Glibenclamid und Metformin behandelt wird und sich keiner Insulintherapie unterziehen muss, kommt lediglich ein Einzel-GdB von 20 in Betracht.

Eine Heraufsetzung dieses Einzel-GdB ist auch unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung (so BSG, Urteil vom 23. April 2009, B 9 SB 3/08 R, bei Juris; siehe auch Urteil des erkennenden Senats vom 28. August 2009, L 13 SB 294/07) nicht angezeigt: Danach binden die in Teil B Nr. 15.1 der Anlage zu § 2 VersMedV enthaltenen Regelungen zur Feststellung des GdB bei Diabetes mellitus die Rechtsanwender nicht, da sie gegen § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX verstoßen. Denn der medizinisch notwendige Aufwand für die Therapie einer Dauererkrankung wie des Diabetes mellitus kann je nach Art und notwendigen Zeitaufwand "Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft" im Sinne der genannten gesetzlichen Vorschrift haben. Demgegenüber wird in der Rechtsverordnung nach wie vor allein die Einstellungsqualität des Diabetes und nicht ein die Teilhabe beeinträchtigender Therapieaufwand berücksichtigt. Deshalb ist der Therapieaufwand von Gesetzes wegen bei der Entscheidung über die Höhe des GdB zwingend mit einzustellen. Die Notwendigkeit seiner Berücksichtigung kann ja nach Umfang dazu führen, dass der allein anhand der Einstellungsqualität des Diabetes mellitus beurteilte GdB auf den nächst höheren Zehnergrad festzustellen ist (so BSG, Urteil vom 11. Dezember 2008, B 9/9a SB 4/07 R, bei Juris). Vorliegend rechtfertigt der die Klägerin treffende konkrete Therapieaufwand nicht die Annahme, dass er sich auf die Teilhabe des behinderten Menschen am Leben in der Gesellschaft in einem Maße nachteilig auswirkte, das die Zuerkennung eines Einzel-GdB von 30 zur Folge hätte. Denn der bei der Klägerin bestehende Diabetes mellitus erfordert keine Insulintherapie, bei welcher die die Annahme eines höheren Therapieaufwandes rechtfertigenden Hypoglykämieprobleme auftreten können.

Für die Verdauungsschwäche der Bauchspeicheldrüse (vgl. Nr. 26.10 [S. 81] der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 10.3 [Bl. 57] der Anlage zu § 2 VersMedV) und den Bluthochdruck (vgl. Nr. 26.9 [S. 75] der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 9.3 [Bl. 51] der Anlage zu § 2 VersMedV) sind Einzel-GdB von jeweils 10 anzusetzen.

Der Einschätzung des Gutachters Dr. B folgend, wonach die Klägerin an einer in Abständen auftretenden leichten Harninkontinenz leidet, hat der Beklagte entsprechend den Vorgaben in Nr. 26.12 (S. 91) der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 12.2.4 (Bl. 67) der Anlage zu § 2 VersMedV hierfür einen Einzel-GdB von 10 angesetzt. Die von der Klägerin behauptete Stuhlinkontinenz ist nicht belegt. Derartige Feststellungen hat der Gutachter nicht getroffen. Auch ist den von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Unterlagen nicht zu entnehmen, dass sie unter Stuhlinkontinenz leidet. Vielmehr ist in dem klägerseits eingereichten Formular zur Einstufung der Pflegebedürftigkeit vom 11. April 2009 ausdrücklich vermerkt, dass sie stuhlkontinent ist.

