Gericht | VG Cottbus 1. Kammer | Entscheidungsdatum | 06.06.2012 | |
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Aktenzeichen | 1 L 126/12 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 80 Abs 3 S 1 VwGO |
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis und der Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins in Ziffer 3. (i. V. m. Ziffer 1. und 2.) der Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 27. Oktober 2011 wird aufgehoben.
Dem Antragsgegner wird aufgegeben, dem Antragsteller den Führerschein auszuhändigen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 7.500,00 € festgesetzt.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 S. 1 i. V. m. Abs. 2 S. 1 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ist zulässig und begründet.
Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis und der Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins in Ziffer 3. der angefochtenen Ordnungsverfügung des Antragsgegners vom 27. Oktober 2011 ist rechtswidrig, weil sie den Anforderungen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO nicht gerecht wird. Nach dieser Bestimmung hat die Behörde in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts schriftlich zu begründen. Die Vorschrift hält die Behörde vor allem dazu an, sich des Ausnahmecharakters einer Vollziehungsanordnung mit Blick auf den regelmäßig eintretenden Suspensiveffekt eines Rechtsbehelfs, § 80 Abs. 1 S. 1 VwGO, bewusst zu werden und die Frage des Sofortvollzugs durch eine entsprechende Vollziehungsanordnung sorgfältig zu prüfen; daneben soll der Betroffene über die für die Behörde maßgeblichen Gründe des von ihr angenommenen überwiegenden Sofortvollzugsinteresses informiert und das Gericht in die Lage versetzt werden, die Maßnahme der Behörde umfassend beurteilen zu können (vgl. etwa BVerwG, Beschl. v. 18. September 2001 – 1 DB 26.01 – juris Rn. 6; VG Cottbus, Beschl. v. 02. November 2007 – 2 L 236.07 – juris Rn. 2; Tietje: "Die Heilung von Begründungsmängeln nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO im verwaltungsgerichtlichen Verfahren" in DVBl. 1998, S. 124 ff, S. 128). Aus der Begründung muss hinreichend nachvollziehbar hervorgehen, dass und aus welchen Gründen die Behörde im konkreten Einzelfall dem besonderen öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts den Vorrang vor dem Aufschubinteresse des Betroffenen eingeräumt hat. Sind die formellen Begründungsanforderungen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO gewahrt, kommt es hingegen in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die Annahme eines überwiegenden Sofortvollzugsinteresses aus den angegebenen Gründen bereits voll zu überzeugen vermag.
Pauschale und nichtssagende formelhafte Wendungen genügen dem Begründungserfordernis regelmäßig nicht; lediglich dann, wenn die den Erlass des Verwaltungsakts rechtfertigenden Gründe zugleich – wie regelmäßig im Bereich der Gefahrenabwehr, so auch der Entziehung der Fahrerlaubnis – die Dringlichkeit der Vollziehung zu begründen geeignet sind, kann sich die Behörde auf die den Verwaltungsakt selbst tragenden Erwägungen stützen. Das gilt insbesondere in den Fällen der Entziehung der Fahrerlaubnis wegen des Konsums von Alkohol oder anderer Drogen. Hier bedarf es stets der Abwägung zwischen den Gefahren, die für hochrangige Rechtsgüter anderer Verkehrsteilnehmer aus der weiteren Teilnahme des als ungeeignet angesehenen Kraftfahrzeugführers entstehen, und dem Interesse des Betroffenen, weiterhin als Führer eines Kraftfahrzeugs am Straßenverkehr teilnehmen zu können. Diese Interessenlage ist in diesen Sachverhaltskonstellationen typischerweise gleich gelagert, so dass auch eine typisierende Begründung ausreichen kann.
