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Notwendigkeit der Aushändigung eines Merkblatts über die Rechtsmittel, Nr. 142 Abs. 1 Satz 2 RiStBV, kein Verstoß gegen § 35a StPO


Metadaten

Gericht OLG Brandenburg 1. Strafsenat Entscheidungsdatum 05.11.2012
Aktenzeichen 1 Ws 194/12 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen Nr 142 Abs 1 S 2 RiStBV

Tenor

Die sofortige Beschwerde des Angeklagten gegen den Beschluss der 4. kleinen Strafkammer des Landgerichts Neuruppin vom 25. Juni 2012 wird als unbegründet verworfen.

Die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dabei entstandenen Auslagen trägt der Angeklagte.

Gründe

I.

Der Angeklagte und Beschwerdeführer wendet sich mit seiner sofortigen Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Neuruppin 25. Juni 2012 mit dem seine Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts Oranienburg vom 21. September 2011 als unzulässig verworfen worden war.

Dem liegt folgender Verfahrensgang zugrunde:

Das Amtsgericht Oranienburg verurteilte den im Zeitraum vom Februar 1998 bis November 2007 bereits 19 Mal strafrechtlich in Erscheinung getretenen Angeklagten am 21. September 2011 wegen Diebstahls und Hausfriedensbruchs zu einer unbedingten Gesamtfreiheitsstrafe von 3 Monaten. Dem Angeklagten, der sich zum Tatvorwurf in der Hauptverhandlung am 21. September 2011 „umfassend“ geständig eingelassen hatte (Bl. 5 UA), ist nach der Urteilsverkündung eine mündliche Rechtsmittelbelehrung erteilt, eine schriftliche Rechtsmittelbelehrung bzw. ein entsprechendes Merkblatt dagegen nicht ausgehändigt worden. Gegen das in Anwesenheit des Angeklagten, der keinen Rechtsanwalt mit seiner Verteidigung beauftragt hatte, ergangene Urteil hat er mit dem bei Gericht am 29. September 2011 eingegangenen Schreiben „Widerspruch“ eingelegt und dabei ausgeführt, dass er „eine aussichtsreiche Chance habe, [sein] Leben in geregelte Bahnen zu bringen“.

Die 4. kleine Strafkammer des Landgerichts Neuruppin hat mit Beschluss vom 25. Juni 2012 den „Widerspruch“ des Angeklagten als Berufung gegen das amtsgerichtliche Urteil ausgelegt und diese als unzulässig verworfen, weil sie entgegen § 314 Abs. 1 StPO nicht innerhalb von einer Woche nach Verkündung des Urteils bei Gericht eingegangen ist. Gegen diesen, dem Angeklagten am 28. Juni 2012 zugestellten Beschluss hat dieser mit dem bei Gericht am 2. Juli 2012 angebrachten Schreiben sinngemäß sofortige Beschwerde eingelegt und darauf hingewiesen, dass er nach „langer Arbeitslosigkeit eine feste Arbeitsstelle“ habe. Mit Beschluss vom 12. Juli 2012 hat die 4. kleine Strafkammer des Landgerichts Neuruppin der sofortigen Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache über die Staatsanwaltschaft dem Brandenburgischen Oberlandesgericht als Beschwerdegericht zugeleitet.

Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat in ihrer Stellungnahme 17. Oktober 2012 beantragt, dem Angeklagten wegen Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren und den Beschluss des Landgerichts Neuruppin vom 25. Juni 2012 aufzuheben. Zur Begründung führt die Generalstaatsanwaltschaft aus:

“Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung der Berufung liegen vor. [...]

Soweit nach § 44 Satz 2 StPO die Versäumung einer Rechtsmittelfrist auch dann als unverschuldet anzusehen ist, wenn die Belehrung nach § 35a Satz 1 und 2, 319 II Satz 3 StPO oder § 346 II Satz 3 StPO unterblieben ist, ist ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls vom 21.09.2011 (Bl. 82 d. A.) eine Rechtsmittelbelehrung erteilt worden.

