Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 23. Senat | Entscheidungsdatum | 09.01.2013 | |
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Aktenzeichen | L 23 SO 296/12 B ER | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 53 Abs 1 S 2 SGB 12, § 54 Abs 1 Nr 1 SGB 12, § 12 BSHG§47V, § 1 Nr 4 BSHG§47V, § 86b Abs 2 S 1 SGG |
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Neuruppin vom 08. Oktober 2012 wird zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das Sozialgericht Neuruppin hat den Antragsgegner zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung (§ 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG) – vorläufig - verpflichtet, der Antragstellerin Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kostenbeteiligung in Höhe von 96 € pro Monat für die Unterbringung im Internat der Sin K zur Ermöglichung des Schulbesuchs der Schule für Blinde und Sehbehinderte für das Schuljahr 2012/2013 längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss eines Hauptsacheverfahrens zu gewähren.
Nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit der vorläufigen Regelung (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 Satz 3 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 Zivilprozessordnung - ZPO -).
Die Antragstellerin hat einen Anspruch auf Übernahme des Eigenanteils an den Kosten ihrer Unterbringung im Internat für Sehgeschädigte (K W) im Rahmen der Eingliederungshilfe glaubhaft gemacht.
Dieser Anspruch folgt aus §§ 53, 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII i. V. m. § 12 Eingliederungshilfeverordnung - EinglHVO -. Danach sind Leistungen der Eingliederungshilfe auch Hilfen zu einer allgemeinen Schulbildung, vor allem im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht, und diese Hilfen umfassen auch Maßnahmen zugunsten behinderter Kinder und Jugendlicher, wenn die Maßnahmen erforderlich und geeignet sind, den Behinderten den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht zu ermöglichen oder zu erleichtern. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt.
Ob die Antragstellerin hierbei aufgrund ihrer Behinderungen zum Personenkreis des § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII gehört, wovon das Sozialgericht in der angefochtenen Entscheidung ausgegangen ist und was der Beschwerdeführer im Hinblick darauf bestreitet, dass die Antragstellerin im Fernbereich noch über eine Sehschärfe von 0,5 auf dem rechten Auge verfügt, konnte der Senat im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes dahinstehen lassen. Die Frage, ob schon aufgrund der autistischen Störung der Antragstellerin oder aufgrund der weiteren durch augenärztliches Gutachten vom 15. Juni 2012 festgestellten Störungen der Sehfunktion ihrer Sehbehinderung ein entsprechender Schweregrad zukommt, wie den von § 1 Nr. 4 a) EinglHVO erfassten Fällen (s. § 1 Nr. 4 b) EinglHVO), wird gegebenenfalls im Hauptsacheverfahren zu klären sein.
Denn jedenfalls gehört die Antragstellerin aufgrund der mit dem oben genannten Gutachten, auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird, festgestellten massiven Beeinträchtigung ihrer Sehkraft sowie der bei ihr zusätzlich diagnostizierten seelischen Behinderung „Asperger-Syndrom“ unstreitig zum Kreis der von § 53 Absatz 1 Satz 2 SGB XII erfassten Personen mit einer anderen körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung, die Leistungen der Eingliederungshilfe erhalten können.
Die Antragstellerin hat jedenfalls einen Anspruch auf eine (Ermessens-)Leistung der Eingliederungshilfe nach § 53 Abs. 1 Satz 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII i. V. m. § 12 EinglHVO hinreichend glaubhaft gemacht.
Hierbei war zu berücksichtigen, dass ein in der Hauptsache geltend zu machender Anspruch auf Gewährung einer im Ermessen des Sozialhilfeträgers stehenden Leistung nur dann besteht, wenn eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt und dementsprechend eine Verpflichtung des Antragsgegners im Wege der einstweiligen Anordnung grundsätzlich nur in Betracht kommt, wenn sich der zu Grunde liegende materiell-rechtliche Anspruch auf ermessensfehlerfreies Verwaltungshandeln ausnahmsweise zu einem Anspruch auf Erlass des begehrten Verwaltungsaktes verdichtet hat, von einer Ermessensreduzierung auf Null auszugehen ist (vgl. etwa LSG Hessen, NDV-RD 2006, 110; ausführlich Finkelnburg/Dombert/Külpmann, vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 5. Auflage, Rn 210 ff. betr. Sicherung des Anspruchs auf Neubescheidung m.w.N.).
Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. Es ist überwiegend wahrscheinlich, dass nur eine Entscheidung im Sinne des Begehrens der Antragstellerin rechtmäßig wäre, die Gewährung der begehrten Leistung der Eingliederungshilfe das einzige rechtmäßige Ergebnis eine Ermessensbetätigung des Antragsgegners sein kann.