Zu berücksichtigen ist allerdings, dass - wie etwa § 2 a Abs. 6 und § 4 Abs. 7 S. 2 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) zeigen - ein Rechtsbehelf in den sonstigen Fällen der Entziehung der Fahrerlaubnis, so auch nach § 3 Abs. 1 S. 1 StVG, dem Willen des Gesetzgebers nach grundsätzlich aufschiebende Wirkung entfalten soll. Vor diesem Hintergrund darf die Möglichkeit, auf typisierende Begründungen zurückzugreifen, nicht dazu führen, grundsätzliche Entscheidungen des Gesetzgebers zu umgehen. Soll das gesetzliche Begründungserfordernis mithin nicht jede Bedeutung verlieren, muss sich die Verwaltung auch in den (scheinbar) gleich gelagerten Fällen der Fahrerlaubnisentziehung wegen mangelnder Eignung nach § 3 Abs. 1 S. 1 StVG in jedem Einzelfall Rechenschaft darüber ablegen, ob und warum eine Vollziehungsanordnung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO auch hier veranlasst ist. Liegen Besonderheiten nicht vor, kann sie auf eine typisierende Begründung für den Sofortvollzug zurückgreifen - liegen hingegen Besonderheiten des Einzelfalles vor, muss die Behörde in der Begründung zumindest deutlich machen, weshalb sie auch in dem zur Beurteilung stehenden Fall unter Einbeziehung der Einzelumstände einen Sofortvollzug für gerechtfertigt erachtet (vgl. etwa VG Cottbus, Beschlüsse der 2. Kammer v. 02. November 2007 – 2 L 236/07 – juris Rn. 6, und der 3. Kammer v. 09. September 2008 – 3 L 188/08 – juris Rn. 10 ff sowie zuletzt der Kammer vom 17. April 2012 - VG 1 L 102/12; Bayerischer VGH, Beschl. v. 04. Januar 2006 – 11 CS 05.1878 – juris Rn. 17 ff., 18; vgl. auch Oberverwaltungsgericht für das Land Brandenburg, Beschl. v. 05. Februar 1998 – 4 B 134/97 – juris).
Die Voraussetzungen eines Sonderfalles, der einen Rückgriff auf eine lediglich standardisierte Begründung verbietet, können insbesondere dann vorliegen, wenn zwischen dem Ereignis, welches Grundlage der Fahrerlaubnisentziehung oder – wie vorliegend – der Aufforderung zur Vorlage eines Gutachtens zur Prüfung der Fahreignung des Fahrerlaubnisinhabers ist, und der Ordnungsverfügung ein langer Zeitraum liegt (vgl. VG Cottbus, Beschlüsse der 02. Kammer v. 02. November 2007 – 2 L 236/07 – juris, und der 3. Kammer v. 09. September 2008 – 3 L 188/08 – juris; vgl. auch BVerfG, Beschl. v. 05. März 2007 – 1 BVR 305/07 – juris). So liegt es hier. Der Antragsgegner hat zur Begründung des Sofortvollzugs der Entziehung der Fahrerlaubnis in der Ordnungsverfügung vom 27. Oktober 2011 – von der Begründung der Sachentscheidung graphisch getrennt – auf Seite 4 ausgeführt, die Fahrerlaubnisbehörde sei verpflichtet, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass nur Fahrzeugführer am motorisierten Straßenverkehr teilnehmen, welche die charakterliche Eignung besitzen, um die gesetzlichen Regelungen, die für eine hohe Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer notwendig sind, bewusst und freiwillig einzuhalten. Durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung werde zugunsten der Allgemeinheit verhindert, dass unzumutbare Gefahren für die Öffentlichkeit entstehen. Es sei der Allgemeinheit nicht zuzumuten gewesen, den bezweckten Erfolg durch ein möglicherweise lang andauerndes Klageverfahren hinauszuzögern. Das Interesse des Antragstellers, weiterhin Inhaber einer gültigen Fahrerlaubnis zu bleiben, müsse hinter dem Interesse der Allgemeinheit am Schutz vor ungeeigneten Kraftfahrern zurückstehen. Mit diesen Ausführungen nimmt der Antragsgegner lediglich auf die Gründe Bezug, die in den Fällen des Alkoholmissbrauchs regelmäßig geeignet sind, den Sofortvollzug der Entziehung der Fahrerlaubnis zu begründen, er berücksichtigt jedoch die vorliegenden Umstände des Einzelfalls nicht. Entscheidend ist, dass dem Antragsteller die Fahrerlaubnis durch strafgerichtliche Entscheidung vor mehr als 10 Jahren aufgrund der Trunkenheitsfahrt vom 17. Dezember 2000 – die Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 1,25 mg/l – entzogen wurde und dass er nachfolgend nicht mehr vergleichbar im Straßenverkehr auffällig geworden ist. Bereits vor diesem Hintergrund hätte der Antragsgegner jedenfalls prüfen und in der Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs der Fahrerlaubnisentziehung hinreichend deutlich machen müssen, aus welchen Gründen er auch unter Berücksichtigung dieser Besonderheit des Einzellfalles von einer akuten Gefahr für den Straßenverkehr ausgeht. Dies gilt erst recht mit Blick darauf, dass der Antragsgegner die Verkehrsstraftat erst am 13. Juni 2011 zum Anlass nahm, den Antragsteller aus diesem Grunde zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens aufzufordern, nachdem er dem Antragsteller noch am 02. Juli 2002 ohne Weiteres eine neue Fahrerlaubnis erteilt hatte.