Aus dem vorgelegten Untersuchungsbericht und dem Attest des Neurologen Dr. L vom 8. Juni 2006 bzw. vom 22. November 2007 ergibt sich, dass die Klägerin an einer Polyneuropathie erkrankt ist. Der Senat sieht sich jedoch außerstande, diesem Leiden einen bestimmten Einzel-GdB zuzuordnen. Denn für dessen Bestimmung reicht die Angabe einer Diagnose allein nicht aus (siehe Nr. 4 Abs. 3 [S. 6] der AHP 2008). Maßgebend sind nach § 2 SGB IX vielmehr die bestehenden Funktionseinschränkungen und die hieraus folgende Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft. Hierzu sind dem Senat keine Feststellungen möglich, da die Klägerin eine Untersuchung durch den vom Gericht bestellten Gutachter abgelehnt hat, obwohl ihr mitgeteilt worden ist, dass sie die Obliegenheit trifft, an der Sachverhaltsermittlung mitzuwirken. Der Umstand, dass die für die Feststellung des GdB erforderlichen Funktionseinschränkungen nicht ermittelt werden kann, geht somit zu ihren Lasten. Dies kann jedoch offen bleiben. Denn selbst wenn man die Angaben der Klägerin, sie habe kein Gefühl in den Fingern und seit Ende 2006 auch Schmerzen in den Händen, als wahr unterstellte, rechtfertigten derartige Einschränkungen – wie ein Vergleich zu Nr. 26.18 (S. 121) der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 18.13 (Bl. 95) der Anlage zu § 2 VersMedV zeigt, wonach eine Versteifung beider Daumengelenke und des Mittelhand-Handwurzelgelenks einen Einzel-GdB von 20 bedingt – käme vorliegend nur ein Einzel-GdB in dieser Höhe in Betracht, der sich auf die Höhe des Gesamt-GdB nicht auswirkte.

Liegen – wie hier – mehrere Beeinträchtigungen am Leben in der Gesellschaft vor, ist der GdB gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen. Nach Nr. 19 Abs. 3 der AHP 2008 bzw. Teil A Nr. 3c der Anlage zu § 2 VersMedV ist bei der Beurteilung des Gesamt-GdB von der Funktionsstörung auszugehen, die den höchsten Einzel-GdB bedingt, und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird. Eine Addition der einzelnen Werte ist nicht zulässig. Der höchste Einzel-GdB von 50 für die Hirnblutungs- und Gleichgewichtsstörungen ist mit Rücksicht auf die mit einem Einzel-GdB von 30 zu bewertenden Fehlhaltung und degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, der Daumensattelgelenke und der Kniegelenke sowie die Krampfadern beider Beine auf 70 zu erhöhen. Eine weitere Heraufsetzung des GdB ist nicht angezeigt. Nach Nr. 19 Abs. 4 der AHP bzw. Teil A Nr. 3d der Anlage zu § 2 VersMedV führen zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die – wie vorliegend die Verdauungsschwäche der Bauchspeicheldrüse, der Bluthochdruck und die Harninkontinenz – nur einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung. Auch bei leichten Funktionsbeeinträchtigungen mit einem GdB von 20 ist es vielfach – wie hier bei der Lungenfunktionsstörung, dem nicht insulinpflichtigen Diabetes mellitus und den zugunsten der Klägerin unterstellen Funktionsbeeinträchtigungen ihrer Hände als Folge der Polyneuropathie– nicht gerechtfertigt, auf eine wesentliche Zunahme des Ausmaßes der Behinderung zu schließen.

Die Klägerin hat ferner keinen Anspruch auf Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“. Der Beklagte hat mit den angefochtenen Bescheiden die Zuerkennung dieses Nachteilsausgleichs zu Recht abgelehnt.

Nach § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die Versorgungsämter neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung).

Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Nr. 11 der zu § 46 Straßenverkehrsordnung erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschrift (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüft-exartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außerstande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.

Eine derartige Gleichstellung setzt nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV aufgeführten Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Urteil vom 11. März 1998, B 9 SB 1/97 R, BSGE 82, 37). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht um einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen auf Grund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten Doppelunterschenkelamputierten mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann. Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (so BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002, B 9 SB 7/01 R, BSGE 90, 180). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen "aG" beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem Doppeloberschenkelamputierten oder Querschnittsgelähmten gleichsteht, sondern ob er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an. Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen. Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen "aG" geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 m wegen Erschöpfung eine Pause einlegen muss (vgl. BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 a.a.O.).

