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Zulassung der Berufung; ernstliche Zweifel; fehlerhafte Beweiswürdigung; Geburtsdatum; ausländischer Reisepass; ausländische öffentliche Urkunde; Echtheit; materielle Beweiskraft; freie Beweiswürdigung; Verfahrensrüge; verzögerte Urteilsabsetzung


Metadaten

Gericht OVG Berlin-Brandenburg 2. Senat Entscheidungsdatum 30.04.2012
Aktenzeichen OVG 2 N 16.11 ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 124 Abs 2 Nr 1 VwGO, § 124 Abs 2 Nr 5 VwGO, § 124a Abs 4 S 4 VwGO, § 108 Abs 1 S 1 VwGO, § 117 Abs 4 VwGO, § 138 Nr 6 VwGO, § 418 Abs 3 ZPO, § 438 ZPO

Tenor

Der Antrag der Klägerin auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 23. November 2010 wird abgelehnt.

Die Kosten des Zulassungsverfahrens trägt die Klägerin mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten des Beigeladenen, die dieser selbst trägt.

Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 5000 Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.

1. Der Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils des Verwaltungsgerichts (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) liegt nicht vor. Derartige Zweifel setzen voraus, dass ein tragender Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung der angegriffenen Entscheidung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage gestellt werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 21. Dezember 2009 – 1 BvR 812/09 -, NJW 2010, 1062, 1063). Das im Zulassungsantrag Dargelegte (vgl. § 124 a Abs. 4 Satz 4 VwGO) erfüllt diese Anforderungen nicht.

Die in der Zulassungsbegründung erhobenen Einwände gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, es könne nicht festgestellt werden, dass die Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt der Beantragung des Visums zum Familiennachzug zu ihrem Vater minderjährig gewesen sei, greifen nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat angenommen, die Klägerin habe hinsichtlich dieser Tatsache einen Urkundenbeweis nicht führen können. Maßgeblich sei die beigebrachte Geburtsurkunde, die ihrerseits als Grundlage für die Ausstellung des vorgelegten Reisepasses angesehen werden müsse. Mit der Geburtsurkunde sei aber der urkundliche Beweis über die Richtigkeit des in der Geburtsurkunde angegebenen Geburtsdatums nicht geführt. Im Wege der freien Beweiswürdigung sei davon auszugehen, dass der Eintragung des Geburtsdatums im Geburtsregister, die in der Geburtsurkunde übernommen worden sei, kein Beweiswert zukomme. Die Ausführungen der Klägerin im Zulassungsverfahren lassen nicht erkennen, dass die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts fehlerhaft sein könnte. Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Es darf aber bei seiner Überzeugungsbildung nicht in der Weise verfahren, dass es einzelne erhebliche Tatsachen oder Beweisergebnisse nicht zur Kenntnis nimmt oder nicht in Erwägung zieht. Soweit eine fehlerhafte Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts gerügt wird, liegt der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO folglich nur dann vor, wenn die tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts augenscheinlich nicht zutreffen oder beispielsweise wegen gedanklicher Lücken oder Ungereimtheiten ernstlich zweifelhaft sind. Allein die Möglichkeit einer anderen Bewertung der Beweisaufnahme rechtfertigt die Zulassung der Berufung nicht (vgl. Beschluss des Senats vom 19. Juli 2011 – OVG 2 N 82.09 -).

