Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 12. Senat | Entscheidungsdatum | 19.07.2011 | |
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Aktenzeichen | OVG 12 N 40.10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | Art 8 MRK, Art 6 GG, § 53 Abs 1 AufenthG, § 56 Abs 1 S 1 Nr 1 AufenthG, § 56 Abs 1 S 1 Nr 2 AufenthG, § 56 Abs 1 S 1 Nr 4 AufenthG, § 56 Abs 1 S 4 AufenthG |
Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 9. April 2010 wird abgelehnt.
Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird für die zweite Rechtsstufe auf 5 000 EUR festgesetzt.
Der zulässige Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Die vom Kläger angeführten Zulassungsgründe ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und besonderer tatsächlicher oder rechtlicher Schwierigkeiten der Rechtssache (§ 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) liegen nicht vor.
1. Der Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO dient in erster Linie der Gewährleistung materieller Einzelfallgerechtigkeit. Ernstliche Zweifel im Sinne der Regelung liegen vor, wenn neben den für die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung sprechenden Umständen gewichtige, dagegen sprechende Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung der Rechtsfragen oder Unklarheiten in der Beurteilung der Tatsachenfragen bewirken, wenn also ein Erfolg des Rechtsmittels, dessen Eröffnung angestrebt wird, mindestens ebenso wahrscheinlich ist wie ein Misserfolg (vgl. z.B. BVerwG, DVBl. 2004, 838). Diese Voraussetzungen sind nach dem Zulassungsvorbringen des Klägers nicht erfüllt.
a) Soweit der Kläger für sich Rechte aus der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen herleiten will, kann ihm nicht gefolgt werden. Der Kläger verfügt nicht über die Stellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Sinne der genannten Richtlinie. Diese Rechtsstellung entsteht entgegen seiner Auffassung nämlich konstitutiv erst mit der behördlichen Entscheidung über die Zuerkennung eines Daueraufenthaltsrechts nach § 9 a AufenthG (vgl. BayVGH, Beschluss vom 31. März 2010 - 19 ZB 08.2629 - Juris; VGH Mannheim, Beschluss vom 30. Mai 2007 - 13 S 1020/07 - Juris). Eine solche Entscheidung liegt nicht vor.
b) Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils ergeben sich entgegen der Auffassung des Klägers auch nicht daraus, dass das Verwaltungsgericht den Maßstab für eine gerichtliche Überprüfung der Verwaltungsentscheidung des Beklagten verkannt hätte. Seit dem Inkrafttreten des Richtlinienumsetzungsgesetzes am 28. August 2007 ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung bei allen Ausländern einheitlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts maßgeblich. Diese Verlagerung des Beurteilungszeitpunktes hat zur Folge, dass bei der Anfechtung einer Ausweisung nunmehr auch entscheidungserhebliche neue Tatsachen bis zu diesem Zeitpunkt umfassend zu berücksichtigen sind. Das Tatsachengericht muss mithin im Rahmen der ihm nach § 86 Abs. 1 VwGO obliegenden Aufklärungspflicht prüfen, ob die Ausweisung bezogen auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung rechtmäßig ist. Dies gilt auch bei Ermessensausweisungen (vgl. BVerwGE 130, 20, 26). Der Durchführung der so gebotenen Prüfung dienen die vom Kläger beanstandeten Ausführungen des Verwaltungsgerichts zum Vorliegen spezialpräventiver Gründe für die Ausweisung. Korrespondierend zu der Aufklärungspflicht des Gerichts muss die Ausländerbehörde in einem Ausweisungsverfahren der vorliegenden Art die Rechtmäßigkeit der von ihr getroffenen Entscheidung verfahrensbegleitend unter Kontrolle halten. Stellt sie nachträgliche Veränderungen in der Ausgangssituation für die Ermessensbetätigung fest, muss sie, für den Fall, dass sie an ihrer Verfügung festhalten will, die Ermessenserwägungen anpassen. Eine entsprechende Anpassung ist im vorliegenden Fall von Seiten des Beklagten nicht erfolgt. Dies muss dahin verstanden werden, dass die Ausländerbehörde bei ihrer verfahrensbegleitenden Kontrolle keine neu eingetretenen Umstände festgestellt hat, welche eine Anpassung der Ermessenserwägungen erfordert hätten. Dies ist nicht zu beanstanden. Vor dem genannten Hintergrund sind die vom Kläger beanstandeten Ausführungen des Verwaltungsgerichts mithin als Kontrollüberlegungen anzusehen, mit denen das Verwaltungsgericht im Rahmen der ihm obliegenden Aufklärungspflicht die Validität der im Ausweisungsbescheid angestellten Ermessenserwägungen des Beklagten begründet hat. Dies unterliegt keinen rechtlichen Bedenken.