Die Klägerin ist zwar in ihrer Gehfähigkeit stark beeinträchtigt, jedoch ist ihr Gehvermögen nicht in so ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt, dass sie sich nur unter ebenso großen Anstrengungen fortbewegen kann wie der in Nr. 11 Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 der VV genannte Personenkreis. Dies hat das Sozialgericht überzeugend dargelegt. Der Senat folgt den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils vom 28. Juni 2004 und sieht nach § 153 Abs. 2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab.

Das Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren rechtfertigt keine abweichende Entscheidung. Entgegen ihrer Ansicht reicht es für die Zuerkennung des Merkmal „aG“ nicht aus, dass sie an einer Lungenfunktionsstörung leidet. Nach Nr. 31 Abs. 4 (S. 139) der AHP 2008 bzw. Teil D Nr. 3c (Bl. 116) der Anlage zu § 2 VersMedV gehören zwar Krankheiten der Atmungsorgane mit Einschränkung der Lungenfunktion schweren Grades zu den Erkrankungen der inneren Organe, die eine Gleichstellung im genannten Sinne erlauben. Jedoch erreicht die mit einem Einzel-GdB von 20 zu bewertende Lungenfunktionsstörung der Klägerin nicht den erforderlichen „schweren“ Grad, der nach Nr. 26.8 (S. 68) der AHP 2008 bzw. Teil B Nr. 8.3 (Bl. 44) der Anlage zu § 2 VersMedV einen Einzel-GdB von 80 bis 100 bedingt.

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Feststellung, dass bei ihr die gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht erforderlichen Nachteilsausgleichs „RF“ vorliegen (vgl. § 69 Abs. 4 SGB IX).

Abzustellen ist, da die Klägerin den Antrag auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF“ im September 2005 stellte, auf die Vorschriften des am 1. April 2005 in Kraft getretenen Achten Staatsvertrags zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Achter Rundfunkänderungsstaatsvertrag) in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes vom 27. Januar 2005 (GVBl. S. 82), welches die bis dahin geltende Berliner Verordnung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 2. Januar 1992 (GVBl. S. 3) aufhob. Spätere Änderungen, zuletzt im Zwölften Rundfunkänderungsstaatsvertrag in Verbindung mit § 1 des Berliner Zustimmungsgesetzes vom 2. April 2009 (GVBl. S. 138), haben die hier maßgeblichen Voraussetzungen unberührt gelassen.

Ob diese Vorschriften, wie das Sozialgericht in der angegriffenen Entscheidung gemeint hat, wegen Verstoßes gegen höherrangiges Bundesrecht verfassungswidrig sind, wobei im Hinblick auf Art. 100 GG insbesondere die gerichtliche Verwerfungskompetenz fraglich sein dürfte, kann offen bleiben. Denn der Kläger gehört nicht zu dem Personenkreis des Art. 5 § 6 Abs. 1 Satz 1 des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags.

Nach der hier allein in Frage stehenden Nr. 8 des Vertrags werden auf Antrag folgende natürliche Personen und deren Ehegatten im ausschließlich privaten Bereich von der Rundfunkgebührenpflicht befreit:

behinderte Menschen, deren Grad der Behinderung nicht nur vorübergehend wenigstens 80 vom Hundert beträgt und die wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.