Jedoch ist dem Beschwerdeführer ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls nicht das die Rechtsmittelbelehrung in schriftlicher Form enthaltene Merkblatt ausgehändigt worden (Bl. 82 d. A.). Das Merkblatt ist dem Betroffenen jedoch stets auszuhändigen, vor allem dann, wenn dieser anwaltlich nicht vertreten ist (vgl. Meyer-Goßner, Anm. 7 zu § 35a StPO m. w. N., 55. Auflage, 2012). Auch wenn § 35a StPO für Rechtsmittelbelehrungen keine bestimmte Form vorschreibt, entspricht es insoweit ständiger Rechtsprechung, dass ein nicht anwaltlich vertretener, rechtsunkundiger Angeklagter ergänzend durch Aushändigung eines Merkblatts zu belehren ist (vgl. BVerfG NJW 1996, 1811 f. m. w. N.).

Die mündliche Rechtsmittelbelehrung genügte deshalb nicht. Da die Rechtsmittelbelehrung unvollständig war, war die Versäumung der Rechtsmittelfrist als unverschuldet anzusehen.”

II.

1. Die sofortige Beschwerde gegen den Verwerfungsbeschluss des Landgerichts Neuruppin ist nach § 322 Abs. 2 StPO statthaft sowie frist- und formgerecht bei Gericht angebracht worden.

2. Die sofortige Beschwerde hat in der Sache jedoch keinen Erfolg, sie ist unbegründet.

Die Frist zur Einlegung der Berufung beträgt gem. § 314 Abs. 1 StGB eine Woche. Die Wochenfrist, die nicht verlängert werden kann, beginnt mit der Urteilsverkündung und wird nach § 43 StPO berechnet. Im vorliegenden Fall wurde dem Angeklagten am 21. September 2011 das Urteil verkündet, so dass die Frist zur Einlegung der Berufung mit Ablauf des 28. September 2011 (Mittwoch) endete. Folglich war die am 29. September 2011 bei Gericht eingegangene Berufung verspätet.

Nach § 44 Satz 1 StPO kann dem Angeklagten jedoch dann (von Amts wegen) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, mithin Wiedereinsetzung in die Frist zur Einlegung der Berufung gewährt werden, wenn er ohne Verschulden verhindert war, die Frist einzuhalten. Dabei gilt die Versäumung der Frist nach § 44 Satz 2 StPO u. a. dann als unverschuldet, wenn eine Rechtsmittelbelehrung gem. § 35a Satz 1, 2 StGB nicht erteilt worden war.

Ein solcher Fall liegt hier jedoch – entgegen der Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft – nicht vor. Dem Angeklagten ist ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls nach der Urteilsverkündung eine mündliche Rechtsmittelbelehrung erteilt worden. Zwar ist dem Angeklagten entgegen Nr. 142 Abs. 1 Satz 2 RiStBV kein Merkblatt über die Möglichkeiten und Förmlichkeiten der Rechtsmitteleinlegung ausgehändigt worden, jedoch liegt im vorliegenden Fall darin kein Verstoß gegen § 35a StPO begründet, der eine Wiedereinsetzung in die Frist zur Berufungseinlegung nach sich ziehen und die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses erfordern würde.

Der Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg ist zwar darin beizupflichten, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 21. Dezember 1995 (2 BvR 2033/95, zit. nach juris, abgedruckt in: NJW 1996, 1811) ausgeführt hat, es entspreche – wenn auch § 35a StPO für Rechtsmittelbelehrungen keine bestimmte Form vorschreibe – ständiger, vom Schrifttum gebilligter fachgerichtlicher Rechtsprechung, dass ein nicht anwaltlich vertretener, rechtsunkundiger Angeklagter ergänzend durch Aushändigung eines Merkblatts über die Rechtsmittel zu belehren ist, wenn es sich um eine schwierige Belehrung handele, was wiederum aus der der richterlichen Fürsorgepflicht folge (BVerfG a.a.O., zit. nach juris, dort Rdnr. 17; ebenso OLG Hamm VRS 59, 347, 348; OLG Köln, OLGSt Nr. 1 zu § 35a StPO, S. 2 m.w.N.; KK-Maul, StPO, 6. Aufl., § 35a, Rdnr. 10; KMR-Paulus, StPO, § 35a, Rdnr. 12; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. § 35a Rdnr. 7; J. Meyer, ZSW Bd. 93 (1981), 507, 527).