c) Soweit der Kläger darüber hinaus rügt, das Verwaltungsgericht habe in seinem Urteil Verhaltensweisen bezeichnet, die er in der mündlichen Verhandlung an den Tag gelegt haben solle, ohne diese im Protokoll festzuhalten, ergeben sich daraus keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung. Gemäß § 105 VwGO i.V.m. § 160 Abs. 2 ZPO sind die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen. Eindrücke, die das Gericht im Laufe der mündlichen Verhandlung aus den Äußerungen und Verhaltensweisen eines Klägers gewinnt und im Rahmen seiner freien Überzeugungsbildung für seine Entscheidung verarbeitet, gehören dazu nicht. Wesentliche Vorgänge im Sinne der Vorschrift meinen den Hergang der Verhandlung, nicht ihren Inhalt (vgl. Thomas/Putzo, ZPO Kommentar, 29. Auflage, § 160 Rn. 2).
d) Dass das Verwaltungsgericht den Antrag des Klägers, ein kriminalprognostisches und nervenärztliches Sachverständigengutachten zum zukünftigen Legal- und Sozialverhalten des Klägers einzuholen, zurückgewiesen hat, ermöglicht nicht die Einschätzung, dass das angefochtene Urteil ernsthaft zweifelhaft wäre. Dass in der vorliegenden Situation ein Sonderfall gegeben gewesen wäre, in dem das Verwaltungsgericht das ihm zustehende Ermessen in Bezug auf die Einholung eines Sachverständigenbeweises nur in einer positiven Weise hätte ausüben dürfen, ist weder in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht noch mit der Begründung des Zulassungsantrages ausreichend bezeichnet worden.
e) Zu Recht hat das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die vom Beklagten im Ausweisungsbescheid angestellten Ermessenserwägungen nicht zu beanstanden sind. Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung - und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung - liegt bereits dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (vgl. BVerwGE 129, 367). Von diesem Maßstab ist der Beklagte bei der Anordnung seiner Verwaltungsentscheidung in korrekter Weise ausgegangen.
Soweit der Kläger dagegen anführt, wegen der Fortdauer seiner Strafhaft bis Anfang August 2012 gehe von ihm schon deswegen keine Gefährdung aus, so dass die Ausweisung jedenfalls verfrüht verfügt worden sei, greift dieser Vortrag zu kurz. Entscheidend kommt es vielmehr darauf an, ob von dem Kläger nach Maßgabe aller zu berücksichtigenden Umstände nach dem Ende seiner Strafhaft Gefahren ausgehen werden, die ein spezialpräventives Vorgehen ermöglichen. Dies wird angesichts der erheblichen kriminellen Vorbelastung des Klägers mit eingehenden Erwägungen im Ausweisungsbescheid der Beklagten bejaht. Darauf, wie auf die stützenden Überlegungen des Verwaltungsgerichts wird Bezug genommen. Es ist nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte den Kläger angesichts seiner Vorgeschichte als Intensivtäter bezeichnet hat. Aus den beigezogenen Strafakten geht hervor, dass der Kläger seit seinem Jugendalter wiederholt und in kurzen Abständen erhebliche Straftaten begangen hat. Soweit er auf ein stabiles familiäres Umfeld verweist, hat ihn dieser Umstand nicht von seinen Verhaltensweisen zurückhalten können.
Auch den Verlauf der Strafhaft hat der Beklagte korrekt in seine Erwägungen aufgenommen. Dabei sind positive Ansätze (Erwerb eines Realschulabschlusses, Aufnahme einer Ausbildung zum Maler) durchaus vermerkt worden. Die insoweit getroffene Gesamtwürdigung, es könne nach dem bisherigen Verlauf der Haft nicht davon ausgegangen werden, dass der Kläger sich nachhaltig von seiner Vergangenheit gelöst hat und in Zukunft zu einem straffreien Leben in der Lage sein werde, hält sich in dem Rahmen des dem Beklagten zustehenden Ermessensspielraums.