Hieran gemessen hat die Klägerin in Bezug auf die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts keine ernstlichen Zweifel dargelegt. Soweit sie darauf verweist, dass in ihren Reisepässen das Geburtsdatum 22. November 1991 enthalten sei und es keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass die Pässe verfälscht oder unecht seien, verfängt dies nicht. Die Klägerin geht fehl mit der Annahme, weil die Pässe echt seien, sei der materielle Beweis der Richtigkeit des in ihnen enthaltenen Geburtsdatums erbracht. Sie übersieht, dass nach den vom Verwaltungsgericht angewendeten Vorschriften über den Urkundsbeweis der Zivilprozessordnung zwischen der (formellen) Echtheit einer öffentlichen Urkunde und deren (materieller) Beweiskraft zu unterscheiden ist (vgl. m.w.N. Beschluss des Senats vom 19. Juli 2011, a.a.O.). Ein echter ausländischer Reisepass erbringt nicht bereits den materiellen Beweis für die Richtigkeit des in ihm angeführten Geburtsdatums. Denn die Reichweite der Beweiskraft öffentlicher Urkunden - auch ausländischer öffentlicher Urkunden i.S.v. § 438 ZPO -, die einen anderen als den in den §§ 415, 417 bezeichneten Inhalt haben, bestimmt sich nach der gesetzlichen Beweisregel des § 418 Abs. 3 ZPO. Danach erbringt die in der öffentlichen Urkunde bezeugte Tatsache nur dann den vollen Beweis, wenn diese von der Behörde oder Urkundsperson selbst wahrgenommen wurde oder wenn eigene Handlungen der Behörde oder Urkundsperson bezeugt werden (vgl. Stein/Jonas/Leipold, ZPO, 22. Aufl. 2006, § 418 Rn. 5).

Ernstliche Richtigkeitszweifel zeigt die Klägerin auch nicht mit ihren Einwänden gegen den Bericht des von der Beklagten beauftragten Vertrauensanwaltes auf. Das Verwaltungsgericht ist in freier Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) zu dem Ergebnis gelangt, dass die von der Klägerin vorgelegte Geburtsurkunde ihr Geburtsdatum nicht zutreffend angibt. Es hat dabei den Bericht des Vertrauensanwalts, der bei einer Einsichtnahme in das Geburtsregister zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Eintragung der Geburt der Klägerin eine unstimmige nachträgliche Ergänzung darstelle, die von der Klägerin vorgelegten Schulbescheinigungen, den angegebenen Tag der Eheschließung der Eltern und die Angaben des Vaters der Klägerin zu deren Geburtsdatum in seinem Einbürgerungsantrag einbezogen. Mit ihrem Einwand, dass es sich bei dem Bericht des Vertrauensanwaltes nicht um eine öffentliche Urkunde i.S.v. § 418 ZPO handele, vermag sie das Ergebnis der Beweiswürdigung nicht in Frage zu stellen. Denn im Rahmen der freien Beweiswürdigung können auch andere als öffentliche Urkunden berücksichtigt werden. Die Rüge, der Bericht des Vertrauensanwaltes lasse nicht erkennen, wer Urheber des Berichts sei, wie vertrauenswürdig die Person sei und auf welchen Informationsquellen die Feststellungen beruhten, dringt ebenfalls nicht durch. Die Klägerin zeigt damit nicht auf, dass die Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts, die u.a. auch das Geburtsregister als die vom Vertrauensanwalt insoweit genutzte Informationsquelle einbezieht, im oben genannten Sinne fehlerhaft ist.

2. Die Berufung ist auch nicht wegen des von der Klägerin geltend gemachten Verfahrensmangels (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) zuzulassen. Hiernach ist die Berufung zuzulassen, wenn ein der Beurteilung des Berufungsgerichts unterliegender Verfahrensmangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem das Urteil beruhen kann.

a) Dahinstehen kann, ob die Klägerin mit ihrer Rüge, es sei nicht erkennbar, welche Akten genau Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren und vom Gericht als „wesentlich“ angesehen worden seien, einen Verfahrensmangel hinreichend bezeichnet hat. Wird zu Gunsten der Klägerin unterstellt, sie wolle eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) geltend machen, hat sie eine Verletzung dieses Rechts jedenfalls nicht dargetan. Der Inhalt der Gerichtsakte war der Klägerin bekannt. Im Verfahren erhielt die Klägerin auch Kenntnis davon, dass das Verwaltungsgericht verschiedene Verwaltungsvorgänge der Beklagten bzw. des Beigeladenen beigezogen hat. Sie hatte insoweit Gelegenheit, einen Antrag auf Akteneinsicht zu stellen. Weshalb das Verwaltungsgericht darüber hinaus verpflichtet gewesen sein sollte, im Sitzungsprotokoll eigens aufzunehmen, welche Verfahrensakten beigezogen und inwiefern diese vom Gericht als wesentlich angesehen worden sind, erschließt sich anhand der Darlegungen der Klägerin nicht.