Nach Nr. 33 Abs. 2 lit. c (S. 141) der vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung herausgegebenen und im Zeitpunkt der Antragstellung durch den Kläger (noch) geltenden „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ in der Fassung des Jahres 2005 (AHP 2005) gehören hierzu:

- behinderte Menschen, bei denen schwere Bewegungsstörungen – auch durch innere Leiden (schwere Herzleistungsschwäche, schwere Lungenfunktionsstörung) – bestehen und die deshalb auf Dauer selbst mit Hilfe von Begleitpersonen oder mit technischen Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl) öffentliche Veranstaltungen in zumutbarer Weise nicht besuchen können,

- behinderte Menschen, die durch ihre Behinderung auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken (z.B. durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können),

- behinderte Menschen mit – nicht nur vorübergehend – ansteckungsfähiger Lungentuberkulose,

- behinderte Menschen nach Organtransplantation, wenn über einen Zeitraum von einem halben Jahr hinaus die Therapie mit immunsuppressiven Medikamenten in einer so hohen Dosierung erfolgt, dass dem Betroffenen auferlegt wird, alle Menschenansammlungen zu meiden,

- geistig oder seelisch behinderte Menschen, bei denen befürchtet werden muss, dass sie beim Besuch öffentlicher Veranstaltungen durch motorische Unruhe, lautes Sprechen oder aggressives Verhalten stören.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - sind als öffentliche Veranstaltungen Zusammenkünfte politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender und wirtschaftlicher Art zu verstehen, die länger als 30 Minuten dauern, also nicht nur Ereignisse kultureller Art, sondern auch Sportveranstaltungen, Volksfeste, Messen, Märkte und Gottesdienste (vgl. BSG, Urteil vom 17. März 1982, 9a/9 RVs 6/81, SozR 3870 § 3 Nr. 15 = BSGE 53, 175). Die Unmöglichkeit der Teilnahme an solchen Veranstaltungen kann nur dann bejaht werden, wenn der Schwerbehinderte in einem derartigen Maße eingeschränkt ist, dass er praktisch von der Teilnahme am öffentlichen Gemeinschaftsleben ausgeschlossen und an das Haus gebunden ist. Mit dieser sehr engen Auslegung soll gewährleistet werden, dass der auch aus anderen Gründen problematische Nachteilsausgleich „RF“ (vgl. insbesondere BSG, Urteile vom 10. August 1993, 9/9a RVs 7/91, in: Breith 1994, S. 230, und vom 16. März 1994, 9 RVs 3/93, bei Juris, das die Auffassung vertritt, es erscheine wegen der nahezu vollständigen Ausstattung aller Haushalte in Deutschland mit Rundfunk- und Fernsehgeräten zunehmend zweifelhaft, dass durch den Nachteilsausgleich „RF“ tatsächlich ein behinderungsbedingter Mehraufwand ausgeglichen werde) nur Personengruppen zugute kommt, die den gesetzlich ausdrücklich genannten Schwerbehinderten (Blinden und Hörgeschädigten) und den aus wirtschaftlicher Bedrängnis sozial Benachteiligten vergleichbar sind.

Die Klägerin erfüllt diese Voraussetzungen nicht. Zum einen hat sie keinen Anspruch auf Feststellung eines Gesamt-GdB von 80. Zum anderen bestehen bei ihr keine Leiden im Sinne des Art. 5 § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr. 8 des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrags, die sie ständig daran hinderten, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Dokumentiert ist eine erhebliche Beeinträchtigung ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr. Allerdings ist es der Klägerin nach Einschätzung des Senats zuzumuten, öffentliche Veranstaltungen mit Hilfe einer Begleitperson zu besuchen, zumal ihr der Beklagte das Merkzeichen „B“ zuerkannte. Auch die von der Klägerin vorgebrachte Inkontinenz rechtfertigt nicht die Zuerkennung des Merkzeichens „RF“. Denn ein Schwerbehinderter ist wegen Harninkontinenz nicht daran gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen, da das Tragen von Windeln und ähnlichen Hilfsmitteln zumutbar ist (so BSG in ständiger Rechtsprechung, siehe Urteil vom 11. September 1991, 9a RVs 1/90, bei Juris). Wie bereits oben dargelegt wurde, ist nicht belegt, dass die Klägerin auch stuhlinkontinent ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.