Soweit der Kläger geltend macht, ein Ermessensfehler liege darin, dass der Beklagte seine Bestrafung wegen eines Betäubungsmitteldelikts dramatisiert habe, kann auch dies dem Zulassungsantrag nicht zum Erfolg verhelfen. In dem Bescheid wird vielmehr darauf hingewiesen, dass der Umgang mit Betäubungsmitteln in einer Haftanstalt besondere Probleme bezüglich der Disziplin und der Ordnung in der Haftanstalt aufwerfe. Die Ermessensbetätigung des Beklagten ist mithin eher unter diesen Vorzeichen zu würdigen.
Ein beachtlicher Fehler ergibt sich auch nicht daraus, dass der Beklagte in der Ausweisungsverfügung die deutsche Staatsangehörigkeit der Eltern und Geschwister des Klägers nicht ausdrücklich erwähnt hat. Ausweisungsschutz im Hinblick auf § 56 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 AufenthG hat die Behörde zutreffend bejaht. Im Rahmen ihrer Ermessensbetätigung hat sie darüber hinaus den Umstand der familiären Bindung des Klägers in ihre Überlegungen eingestellt und gewürdigt. Dies reicht aus.
Dass der Beklagte im Ausweisungsbescheid keine gesonderten Erwägungen zu den staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnissen des Klägers angeführt hat, ist für das rechtliche Schicksal der Ausweisungsverfügung ohne Bedeutung. Der Kläger ist im Jahre 1982 als Kind jugoslawischer Staatsangehöriger aus dem Kosovo mit albanischer Volkszugehörigkeit geboren. Welche Folgen der spätere Zerfall der Republik Jugoslawien, die Bildung einer Republik Kosovo und die Einbürgerung seiner Eltern für die staatsangehörigkeitsrechtlichen Verhältnisse des Klägers gehabt haben, wird im weiteren Verlauf des Verwaltungsverfahrens von Seiten des Beklagten zu klären sein.
Ein Fehler in der Ausübung des dem Beklagten zustehenden Ermessensspielraumes lässt sich auch nicht feststellen, soweit der Beklagte im Ausweisungsbescheid Integrationschancen des Klägers für den Kosovo beurteilt hat. Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese für den in Deutschland geborenen und aufgewachsenen Kläger als schwierig zu betrachten sind. Dies hat auch der Beklagte nicht verkannt. Wenn er sein Ermessen gleichwohl zugunsten der öffentlichen Interessen an einer Ausreise des Klägers ausgeübt hat, hält sich dies innerhalb des rechtlich gegebenen Rahmens.
Schließlich ist nicht zu beanstanden, wenn der Beklagte im Rahmen der eingehenden Begründung der Ausweisungsverfügung ergänzend auch generalpräventive Erwägungen angestellt hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10. August 2007 - 2 BvR 535/06 - NVwZ 2007, 1300 ff.).
f) Insgesamt kann dem Beklagten in Würdigung der Erwägungen des Ausweisungsbescheides nicht mit Erfolg vorgehalten werden, dass er die von ihm vorzunehmende Bewertung der gegenläufigen Interessen nicht eingehend und sorgfältig vorgenommen hätte. Die angefochtene Verwaltungsentscheidung lässt vielmehr erkennen, dass zur Rechtfertigung der Ausweisung des Klägers, der seine gesamte Kindheit und Jugend in Deutschland verbracht hat, außerordentlich gewichtige Gründe vorgebracht werden müssen (vgl. EGMR, Urteil vom 23. Juni 2008 - 1638/03 -, InfAuslR 2008, 333 ff.). Es ist auch nicht verkannt worden, dass dies noch dadurch verstärkt wird, dass der Kläger einen Teil seiner Delinquenz als Jugendlicher verübt hat. Wenn die in diesem Zusammenhang von dem Beklagten angestellten Erwägungen am Ende ein Ergebnis zu Ungunsten des Klägers erbracht haben, so fällt dies in erster Linie in den Verantwortungsbereich der Verwaltungsbehörde, der insoweit ein Ermessensspielraum zusteht, in den das Gericht nicht eindringen darf.
2. Die Berufung kann auch aus dem Grunde des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO nicht zugelassen werden. Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Würdigung der von dem Beklagten angeordneten Ausweisung sind in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts geklärt. In tatsächlicher Hinsicht knüpft die angefochtene Verfügung an Fakten und Umstände an, die in ihrer Grundstruktur unstreitig und unangefochten sind.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).