b) Mit ihrer Rüge, dass ihr das am 23. November 2010 verkündete Urteil erst am 7. März 2011 in vollständiger Form mit Gründen versehen zugestellt worden sei und infolge der verzögerten Abfassung von über drei Monaten nach der mündlichen Verhandlung jedenfalls in den Einzelheiten nicht mehr gewährleistet sei, dass die Entscheidung auf gesicherten Erkenntnissen beruhe, zeigt die Klägerin ebenfalls keinen Verfahrensfehler auf, auf dem das Urteil beruhen kann. Nach § 117 Abs. 4 Satz 1 VwGO ist ein Urteil, das bei der Verkündung noch nicht vollständig abgefasst war, vor Ablauf von zwei Wochen, vom Tag der Verkündung an gerechnet, vollständig abgefasst der Geschäftsstelle zu übermitteln. Kann dies ausnahmsweise nicht geschehen, so ist innerhalb dieser zwei Wochen das von den Richtern unterschriebene Urteil ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtmittelbelehrung der Geschäftsstelle zu übergeben; Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung sind alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übermitteln (Satz 2). Zwar liegt hier ein Verstoß gegen § 117 Abs. 4 VwGO vor, denn das Verwaltungsgericht hat das Urteil vor Ablauf von zwei Wochen vom Tag der Verkündung an weder vollständig abgefasst noch vom Einzelrichter unterschrieben ohne Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung der Geschäftsstelle übermittelt. Dieser Fehler kann jedoch nicht zur Aufhebung des Urteils führen, denn das Urteil ist bereits gefällt und verkündet, sodass es nicht auf diesem Fehler beruhen kann (vgl. m.w.N., Kilian in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 117 Rn. 92). Ein beachtlicher Verfahrensfehler im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO liegt allerdings dann vor, wenn infolge der verzögerten Abfassung das Urteil im Sinne von § 138 Nr. 6 VwGO als nicht mit Gründen versehen zu gelten hat. Hiervon ist auszugehen, wenn aufgrund der verspäteten Abfassung des Urteils nicht mehr gewährleistet ist, dass die schriftlich niedergelegten Urteilsgründe das Ergebnis der mündlichen Verhandlung und der auf ihr beruhenden Überzeugungsbildung des Gerichts wiedergeben. Eine äußerste Grenze ist erreicht, wenn ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefasstes Urteil nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung vollständig abgefasst, unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden ist (vgl. unter Rückgriff auf § 552 - heute 548 - ZPO: Beschluss des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 27. April 1993 - GmS-OBG 1/92 -, BVerwGE 92, 367). Diese Frist hat das Verwaltungsgericht gewahrt. Auf die Verkündung des Urteils am 23. November 2010 ist das vollständig abgefasste und vom Einzelrichter unterschriebene Urteil am 26. Februar 2011 der Geschäftsstelle übergeben worden.

Vor Ablauf der Fünfmonatsfrist kann ein für die Entscheidungsfindung maßgeblicher Verfahrensmangel vorliegen, wenn sich aus den Umständen des Falles ergibt, dass infolge der verzögerten Abfassung der Urteilsgründe die zuverlässige Wiedergabe der für die Entscheidungsfindung maßgeblichen Erwägungen nicht mehr gewährleistet ist. Insoweit bedarf es der Feststellung besonderer Umstände, welche die wegen des Zeitablaufs bereits bestehenden Zweifel zu der Annahme verdichten, dass der gesetzlich geforderte Zusammenhang zwischen der Fällung des Urteils und den schriftlich niedergelegten Gründen nicht mehr gewahrt ist (BVerwG, Beschluss vom 9. August 2004 - 7 B 20.04 -, juris Rn. 17). Solche besonderen Umstände hat die Klägerin nicht dargelegt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).