Der Antragsgegner hat die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung in dem Ausgangsbescheid auch nicht im Verlauf des Verwaltungsverfahrens bzw. des gerichtlichen Verfahrens hinreichend ergänzt und damit geheilt (zu dieser Möglichkeit vgl. Beschl. der Kammer v. 15. Juni 2011 – VG 1 L 128/11 – unter Verweis auf OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 16. April 2008 - OVG 3 S 106.07 – juris Rn. 6 ff.). Unabhängig davon, dass der Antragsgegner noch in der Antragserwiderung vom 23. April 2012 davon ausgeht, dass den Anforderungen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO bereits mit den Erwägungen im Ausgangsbescheid genügt sei, machen seine Ausführungen auf Seite 5, oben, des Widerspruchsbescheides vom 15. März 2012 ebenso wenig wie die Antragserwiderung deutlich, dass er die vorliegende besondere Fallkonstellation nunmehr auch in diesem Zusammenhang berücksichtigt hat.
Entbehrt die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung einer nach § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO hinreichenden Begründung, gilt Entsprechendes für die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins nach § 47 Abs. 1 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV); insoweit handelt es sich - auch der "Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung zu Ziffer 2." nach (S. 4 der Ordnungsverfügung) - um einen bloßen Annex, der das Schicksal der Fahrerlaubnisentziehung teilt.
Fehlt es an einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO genügende Begründung, ist die Anordnung des Sofortvollzugs aufzuheben (vgl. nur BVerwG, Beschl. v. 18. September 2001 – 1 DB 26.01 – juris Rn. 9; OVG für das Land Brandenburg, Beschl. des 3. Senats v. 03. Dezember 2002 – 3 B 105/02, OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 18. Juni 2007 – OVG 3 S 28.07; VG Cottbus, Beschl. v. 02. November 2007 – 2 L 236/07 – juris). Die Aufhebung der Anordnung des Sofortvollzugs hat zur Folge, dass der Klage des Antragstellers vom 19. April 2012 (VG 1 K 405/12) insoweit wiederum aufschiebende Wirkung zukommt, so dass es auf weitere Einwände gegen den angefochtenen Bescheid nicht ankommt. Das Gericht weist allerdings zur Meidung von Missverständnissen darauf hin, dass es dem Antragsgegner unbenommen bleibt, die sofortige Vollziehung mit einer den Anforderungen des § 80 Abs. 3 S. 1 VwGO genügenden Begründung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO erneut anzuordnen.
Die Verpflichtung des Antragsgegners, dem Antragsteller den Führerschein (vorläufig) wieder auszuhändigen, ergibt sich aus § 80 Abs. 5 S. 3 VwGO.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes. Hinsichtlich der Fahrerlaubnisentziehung der Klassen A und CE (unter Einschluss der anderen Klassen, § 6 Abs. 3 FeV) ist in Anlehnung an Ziffer 46.1, 46.4 und 46.8 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit von dem dreifachen Auffangwert des § 52 Abs. 2 GKG auszugehen, der mit Blick auf die Vorläufigkeit einer Entscheidung zu halbieren ist.