Die bedarfsgerechte Beschulung der Antragstellerin begründet das Erfordernis ihrer Unterbringung in dem der Schule für Blinde und Sehbehinderte in K W angegliederten Internat als Bestandteil der Hilfe zur angemessenen Schulbildung. Denn die streitgegenständlichen - anteiligen - Kosten des Besuchs des Internats in K W stellen sich als notwendige Folge ihrer Behinderung dar. Sie entstehen nicht wie beim regulären Schulbesuch eines nicht behinderten Kindes als notwendige Bedürfnisse des täglichen Lebens, sondern notwendigerweise durch die besonderen Verhältnisse seiner Behinderung. Eine angemessene Schulbildung kann die Antragstellerin nach dem Bescheid zur Bildungsempfehlung des Förderausschusses des Staatlichen Schulamtes E vom 29. Februar 2012 nur in einer Schule mit dem Förderschwerpunkt „Sehen“ erlangen. Mit dem genannten Bescheid wurde die Beschulung der Antragstellerin im Schuljahr 2012/13 in der 7. Klasse der - ihrem Wohnort nächstgelegenen Schule für Sehbehinderte, der - Schule für Blinde und Sehbehinderte in K W festgelegt. Diese befindet sich in einer Entfernung von 130 km zu ihrem Heimatwohnort. Eine tägliche Anreise ist der Antragstellerin wegen dieser Entfernung auch aus Sicht des Antragsgegners nicht zuzumuten. Aus diesem Grund ist eine Unterbringung in dem der Schule angegliederten Wohnheim zwingend erforderlich. Anders als im Fall eines nicht behinderten Schülers, der sich aus freien Stücken für den Besuch eines Internates entscheidet, ist die Unterbringung der Antragstellerin zur Wahrnehmung einer bedarfsgerechten Beschulung für sie unumgänglich. Die hierfür anfallenden Aufwendungen sind der Antragstellerin, anders als einem nicht behinderten Schüler, durch ihre Behinderung aufgezwungen. Daher sind sie notwendiger Bestandteil der Hilfe zur angemessenen Schulbildung. Die allein der Entfernung der Schule vom elterlichen Wohnort geschuldete Unterbringung in dem Wohnheim stellt sich als Maßnahme dar, die erforderlich und geeignet ist, der Antragstellerin den Schulbesuch im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht überhaupt erst zu ermöglichen (vgl. in einen ähnlich gelagerten Fall BVerwGE 48, 228 ff.).
Der Grundsatz des Nachrangs der Sozialhilfe gemäß § 2 Abs. 1 SGB XII steht dem hier geltend gemachten Eingliederungsanspruch nicht entgegen. Dies gilt zunächst hinsichtlich einer Kostentragungspflicht des Schulträgers nach den Bestimmungen des BbgSchulG. Denn der Nachrang der Sozialhilfe setzt voraus, dass ein solcher Anspruch rechtzeitig durchgesetzt werden kann und die anderweitige Hilfe tatsächlich bereitsteht. Letzteres ist vorliegend aber nicht der Fall. Vielmehr verlangt der örtlich zuständige Schulträger gemäß § 114 Abs. 4 Satz 2 und 3 BbgSchulG eine angemessene Kostenbeteiligung der Schüler bzw. deren Eltern an den für die Unterbringung in dem Internat anfallenden Heimkosten. Von den Eltern der Antragstellerin wird auf dieser Grundlage nach Auskunft des Antragsgegners (Schreiben vom 20. August 2012) die hier streitgegenständliche Beteiligung an den Kosten der Unterkunft in Höhe von 96,00 € monatlich erhoben.
Die Antragstellerin kann auch nicht auf einen gegenüber der Sozialhilfe vorrangigen Unterhaltsanspruch gegenüber ihren Eltern verwiesen werden. Denn § 92 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Satz 2 SGB XII mutet Eltern behinderter schulpflichtiger Kinder - unabhängig von ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen - bei Leistungen zu einer angemessenen Schulbildung mit notwendiger Heimunterbringung lediglich zu, die Mittel für die Kosten des Lebensunterhalts in Höhe der für den häuslichen Lebensunterhalt ersparten Aufwendungen aufzubringen. Sinn dieser Vorschrift ist es, die Eltern behinderter mit denen nicht behinderter Kinder hinsichtlich der aus einer angemessenen Schulbildung ihrer Kinder folgenden Lasten wirtschaftlich gleichzustellen (vgl. BVerwGE 48, 228).
In das Ermessen einzustellende Erwägungen, die eine Leistungsgewährung fraglich erscheinen lassen und gegen eine Reduzierung des Ermessens auf Null sprechen könnten, sind nicht erkennbar und werden vom Antragsgegner auch im Beschwerdeverfahren nicht vorgetragen.
Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Dem Erlass einer einstweiligen Anordnung steht nicht entgegen, dass zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung des Senats eine fristlose Kündigung des Betreuungsvertrages durch die Internatsträgerin offenbar noch nicht erfolgt ist. Denn eine solche ist bei weiterer Nichtzahlung des Eigenanteils an den Internatskosten für die Dauer des bisher noch nicht anhängigen Hauptsacheverfahrens mit Sicherheit zu erwarten. Bei fristloser Kündigung des Betreuungsvertrages durch die Internatsträgerin wäre aber die bedarfsangemessene Beschulung der Antragstellerin gefährdet. Die Antragstellerin kann auch nicht auf die vorübergehende Zahlung des Eigenanteils durch ihre Eltern verwiesen werden. Denn nach den zum Verwaltungsvorgang eingereichten Unterlagen über die Einkommensverhältnisse ihrer Eltern ist hinreichend glaubhaft, dass diesen eine monatliche Belastung in Höhe von 96 € bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens nicht zuzumuten wäre.
Die Kostenentscheidung folgt aus entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).