Derselbe Senat des Bundesverfassungsgerichts hat jedoch in seiner Entscheidung vom 28. Februar 2007 (2 BvR 2619/06, zit. nach juris, abgedruckt in NStZ 2007, 416) klargestellt, dass aus der vorangegangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 21. Dezember 1995 keine generelle Pflicht zur Aushändigung eines Merkblattes gefordert werden könne (BVerfG a.a.O, zit. nach juris, dort Rdnr. 5; insoweit vom Bundesverfassungsgericht als „irreführend“ bezeichnet: Meyer-Goßner, StPO, § 35a Rn. 7; SK-Weßlau, StPO, § 35a Rn. 12; Rotsch, in: Krekeler/Löffelmann, Anwaltskommentar, StPO, 2007, § 35a Rn. 5).

Im vorliegenden Fall führt die unterlassene Aushändigung eines Merkblatts über die Rechtsmitteleinlegung durch den Tatrichter nicht zu einer von Amts wegen zu gewährenden Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Belehrung über das Rechtsmittel der Berufung bzw. deren Einlegung binnen Wochenfrist stellt keine schwierige Belehrung dar. Dies gilt umso mehr als eine an Fristen und Förmlichkeiten gebundene Berufungsbegründung – anders als bei der Revision – gesetzlich nicht vorgeschrieben ist (arg. aus § 317 StPO). Zur Erfassung der Rechtsmittelfristen, hier der Berufungseinlegungsfrist von einer Woche, genügt ein durchschnittliches Denk- und Auffassungsvermögen. Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte außerstande ist, die mündlich erteilte Rechtsmittelbelehrung zu verstehen und im Gedächtnis zu behalten, sind weder den Urteilsgründen noch dem sonstigen Akteninhalt zu entnehmen und auch nicht von dem Angeklagten vorgetragen worden. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass dem Angeklagten der Umgang mit der Strafjustiz nicht fremd ist. Der Auszug aus dem Bundeszentralregister weist für den Zeitraum von 1998 bis 2007, mithin für einen Zeitraum von 9 Jahren, 19 Eintragungen aus, davon 13 wegen Diebstahls, teils im besonders schweren Fall, zwei wegen gefährlicher Körperverletzung, sowie jeweils eine wegen räuberischer Erpressung, Raubes, Widerstands gegen Vollstreckungsbesamte und Hausfriedensbruchs. Neben Einstellungen nach § 47 JGG wurde der Angeklagte u.a. dreimal zu Jugendarrest, dreimal zu Freiheitsstrafen unter Strafaussetzung zur Bewährung und einmal zu einer unbedingten Freiheitsstrafe verurteilt. Aufgrund dieser zahlreichen Strafverfahren, in denen dem Angeklagten ebenfalls Rechtsmittelbelehrungen erteilt worden waren, kann davon ausgegangen werden, dass dem Angeklagten bekannt war, welche Möglichkeiten ihm offen standen, das amtsgerichtliche Urteil anzufechten.

Anhaltspunkte dafür, dass der verfristeten Einlegung der Berufung eine ungewöhnlich lange Postlaufzeit zur Grunde lag (vgl. dazu BGH NStZ 1984, 209; Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. § 44 Rdnr. 16 m.w.N.) und aus diesem Grunde dem Angeklagten (von Amts wegen) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren wäre, sind nicht ersichtlich. Dagegen spricht, dass der Angeklagte nach eigener Mitteilung vom 22. August 2012 seine Berufungsschrift etwa 6 bis 9 Tage nach der Hauptverhandlung vom 21. September 2011 bei der Post aufgegeben habe.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.